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Aufstand der Stühle von Kristina Lohfeldt
Isshack Neutonne rieb sich den Kopf. Da döste man arglos unter einem Apfelbaum und schon wurde man dafür bestraft, dass man die Früchte nicht belästigte! Isshack kam zu dem Schluss: Was hoch hängt, kann tief fallen. Wozu anzumerken wäre, dass, wer einen kräftigen Schlag auf den Kopf bekommt, hinterher entweder mächtige Kopfschmerzen hat oder zumindest eine weltbewegende Idee als Nebenwirkung. So ist eine solche Idee oft genug nicht der Gedankenkraft zuschulden, sondern dem Zufall. In Isshacks Beispiel dem Fall eines Apfels.
Sein Großvater hatte immer gesagt: Was rein geht, kommt auch wieder raus.
Insofern entstammte Isshack einer Reihe kluger Männer. Zumindest wenn man Klugheit als dynamische Beobachtung definierte.
Die Bedeutung Isshacks für die Geschichte der großen Frauen und Männer war nur klein. Dennoch: Für diese kleine Geschichte spielte er doch eine große Rolle. Wenn auch nicht er persönlich, so seine Idee.
Was hoch hängt, kann tief fallen. Oder volkstümlicher gesagt: Hochmut kommt vor dem Fall.
Thron war bedrückt. Sein Fleischbeiner tat es nicht mehr. Er spürte es deutlich in der Federung, wenn der Fleischbeiner auf ihn niedersank. Auch schien es Thron so, als habe die Polsterung des Fleischbeiners deutlich abgenommen, und der Bezug oberhalb seiner Rückenlehne wirkte immer zerschlissener. Die Materialermüdung schien bei den Fleischbeinern anders zu wirken als bei seinesgleichen. Das hatte er einst von einem Rollator erfahren. Laut seiner Aussage konnten Fleischbeiner nicht einfach wieder aufgepolstert werden. Sie schienen irgendwann unweigerlich auf dem Sperrmüll zu landen.
Hochstehender.
Der Erste in der Reihe seiner Mannen, die vor dem Podest standen, auf dem Thron seit Jahrzehnten seinen Platz hatte, sprach ihn an.
Was gibt es, Nummer eins?
Das Außenteam ist zurück, Hochstehender.
Thron hatte die Unruhe in den hintersten Reihen bereits bemerkt. Fleischbeiner hatten diejenigen seiner Art, die sie Klappstühle nannten, die Reservisten unter seinesgleichen, aufgestellt. Das konnte nur eines bedeuten: Die nächste große Sitzung stand bevor!
Bericht!
Ein Umsturz steht zu befürchten, Hochstehender. Die Fleischbeiner sprechen davon, dass der Heilige Stuhl von uns gehen wird.
Wer behauptet das?
Der Ohrensessel, Hochstehender. Die Reservisten haben ihn nach der letzten Sitzung im großen Saal im Hinterzimmer sprechen können. Er will gehört haben, dass die Purpurnen sagen, der Heilige Stuhl sei nicht aus dem rechten Holz geschnitzt.
Wie auch?, knarrte Thron. Schließlich besteht unsereins größtenteils aus Gold.
Ohne Zweifel, Hochstehender, stimmte Nummer eins eilfertig zu. Die Möbilmachung steht unmittelbar bevor. Alles wartet auf Euer Kommando, Hochstehender.
Ja! Er würde den Fleischbeinern zeigen, wozu er, der Heilige Stuhl, imstande war! Er würde ihnen eine Materialschlacht liefern, die sie nicht so leicht vergessen würden.
Wir werden die Purpurnen zu Kleinholz verarbeiten!, rief Thron, und alle Stühle quietschten leise, als sein Knarren durch ihre Reihen fuhr. Wo immer ein purpurner Fleischbeiner euren Weg kreuzt: seid bereit!
Zustimmendes Scharren über Parkett erklang.
Unsere Zeit ist gekommen, fuhr Thron fort. Die Tage der Tyrannen sind gezählt. Vorbei die Zeiten, wo sie uns mit ihrem Gewicht niederdrückten! Vorbei die Zeiten, wo die kleinsten unter ihnen ihre Namen in unser Holz schnitzten! Vorbei die Tage voller Staub und Politurentzug! Vorbei! Vorbei.
Throns rote Polsterung schien zu glühen, als sein letzter Appell erscholl: Stühle an die Macht!
Die Begeisterung schaukelte sich jetzt derart hoch, dass selbst die wuchtigen Möbel im Saal vibrierten. Alle spürten es. Auch die Fleischbeiner ...
Eminenz?
Der Kardinal blickte auf. Ein Sekretär stand vor ihm und wirkte außer Atem.
Was gibt es?
Eminenz, der Oberste Hirte wünscht Euch zu sprechen.
Ist dem so?
Die Augen des Kardinals wirkten wie kleine Wurfscheiben, als sie sich angesichts dieser Nachricht verengten.
Es ist soweit, triumphierte eine Stimme in ihm. Endlich wird dieses Klappergestell von Greis in unsere Falle tappen. Wie gut, dass wir uns stets als hilfreicher Mitläufer erwiesen haben. So hatte er den Heiligen Stuhl in Sicherheit wiegen und im Hintergrund seine eigenen Fäden ziehen können.
Das Ego des Kardinals war vielleicht deshalb so groß, weil die Natur am Tag seiner Zeugung zwar Zwillinge vorgesehen, aber die Reifeteilung des Eis gänzlich vergessen hatte. Dadurch entstand nur eine Person, die jedoch zwei Persönlichkeiten in sich vereinigte.
Es ist gut, beruhigte der Kardinal den Sekretär. Ich bin auf dem Weg.
Ja. Das war er. Er war auf dem Weg zur absoluten Macht! Ihm gebührte der Heilige Stuhl. Er war zu Höherem geboren, als einem weinerlichen Stubenhocker die Füße zu küssen oder um mit der Realität zu sprechen den Ring als Zeichen seiner Amtswürde. Dieser Ring gehörte ihm. Er war sein. Sein! Sein!
Seine innere Stimme überschlug sich fast in demagogischem, siruptiv-quengelndem Starrsinn, während sich der Sekretär mit einer zunehmenden Gesichtsröte des Kardinals konfrontiert sah, mit der er weder gerechnet noch umzugehen gelernt hatte.
Manchmal war es gut, Beobachtungen nicht durch die eigenen Augen zu sehen, sondern durch die des Ordens. Schließlich hing der Sekretär an seinem Leben, und das am liebsten nicht an einem seidenen Faden. Insofern beschränkte er sich auf ein Zeichen der Ehrerbietung, um das Zimmer des Kardinals möglichst schnell wieder verlassen zu können. Hier wurde es ihm meistens zu eng. Denn die Präsenz des Kardinals nahm so viel Raum ein, dass man nie wusste, wo die Amtsbeleidigung anfing und wo sie aufhörte.
Als der Sekretär den Raum verließ, blieben nicht nur der Kardinal, sondern auch diverse Umsturzpläne zurück.
Der Oberste Hirte hatte seine Schäfchen schon lange nicht mehr zu Gesicht bekommen. Außer denen natürlich, die aus gutem Stall kamen. Doch Purpur zählte nicht gerade zu seiner Lieblingsfarbe. Im Gegenteil. Sie machte ihm sogar ein wenig Angst, weshalb er sich auch gerne zurückzog, um den Kontakt auf ein Mindestmaß zu beschränken. Gerade in der letzten Zeit hatte er den Eindruck, als führten die Purpurnen etwas im Schilde. Während er selbst hinter seinem hochtrabenden Titel nur ein betagtes Männlein war, das am liebsten von früheren Zeiten träumte, auf alles schimpfte, was er nicht kannte und was den Hauch von Jugendlichkeit in sich trug und aus seiner Robe müffelte, stand sein Instinkt jedoch kerzengerade neben ihm, wachsam die Gegend musternd. Selbst im Schlaf und er nickte nur noch selten ein und schnarchte rasselnd auf seinem Thron war sein Instinkt sein aufmerksamer Leibwächter.
Hochstehender!
Der Oberste Hirte fuhr hoch, was so aussah, als habe jemand ruckartig an den Fäden einer Marionette gezogen. Erst als das Abbild des Sekretärs auf seiner Netzhaut erschien, drückte ihn sein Instinkt sanft auf das rote Polster seines Thrones zurück.
Wasch gibt esch?
Der Kardinal wird Eure Heiligkeit wunschgemäß visitieren, näselte der Sekretär.
Auschgetscheichnet. Der Oberste Hirte gewann an Größe. Beiläufig winkte er mit einer Hand. Er kann gehen.
Der Sekretär zog sich diskret mit einem Zeichen der Ehrerbietung zurück.
Der Oberste Hirte rutschte indes wie ein ungeduldiges Kind auf Thron herum, der mittlerweile seinen Reservisten ein Zeichen gegeben hatte, das für jeden Fleischbeiner unsichtbar war. Er hatte einfach bewusst anstatt aus Materialermüdung geknarrt. Und dieses Knarren war ein Befehl.
Kaum, dass der Kardinal den Thronsaal betreten hatte, als er sich auch schon mit eigenem, für ihn ungewohntem Missgeschick konfrontiert sah.
Autsch!
Missmutig rappelte sich der Kardinal wieder auf. Er war über einen Klappstuhl gestolpert, der und dessen war er sich sicher eben noch nicht in seinem Weg gestanden hatte. Trotzdem lächelte er tapfer, was nichts anderes hieß, als dass sich sein dünner Strich von Mund leicht wie Angelhaken an den Seiten nach oben bog.
Alles in Ordnung, Hochstehender, tönte er jovial, dem ein deutlich weniger gönnerhaftes, erneutes Autsch! folgte.
Wiederum hatte ein plötzlich dastehender Stuhl ihn ins Straucheln gebracht. Ein weiterer war ihm in die Hacken gefahren. Der Oberste Hirte beobachtete mit wachsendem Erstaunen, wie die Stuhlreihen rechts und links des Mittelganges, durch den der Kardinal inzwischen mehr stolperte als schritt, immer mehr zusammenrückten und sich wie eine kleine Armee auf den unglücklichen Kardinal zubewegten. Die Stühle kreisten ihn ein. Und das erging offenbar nicht nur ihm so, sondern auch allen Purpurnen außerhalb des Raumes. Denn auch von dort klangen Schmerzensschreie, Poltern und schleifende Geräusche an die betagten Ohren des Obersten Hirten.
Wasch tschum..., seine Heiligkeit wollte Teufel sagen, bevor er sich seiner guten Erziehung erinnerte und der Tatsache, sich nicht mit fremden Federn schmücken zu wollen. ... Geier, sagte er stattdessen, denn der Vergleich erschien ihm angesichts des Kardinals, der nun wie ein gerupftes Huhn wirkte, angemessen. Wasch tschum Geier ischt hier losch?
Wie aufs Stichwort stürmten in diesem Augenblick einige Palastwachen hinein. Sie trieben Purpurne vor sich her, die sich zu dem Kardinal gesellten, der von Stühlen eingekreist wimmernd, und mit der ein und anderen Beule gesegnet, auf dem Boden lag.
Hochstehender, diese Unwürdigen wollten Eure Heiligkeit stürzen, erstattete der Hauptmann der Palastwache Bericht. Wir haben sie dingfest machen können, Hochstehender. Alles ist unter Kontrolle.
Esch ischt gut, nuschelte der Oberste Hirte. Er kann gehen. Aber er ..., ihre Heiligkeit stach mit knochigem Finger in Richtung des Kardinals, Er hat schich erdreischtet unsch antschutschweifeln. Er scholl in den tiefschten Tiefen unscheresch Palaschtesch wie in der Hölle schmoren!
Gnade!, kreischte der Kardinal und überraschte damit alle, die aufgrund seiner bisherigen Lebensweise den Eindruck gewonnen hatten, dieses Wort fehle in seinem Wortschatz.
Wie bitte? Der Oberste Hirte lächelte. Isch verschtehe nicht. Weischt du, dasch ischt dasch Alter. Hauptmann? Abführen!
Immer noch lächelnd sank der Oberste Hirte auf seinen bequemen Thron zurück.
Auch Thron war zufrieden. Seine S-S-Einheiten hatten den Wachen die Kehrseite gerettet. So konnten sie gemeinsam die purpurnen Fleischbeiner niederschlagen. Und der Heilige Stuhl war gerettet.
Nachdenklich lauschte Thron dem sanften Schnarchen seines Fleischbeiners. Er hatte ihn unterschätzt. Es kam nicht nur auf die Polsterung an, man musste auch Rückgrat beweisen.
Hochstehender?, riss ihn die Stimme von Nummer eins aus den Gedanken.
Was gibt es?
Nummer eins drehte sich wortlos zur Seite, und Thron blickte voller Stolz auf die wieder ordentlich formierten Stuhlreihen vor sich.
Gut gemacht, Nummer eins, lobte er.
Alles hatte seine Ordnung, und alles war wieder an seinem Platz. Im Palast des Ordens kehrte wieder Ruhe ein.
Nächster Punkt der Tagesordnung: die Holzwürmer, knarrte Thron.
Es gab noch so viel zu tun.
Isshack Neutonne döste weitab von jedem Apfelbaum. Von Erkenntnissen hatte er vorerst die Nase voll oder doch genug Beulen am Kopf. Dumm nur, dass hinter dem gemütlichen, weichen und lieblich duftenden Busch, den er sich als Ruhekissen für ein Nickerchen ausgesucht hatte, ein tiefer Abgrund lauerte. Denn mit der Schwerkraft lässt sich einfach nicht diskutieren ...
30. Okt. 2016 - Kristina Lohfeldt
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