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Das kleine Buch von Claudia Romes
Diese Kurzgeschichte ist Teil der Kolumne:
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AGENTUR ASHERA
A. Bionda
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SKY »Wollen Sie das kaufen?«
Jene Frage hallte wie ein Echo in meinem Kopf. Noch einmal nahm ich das Buch in meine Hände, ich drehte und wendete es, besah es von allen Seiten. Es übte eine Art magische Anziehungskraft auf mich aus, sein brauner Einband mit der goldenen Schrift darauf hatte mich vom ersten Blick an gefesselt. Vorsichtig hatte ich es aus dem Regal genommen, dort, wo es unter so vielen anderen gestanden hatte. Ganz leise hatte es mir zugeflüstert, mich zu sich gerufen. Wie sonst hätte ich es auch finden sollen? Es war nicht einmal sehr groß, gerade so, dass es auf meiner flachen Hand Platz fand. Langsam hatte ich es aufgeschlagen, die vergilbten Seiten betrachtet, auf denen eine Geschichte in Sütterlin geschrieben stand, Zeile um Zeile.
Ich blätterte zurück zum Anfang, wo eine rührende Widmung geschrieben stand.
Bücher man findet sich selbst in ihnen, vibriert nur bei den Tönen, die unsere eignen sind. Das andere verfliegt mit der Meinung. (Per Hallström)
Meinem Baby
Unterschrieben waren jene Sätze mit »Elsa«. Wer war diese Frau und wen nannte sie so voller Liebe ihr Baby?
Ich nickte und legte das Geld auf den Tisch. Auf einer Parkbank machte ich Rast und holte ungeduldig das kleine Buch hervor. Merkwürdig, wie groß meine Faszination für dieses alte Stück doch war. Ich begann zu lesen, seltsamerweise empfand ich es nicht als besonders schwierig, die altertümliche Schrift zu entziffern. Die Buchstaben reihten sich in einer mir verständlichen Form zusammen. Langsam tauchte ich in die Geschichte ein. Jene Geschichte, die mir das Buch erzählen wollte.
Auf einem Bahnsteig fand ich mich wieder, eine längst vergangene Zeit umgab mich. Plötzlich war ich von einer mir fremden Aura erfüllt, als ich meine Hände betrachtete, die nicht die meinen waren. Meine Jeans und Turnschuhe waren einem grauen Kleid und schlichten Damenschuhen gewichen. Sinnend blickte ich mich um, als ich einen Zug heranrauschen hörte, eilig kamen Menschen herbei. Sie lachten und winkten, einige hielten kleine Kinder hoch. Einen kurzen Moment hatte ich nötig, um zu begreifen, dass auch für mich jemand in diesem Zug war, den ich freudig empfangen würde. Die Tür des Waggons öffnete sich genau vor mir, Reisende strömten heraus. Sie fielen den Leuten auf dem Bahnsteig in die Arme. Suchend wandte ich mich um. Hatte ich ihn bereits verpasst? Woher wusste ich überhaupt, auf wen ich hier wartete? Die Leute um mich herum verschwanden allmählich vom Bahnhof, sie trieben auseinander wie sich teilender Nebel, und dann sah ich ihn endlich. Ich wusste sofort, dass er derjenige war, den ich finden wollte. Ich umarmte ihn, und wie ich ihn so hielt, überkam mich eine unbeschreibliche Erleichterung, darüber, ihn wiederzusehen, darüber, dass es ihm gut ging. An seiner Uniform trug er stolz das eiserne Kreuz. »Drei Tage Heimaturlaub, Mama!«, sagte er und strahlte dabei über das ganze Gesicht.
Ich nickte und spürte dabei diese Wehmut in mir, die sich breitmachte, als wäre er schon jetzt wieder fort, als müsse ich mich erneut sorgen. Konnte es mir gelingen, dieses Gefühl zu vertreiben, für die Dauer von drei Tagen? Ich würde es versuchen, denn auch ich hatte Erholung nötig. Ein wenig Ruhe vor den Sorgen um ihn, eine Pause von den schrecklichen Gedanken daran, was ihm zustoßen könnte. Ich wollte mein Bestes geben!
Die Wärme eines gemütlichen Zimmers umgab mich. Ich merkte, dass ich meine Augen nicht von ihm wenden konnte. Jeden Moment seines Daseins wollte ich aufnehmen und tief in mir einschließen, ihn beschützen vor dieser Welt und dem, was ihr noch bevorstand. Der Schlaf wollte auch in meiner müdesten Stunde nicht über mich kommen. Wieder und wieder schlich ich mich aus meinem Bett. Ich öffnete leise seine Zimmertür und schaute ihm zu, wie er so ruhig und friedlich schlief, als wäre er noch der kleine Junge, der er einst gewesen war, der glaubte, dass es nichts auf der Welt gab, wovor man sich wahrhaft fürchten musste. Mühsam versuchte ich, die Erinnerung an jene Nächte zu verdrängen, in denen ich wach dalag, krank, weil ich mich fragte, wo er seine wohl zubrachte, ob er wohlauf war. Wie hatte ich ruhig schlafen können, wenn ihm das doch nie zustand, wenn die Gefechte vor ihm tobten und die Laute der Bomben sein Gemüt trübten. Wach sein, zufrieden sein, sich an dem erfreuen, was sichtbar ist, solange es möglich war, das war es, was mich leitete.
Drei Tage. Vorbei. Ich brachte ihn zum Bahnsteig, wieder war dieser voller Menschen, aber jeder hier hatte einen anderen Ausdruck im Gesicht als beim ersten Mal. Die Wehmut war zurückgekehrt, doch war sie eigentlich nie verschwunden, denn sie hatte nur ein wenig Platz geschaffen für die Hoffnung. Zögernd öffnete er das Fenster in seinem Abteil. Sein Lachen war so herzlich, und dennoch war es aufgesetzt auch er hatte Furcht davor, mich in dem Moment zum letzten Mal zu sehen. Ich reichte ihm ein kleines Päckchen, liebevoll und mit Bedacht hatte ich jenes Geschenk ausgesucht: ein Buch, das über einen tapferen, jungen Mann berichtete, der nach einem Abenteuer nach Hause zurückkehrte. Die Geschichte sollte ihm die Zeit vertreiben, ihn auf andere Gedanken bringen. Ich hoffte, er würde die Möglichkeit finden, sie zu lesen, und die Widmung auf der ersten Buchseite. Er sollte sich stets meiner unerschütterlichen Liebe sicher sein.
Der Zug setzte sich in Bewegung. Wir blickten einander an, bis er nicht mehr zu sehen war, und ich fühlte, dass dies die letzten drei Tage gewesen waren.
In den Feldern von Flandern blieb er zurück, mit dem kleinen Buch in seiner Tasche starb er, kurz bevor der Krieg ein Ende fand.
Ich streckte mich, benommen sah ich an mir hinunter, endlich war ich zurück auf meiner Parkbank, war wieder ich selbst. Seufzend klappte ich das Buch zu und strich noch einmal über den Einband, bevor ich es sorgfältig in meiner Tasche verstaute. Mit dem Handrücken wischte ich mir eine Träne aus dem Auge. Seltsam, dachte ich bei mir. Gedankenversunken richtete ich mich auf und ließ die Parkbank hinter mir. Eine Gewissheit drängte sich mir auf: Ein Buch hat viele Geschichten zu erzählen, nicht nur die eine!
15. Nov. 2016 - Claudia Romes
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