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Lieber Weinemann von Nadine Stenglein
Diese Kurzgeschichte ist Teil der Kolumne:
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AGENTUR ASHERA
A. Bionda
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Nadine Stenglein Auf dem städtischen Weihnachtsmarkt herrschte reges Treiben und Eric hatte den Eindruck, als tummelten sich dort genauso viele Menschen, wie dicke, weiße Flocken aus dem zartgrauen Himmel rieselten. An einem Stand gegenüber verkaufte eine Frau Winterölgemälde, auf dem er eine ruhige schneebedeckte Winterlandschaft entdeckte. Am liebsten wäre ich dort, dachte er. Dicht an dicht gedrängt warteten sämtliche Kinder darauf, endlich zu ihm, dem Weihnachtsmann, zu dürfen. Eric seufzte. Was tat man nicht alles für ein paar zusätzliche Kröten. Schließlich erwartete Alice die Klunkerkette unterm Weihnachtsbaum. Er atmete tief durch, als ihn Zwillinge beinahe von seinem Sessel drängten, während sie auf seine Beine kletterten. Vor Kälte spürte er die Zehen in den klobigen Schuhen kaum mehr und war sich sicher, dass seine Nase wohl inzwischen genauso purpurrot war wie sein Mantel. Er stellte sich vor, was Alice wohl sagen würde, könnte sie ihn hier so sehen. Dafür fiel ihm nur ein Wort ein Loser. In ihren Augen war er nach wie vor der angehende Anwalt, der bereits eine Stelle in einer angesagten Kanzlei der Stadt hatte. Dass er dort in Wahrheit nur ein kleiner Bürogehilfe war, musste ein Geheimnis bleiben.
Na Kinder, wart ihr denn auch brav?, fragte Eric die beiden Mädchen, aus deren bleichen Gesichtern ihn gierig leuchtende Augen anstierten.
Ja! Wo sind unsere Geschenke?, wollte eine von ihnen wissen, während die Finger der anderen bereits nach dem goldenen Sack grapschten, der neben Eric stand.
Na, na. Nicht so eilig, ihr Bengel.
Er blickte kurz auf und sah in das stirnrunzelnde Gesicht einer dicklichen Frau. Ihr Engelchen, verbesserte er eilig und lachte. Ho, ho, ho.
Dann reichte er ihnen zwei Päckchen.
Das ist alles?, bemerkten sie und zogen einen Schmollmund, woraufhin sich Eric zu ihnen hinabbeugte und ihnen ins Ohr flüsterte: Haut schon ab, sonst muss ich die Rute rausholen. Die Augen der beiden weiteten sich. So schnell sie konnten, kletterten sie von seinem Schoß und verschwanden.
Der Nachmittag schien kein Ende nehmen zu wollen. Immer wieder leierte Eric die gleichen Sätze herunter und hörte irgendwann gar nicht mehr, was die Kinder zu ihm sagten. Die meisten wollten sowieso nur das Eine von ihm und jedes hatte einen Zettel bei sich, auf dem die Adresse der Eltern sowie allerlei Wünsche vermerkt waren. Eric verstaute die Briefe in einer Box, welche er später bei der Stadt abgeben musste. Von dort würden die Zettel zurück an die Eltern geschickt werden, damit sie die Wünsche ihrer Kinder heimlich erfüllen konnten und diese so weiter an den Weihnachtsmann glaubten. Plötzlich tauchte wie aus dem Nichts eine junge schlanke Frau vor ihm auf. Schneeflocken verfingen sich in ihrem kastanienbraunen, schulterlangen Haar. Ihr hübsches, schmales Gesicht war auffallend bleich und die grünen Augen schienen gerötet, als hätte sie geweint oder zumindest länger nicht geschlafen. Eric zog die Brauen nach oben. So hatte er sich früher immer das Christkind vorgestellt wenn auch ein wenig fitter. War sie eine derjenigen, die sich bei ihm beschweren wollten, weil er vielleicht ein falsches Wort zu ihrem kleinen Liebling gesagt hatte? Höchstwahrscheinlich, obwohl ihr Gesichtsausdruck eher mild war. Aber das sollte bei Frauen nichts bedeuten, das hatte er bei Alice schon oft genug erlebt diese Ruhe vor dem Sturm.
Ja bitte?, fragte Eric und machte sich auf alles gefasst.
Daraufhin streckte ihm die Frau ein blaues Kuvert entgegen. Ist dieses Jahr gar kein Knecht Ruprecht dabei?, fragte sie. Ihre Stimme klang angenehm weich.
Verdutzt sah er sie an und nahm ihr das Kuvert ab. Den haben sie abgesetzt. Machte den Bengeln, äh Engeln, zu viel Angst.
Für einen Moment schmunzelte sie.
Ist manchmal wohl auch ganz schön anstrengend was? Ich meine, der Weihnachtsmann zu sein. Der Zettel im Kuvert ist von meinem Sohn Ben. Er ist fünf und glaubt fest an Sie. Also an den Weinemann. So nennt er den Weihnachtsmann immer, erklärte sie.
Weinemann. Das ist gut!, erwiderte Eric, schielte flüchtig auf das Kuvert, welches mit vielem bunten Gekritzel versehen war, und ließ es zu den anderen Briefen in die Box fallen.
Der ist eigentlich speziell für Sie also nicht für Sie. Nun, Sie wissen schon. Bens achtjährige Schwester Sophie hat ihm beim Verfassen geholfen, bemerkte die Frau.
Ah, ja. Für den Weinemann. Versteh schon. Aber das sind sie ja alle.
Er fragt darin, ob Sie ihn persönlich besuchen könnten, weil er dieses Jahr nicht mitkommen konnte. Er war zu müde. Er war die letzten beiden Jahre mit mir hier und der Weinemann hat ihn sehr fasziniert. Irgendwie stellt er sich seinen Vater immer so vor. Groß, stark, hilfsbereit. Es wäre ..
Eric winkte ab. Ich mache keine Extratouren. Das hier kostet mich genug Nerven.
Sie wich einen Schritt zurück, als hätte er gerade ausgeholt. Aber vielleicht war seine Reaktion so etwas wie ein Schlag für sie gewesen wenn auch nur verbal. Tut mir echt leid. Wenn ich mehr Zeit hätte, dann gerne, sagte er ruhig.
Sie winkte ab. War nur eine Frage. Ich werde es ihm sagen. Er versteht das bestimmt.
Eric nickte und fasste in den Geschenkesack. Hier, geben Sie ihm das mit einem fetten Weihnachtsgruß vom Weinemann.
Zögerlich nahm die Frau das Päckchen an sich. Danke!
Vielleicht überlegt es sich der Kleine ja doch noch und kommt mit Ihnen her, wenn er ausgeschlafen hat, sagte Eric und zwinkerte ihr zu.
Schon gut, bemerkte die Frau und setzte ihren Weg fort.
Eric sah ihr nach. Irgendwie hatte sie ihn nachdenklich gestimmt und am liebsten hätte er noch länger in dieses Gesicht geblickt. Aber es warteten bereits ungeduldig die nächsten Kinder.
Nach seiner Schicht fühlte sich Eric so leer wie der Sack, den er bis aufs letzte Päckchen geleert hatte. Morgen früh musste er ihn nur noch zusammen mit der Box im Rathaus abgeben und seine Entlohnung kassieren, dann konnte er endlich Alice das geforderte Geschenk kaufen und dem Vermieter die restlichen Nebenkosten für ihre Wohnung bezahlen. Somit hätte er seinen Kopf aus der Schlinge gezogen fürs Erste jedenfalls. Keinesfalls wollte er Alice enttäuschen, würde sie sonst am Ende vielleicht ihre Drohung, ihn zu verlassen, wahr machen. Sie war eine Traumfrau, die seiner Meinung nach jeden Mann haben konnte. Eine Trophäe, auf die viele neidisch waren und in deren Schatten selbst er ein wenig glänzen durfte.
Stellen Sie die Box einfach dort auf den Schreibtisch, sagte eine Verwaltungsangestellte. Nachdem sie ihr Telefongespräch beendet hatte, gab sie Eric wie ausgemacht das Geld für seine Dienste. Danach kramte sie in der Box und entließ Eric. Er war schon fast aus der Tür, als sie ihn zurückpfiff. Moment, der da scheint nur für Sie bestimmt. Da steht, das Kuvert darf ausschließlich der Weinemann öffnen und soll nicht zurückgeschickt werden.
Kurz zögerte er, dann ging er auf sie zu, nahm das Kuvert mit einem leisen Seufzen entgegen und steckte es in seine Jackentasche. Im Lauf des Tages vergaß er es und machte seine Besorgungen, während es sich Alice in seiner Wohnung mit Freundinnen bei einem Glas Champagner und Pizza bequem machte. Kaum war er zu Tür herein, rief sie ihm schon den nächsten Wunsch entgegen. Ein Baum für ihre neuen schwarz-goldenen Kugeln musste her und zwar so schnell wie möglich. Ohne Widerrede zog er noch einmal los. Auf dem Weg durch die verschneiten Straßen und auf der Suche nach einer gut gewachsenen Nordmanntanne froren ihm beinahe die Finger ein, so kalt war es. Er vergrub sie in den Taschen seiner Jacke und fühlte den Brief. Eine innere Stimme sagte ihm, dass er ihn öffnen sollte. Also beschloss er es zu tun, während er sich in einem Café eine Tasse heiße Schokolade mit extra viel Sahne gönnte Balsam für seine gestresste Seele, wie er fand. Zum ersten Mal besah er sich das Gekritzel auf dem Kuvert näher und stellte fest, dass es Formen annahm, die ihn schmunzeln ließen, was ihn selbst erstaunte. Noch nie hatte sich jemand solche Mühe für ihn gegeben. Die Zeichnungen glichen Rentieren, die einen mächtigen Schlitten zogen, auf dem ein dickbäuchiger Weinemann mit grauem Bart und weißer Bommelmütze saß. Er hatte auf seinem Schlitten aber nicht etwa dutzende Geschenke gepackt, sondern viele goldene Kleeblätter, die bis in den Himmel flogen. Am unteren Rand des Kuverts entdeckte Eric einen kleinen Jungen, der dem Schlitten zuwinkte und ein Herz in Händen hielt. Neben ihm weilten eine dünne Frau und ein weiteres Kind, über deren Köpfen ein heller Stern blinkte. Erics Herz schlug schneller. Schließlich öffnete er das Kuvert und las den Brief. Lieber Weinemann, danke fürs Lesen. Ich bin so froh, dass es Dich gibt. Hoffentlich ist es okay, dass ich Dich um Hilfe bitte. Ich bin Ben und will Mama und Sophie nicht allein lassen müssen. Frag den lieben Gott doch bitte, ob er mir nicht einen Engel schicken kann, damit ich wieder gesund werde und Mama nicht mehr weinen muss. Nur wenn es nicht zu viel Mühe macht. Gruß an Deine Rentiere. Ben
Für einen Moment stockte Eric der Atem. Auf der Rückseite des Briefes stand die Adresse eines Krankenhauses. In ihm rührte sich etwas, das er schon lange nicht mehr verspürt hatte. Ehrliches Mitgefühl für jemand anderen. Ohne weiter zu zögern, machte er sich auf den Weg zum Krankenhaus, das am anderen Ende der Stadt lag. Das Geld für ein Taxi musste er sich sparen, obwohl ein Schneesturm durch die Straßen fegte. Durchnässt kam er eine halbe Stunde später in der Kinderklinik an und fragte an einem Informationsschalter nach Ben. Die nette junge Krankenschwester wies ihm einen Weg durch ein Labyrinth aus mehreren Gängen, in denen es nach Desinfektionsmittel roch. Hier und da hingen gemalte Kinderbilder an den Wänden, es gab sogar einen geschmückten Tannenbaum. Der grüne Linoleumboden quietschte unter Erics nassen Schuhen. Schließlich erreichte er Zimmer 7 auf der Krebsstation. Er musste schlucken und berührte den Türknauf, zog seine Hand aber wieder zurück. Plötzlich fühlte er sich völlig falsch am Platz. Er war kein Engel, im Gegenteil. Wie sollte er Ben schon helfen können?
Suchen Sie jemanden?
Perplex drehte er sich um und starrte direkt in das Gesicht der jungen Frau vom Weihnachtsmarkt. Sie fing an zu strahlen, als sie das blaue Kuvert entdeckte, das er in Händen hielt. Sie? Das ist ja
eine tolle Überraschung! Sie fiel ihm kurz um den Hals, wich dann aber sofort wieder zurück. Entschuldigung. Ich freu mich nur so
für Ben. Danke!
Eric räusperte sich. Ist in Ordnung. Mach
ich gern. Der Brief
ich meine, das tut mir echt leid.
Sie senkte den Blick. Wissen Sie, Ben hat Leukämie. Die Ärzte suchen noch immer nach einem passenden Stammzellenspender.
Oh, war alles, was Eric herausbrachte. Das Ganze ging ihm durch und durch.
Am besten Sie gehen ganz unbeschwert mit ihm um. Er mag kein Mitleid.
Verstehe. Ein richtiger Mann, stotterte Eric.
Wo
wo ist Ihr Kostüm?
Oh! Ich hol es und komm so schnell zurück, wie ich kann. In Ordnung?
Sie nickte, ihre Augen begannen zu funkeln. Dann füllten sie sich mit Tränen. Er fragte sich, ob Alice schon einmal vor Rührung geweint hatte, weil er etwas für sie getan hatte? Oder überhaupt? Er konnte sich nicht erinnern. Auf dem Nachhauseweg sausten tausend Gedanken durch seinen Kopf. Gedanken um einen Jungen, den er nicht einmal kannte und um eine Frau, deren Augen ihn tief berührten. Da erkannte er, dass diese fremden Menschen mehr ehrliche Gefühle in ihm auslösten als seine Freundin es in der ganzen Zeit, in der er schon mit ihr zusammen war, je geschafft hatte. Schlagartig wurde ihm klar, dass das Einzige, was er bei ihr verspürte, Angst und Druck war, und sie nichts hatte, was wirklich von Bedeutung war. Es gab keinerlei Sterne, wenn er in ihre Augen blickte. Nun wollte er nur eins solche Sterne auch in Bens Augen zum Leuchten bringen.
Alice staunte, nachdem sie ihn im Weihnachtsmannkostüm im Flur der Wohnung entdeckte. Was ist denn mit dir los? Drehst du nun völlig durch?
Er schluckte, straffte dann die Schultern und antwortete zum ersten Mal das, was er auch wirklich dachte. Im Gegenteil, ich war noch nie klarer. Red nicht so mit mir!
Wie bitte?
Wo ist eigentlich der Baum?, rief sie ihm hinterher, als er an ihr vorbei nach draußen eilte. Die Luft kam ihn noch nie so rein vor wie in dieser Nacht. Er begann zu rennen. Hier und da winkten und lächelten ihm Leute zu. Er fühlte sich befreit und voller Wärme. Beim Überqueren einer Straße sah er das Gesicht der jungen Frau direkt vor seinem inneren Auge und war voller Vorfreude auf ein Wiedersehen. Plötzlich hörte er das Quietschen von Reifen und spürte, wie er auf etwas sufprallte. Seine Füße verloren den Halt und das Bild um ihn herum drehte sich. Was geschieht da?, fragte er sich.
Kurze Zeit später fand er sich auf dem Gehsteig liegend wieder. Menschen umringten ihn. Ihre Gesichter wirkten verzerrt, nur ein Mann, der sich direkt über ihn beugte, erschien ihm glasklar und er erkannte, dass er dem auf Bens Kuvert erstaunlich glich. Eric starrte ihn an.
Ein Auto hat dich erfasst. Aber keine Sorge, es wird alles wieder gut. Hör zu, du bist auf dem richtigen Weg. Man sieht nur mit dem Herzen gut. Nur Mut!, sagte der Alte, zwinkerte ihm zu und verschwand.
Eric wollte ihn zurückrufen, doch dann wurde es dunkel um ihn.
Als er im Krankenhaus erwachte, sah er einen kleinen Jungen vor sich, der ihn mit seinen hellblauen Augen musterte. In ihnen lag dieses Leuchten, das er so liebte.
Hinter dem Jungen erschienen die Frau vom Weihnachtsmarkt und ein Mädchen. Er ahnte, dass die Kinder wohl Ben und Sophie waren.
Hallo Weinemann. Du hättest besser deinen Schlitten nehmen sollen, dann wär dir das vielleicht nicht passiert. Tut mir leid. Aber es ist so schön dich zu sehen, sagte Ben, woraufhin Eric lächeln musste, obwohl ihm alle Knochen schmerzten. Er steckte noch halbwegs in seinem Kostüm. Ben wirkte zerbrechlich dünn und bleich wie die Wände des Zimmers. Aber er grinste bis über beide Ohren und legte eine Hand in Erics. Dieser drückte sie gerührt.
Danke, flüsterte Sophie ihm zu.
Eric zwinkerte ihr zu und widmete sich dann Ben. Braucht dir nicht leidzutun. Es ist schön dich, euch, kennen zu lernen.
Plötzlich betrat ein Arzt das Zimmer. Während Ben, seine Mutter und Sophie draußen warteten, teilte dieser Eric mit, dass er sehr viel Glück hatte und bei den Untersuchungen aufgefallen sei, dass er dieselbe seltene Blutgruppe habe wie Ben.
Eric dachte an den alten Mann. Da wurde ihm klar, was dieser gemeint hatte und er erzählte dem Kleinen und seinen Lieben aufgeregt von den Neuigkeiten.
Ich bin zwar nur ein Gehilfe des Weihnachtsmanns, aber wenn ich dir helfen kann, dann sehr gerne, kleiner starker Mann, sagte Eric.
Dann bist du also mein Engel. Siehst du Mama, es gibt sie doch Weihnachtswunder. Und du wolltest es nicht mehr glauben!, rief Ben freudig.
Eric durchfuhr es wie ein Blitz, als ihn Bens Mutter ansah und er spürte, dass er sich nicht nur in den Jungen, sondern auch in dessen Mutter verliebt hatte. Seit Langem begann er nun selbst, wieder an den Weinemann und Wunder zu glauben.
Ben hat recht. Es gibt sie anscheinend tatsächlich, flüsterte diese.
16. Dez. 2016 - Nadine Stenglein
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