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Die Schamanin des Graslandes
von Maximilian Valentin

Diese Kurzgeschichte ist Teil der Kolumne:

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A. Bionda
46 Beiträge / 49 Interviews / 102 Kurzgeschichten / 2 Artikel / 136 Galerie-Bilder vorhanden
Gaby Hylla Gaby Hylla
© http://www.gabyhylla-3d.de
Sanft stieß die Schamanin den Rauch aus ihrem halb geöffneten Mund, und eine Wolke aus bläulichem Dunst verhüllte ihr Gesicht. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich darauf, alle Gedanken loszulassen. Es war hilfreich, sich auf den Schmerz zu konzentrieren, denn er war kein Gedanke. Und wenn das heilige Kraut seine Wirkung entfaltete, dann würde er verschwinden und sich ihr Geist öffnen. Eine leise Stimme, die zunächst kaum zu vernehmen war, dennoch aber vorhanden, tausende Stimmen in einer vereint. Es war wichtig, sie zu nichts zu zwingen. Wer die Stimme zwang zu sprechen, war es nicht würdig, sie zu hören. Die Stimme war es, die es zuließ, gehört zu werden. Es war eine Ehre, die nur wenigen Menschen zuteil wurde. Die Schwärze hinter den geschlossenen Lidern der Schamanin wich einem tiefen Blau. Und dann begann dieses Blau, Konturen zu entwickeln, verformte sich und eine Steppe breitete sich unter ihren Füßen aus. Sie schwebte hüllenlos darüber. Das Weidegras wog – von starken Windböen angestoßen – wild in alle Richtungen und bildete eckige und runde Formen zugleich. Formen und Symbole, die in der realen Welt nicht möglich waren. Doch in der Welt der Ahnen waren sie allgegenwärtig. Es war schwer, sie anzusehen und nicht den Bezug zum eigenen Verstand zu verlieren, denn ihre Geheimnisse und Rätsel waren für die Lebenden unergründlich, drangen aber dennoch tief ein in die Seele, ohne dass es möglich war, dies zu verhindern. Sie beschrieben, was die Welt zusammenhielt oder waren vielleicht sogar der allumfassende Baustein allen Seins. Und auch die Schamanin konnte die Zeichen weder deuten noch verstehen. Deshalb war es wichtig, der Stimme zu lauschen. Die Stimme war das, was dem Geist des Menschen das Verständlichste und Unkomplizierteste ist. Und doch war sie nur von jemandem zu erklären, in dem eine beschädigte und gepeinigten Seele lebte. Ein Mensch, der den Schmerz nicht in sich hatte, würde sie nicht ertragen, da er die Qualen nicht gewohnt war, nicht abgehärtet und nicht eins mit den Leiden der lebenden Hülle und des Geistes. Die Stimme verstärkte sich und durchdrang den blauen Fels, die blauen Bäche und den losgelösten Verstand. Sie war tief wie das Beben der Erde und sprach, ohne eine der gemeinen Zungen zu verwenden.
Zunächst hatte die Schamanin Angst, dass sie ihre Aufgabe diesmal nicht bewältigen könnte. Die Schmerzen wurden stärker und waren kaum zu bändigen. Sie musste sich in ihnen verlieren. Das war der Weg. Doch es war jedes Mal aufs Neue eine Herausforderung, die fast unmöglich zu gelingen schien. Es war nötig, den Schmerz noch zu intensivieren, wodurch die Stimme an Lautstärke und damit an Aussagekraft gewann. Ihre Mitmenschen zählten auf sie, sie durfte ihren Wert für sie nicht verlieren, jedoch hatte ihre Wertlosigkeit sie erst zu dem gemacht, was sie war. Die Wertlosigkeit ihres Körpers und ihre Herkunft, denn sie war eine Otschy-Bala, ein Abkomme der Kämpferin ihres Volkes. Dazu auserwählt, nach ihrer Urahnin, die die Welt der Lebenden beschützt hatte, in Verbindung mit der Welt der Toten zu treten und an dieser Schwelle nun selbst verteidigende Stellung zu beziehen. Sie hatte fast ihr ganzes Leben darauf verwendet, sich auf diese Aufgabe vorzubereiten, und war in ihrer frühen Jugend, als sie noch nicht begriffen hatte, wie wichtig das war, was sie tat, gezwungen worden, diesen beschwerlichen Pfad zu beschreiten. Auf diese Weise war sie zum Ventil der Welt geworden.
Dann drang diese tiefblaue Welt in ihren Kopf. Mit einer Gewalt, die sie nicht für möglich gehalten hätte, grub sie sich durch ihren Verstand. Sie spürte, wie ihre Gedanken zusammengepresst wurden und dem Druck kaum noch standhielten. Als die Qualen ihren Höhepunkt erreichten, ließen eben jene auf einmal nach. Sie war von allem gelöst, und nun wurde sie direkt angesprochen. Das allumfassende Blau bündelte und verformte sich aufs Neue und bildete einen riesigen Körper, der bis weit über alle vorstellbaren Horizonte hinausreichte. Plötzlich stand sie vor seinem riesigen Huf, der die Ausmaße eines Berges annahm und von blauen Linien durchzogen wurde, die wie ein reißender Fluss nach oben durch den titanischen Körper liefen und ihn in seiner Gänze durchzogen, bis sie schließlich auch das in sich gedrehte Geweih erreichen würden. So hoch oben, dass es für sie nicht mehr sichtbar war. Sie war eins mit den Schwingungen der tiefen Stimme geworden und pulsierte und verformte sich zu deren rhythmischem Herzschlag. Ein Gefühl der Entspannung befiel sie, und eine Welle von Glückseligkeit durchdrang sie, bis in ihre nicht vorhandenen Zehenspitzen. Sie fühlte keinen Schmerz mehr, denn das, was sie fühlte, war das absolute Gegenteil von Schmerz. Sie war eins mit den Energien der Welt und spürte, wie diese Energie sie durchströmte. Die Schamanin fragte sich, ob sie sie nutzen könnte, ob sie in der Lage wäre, sie zu bändigen und die Welt damit zu beeinflussen, vielleicht all die Feinde ihres Volkes niederzustrecken und zu unterwerfen. Sie könnte die Flüsse zum Überlaufen bringen oder sie von Blitzen erschlagen lassen, sie von hohen Wellen zertrümmern und von Wölfen und Bären zerreißen lassen. Sie würde die Erde zum Beben bringen, bis sich die Unterwelt öffnete, und alle die, die ihr und den ihren Schaden zufügen wollten, von der unendlichen Dunkelheit verschlungen wurden. Sie würde in die Legenden eingehen und ihrem Volk Ruhm und Reichtum bringen.
Eine solche Macht zu spüren, war verführerisch. Und die Otschy-Bala hatte sie in dieser Stärke noch nie erlebt. Also dachte sie weiter über diese Möglichkeiten nach und achtete nicht mehr auf das, wofür sie eigentlich gekommen war. Sie ignorierte die Stimme, die die Otschy-Bala auserwählt hatte, um ihrer Weisheit zu lauschen und sie zu ihrem Volk zu tragen. Doch auch, als der Ton der Stimme immer vehementer wurde und ihr drohte, war die Otschy-Bala so in ihren selbstsüchtigen Träumereien gefangen, dass sie nicht bemerkte, wie die gigantische Verkörperung der Welt immer zorniger wurde, da ein solch niederes Wesen, dem die Ehre zuteilgeworden war, dass sie empfangen und zu ihr gesprochen wurde, die Unverfrorenheit besaß, die Allmacht der Welt zu ignorieren. So bemerkte die Otschy-Bala auch nicht, wie die Stromlinien immer dunkleres Blau in dem gigantischen Körper verteilten, bis die Farbe so finster war, wie das düsterste Donnergrollen. Da wurde ihr Gefühl der Macht durch Kälte ersetzt, und überwältigende Angst packte ihr Herz, wie eine eisige Faust, die es zwischen harten, knochigen Fingern fast zerdrückte. Und da erkannte sie ihren Fehler und entsetzt versuchte sie, zu verstehen, was die Stimme nun tosend brüllte. Das Gras, die Flüsse und Berge verformten sich nun so schnell, dass es nicht möglich war, den Bewegungen zu folgen und ein Sturm aus chaotischen, unverständlichen Bildern entstand um sie herum. Nur der titanische Körper veränderte sich nicht. Zunächst verhinderte ihre Angst, dass sie verstand, was ihr erklärt wurde, doch als sie ihre Konzentration wiederfand, war das, was sie vernahm so schrecklich, dass ihr Herz vor Panik fast zum Stillstand gebracht wurde. In ihrer Verzweiflung versuchte sie, zum ersten Mal der Stimme etwas zu erwidern und um Gnade zu betteln. Doch damit widersprach sie ihr. Der Zorn, den sie damit entfachte, war noch stärker, und die Strafe, die sie zu verantworten hatte, folgte ohne Umschweife, denn es war eine der größten Schmähungen, seine Stimme gegen die der Welt zu erheben. Mit einem Beben löste sich der mächtige Huf aus dem blauen Gras und holte aus zu einem Stoß, der dazu in der Lage wäre, ganze Gebirge zu zerschmettern. Die Otschy-Bala wusste, dass es ihr Verschulden war, doch sie gab nichts mehr von sich. Sie hatte genug getan und die Welt ins Chaos gestürzt. Und als der Huf auf die Erde prallte, da liefen Flüsse über, Blitze schlugen wie Regen aus dem Himmel, Berge zersprangen und die Erde tat sich auf unter den ihren. Da zeigte sich die Otschy-Bala so demütig ob ihrer unglaublichen Bestrafung, dass die Stimme der Welt, die gerade im Begriff war, ihren Huf noch einmal zu erheben und alles auszulöschen, was der Otschy-Bala lieb und teuer war, nun doch Mitleid mit ihr hatte, denn es war ihre erste und einzige Verfehlung gewesen. Gnadenvoll senkte sich der Huf langsam wieder auf die Erde und kein Beben, keine Überschwemmung und kein Sturm wurde ausgelöst. Aber ihre Wut war noch immer nicht zur Gänze verschwunden und so erteilte die Stimme der Otschy-Bala einen Auftrag, wie er kaum grausamer hätte sein können. Doch nur so würde sie ihr Volk vor dem Zorn, den sie selbst heraufbeschworen hatte, retten können. Sie würde leid ertragen, das bis in die Unendlichkeit reichte. Aber sie hatte all dies selbst verschuldet, und voller Demut und Dankbarkeit, nahm sie den grausamen Auftrag an. Ihre körperlose Gestalt löste sich auf und drang zurück in ihren von Schmerz geplagten, wertlosen Körper.
Ob der absoluten Schmerzlosigkeit, die sie in der anderen Welt erfahren hatte, waren die Schmerzen ihres Körpers nun um ein Vielfaches stärker, und sie stöhnte laut auf, als sie die Augen öffnete. Doch sie durfte sich nicht beklagen. Sie hatte dies und noch viel Schlimmeres verdient. Als sie sich erhob und sah, was sie angerichtet hatte, brach sie dennoch zusammen und wollte sich vor Verzweiflung, das Leben nehmen. Ihr Leben hatte sie bereits gegeben, und sie würde ihr Volk durch ihr Leid vor weiteren Qualen beschützen. Dieser Gedanke schenkte ihr Trost. So ging sie und suchte nach den Überlebenden und fand dabei sogar einen der Oberen. Als der Obere sie sah, da warf er sich ihr weinend vor die Füße. Er gab sich die Schuld am Leid, das sein Volk erlitten hatte, und bettelte um Antworten der Otschy-Bala. Doch sie wusste nicht, was sie sagen konnte, ohne sich selbst derart in Ungnade zu begeben, dass ihre Anweisungen nicht mehr befolgt werden würden. Es war wichtig, dass genau das geschah, was die Stimme der Welt ihr aufgetragen hatte. Also ließ sie dem Oberen mit Tränen in den Augen den Gedanken an seine Schuld und milderte nicht seine Qualen. Dieser glaubte, sie weine aus Mitleid für ihn und die zahlreichen Toten und Verletzten. So lag er auf dem Boden und zog seine Beine wie ein junges Kind an sich, und weinte Tränen wie Sturzbäche. Doch die Otschy- Bala zog ihn wieder auf die Beine und begann damit, ihm ihr Opfer zu erklären, mit dem sie sämtlichen zukünftigen Schaden abfangen würde. Als er vernahm, was sie von ihm verlangte und was sie zu geben und zu ertragen bereit war, da war er zutiefst entsetzt. Schließlich warf er sich wieder zu ihren Füßen, denn nun glaubte er, auch das Unglück der Otschy-Bala verschuldet zu haben. Wieder zog sie ihn auf seine Beine und mahnte ihn zur Stärke, um den Bestand des Volkes zu schützen. Die Schuld würde ihn dazu bringen, alles zu tun und doch zerriss es ihr fast das Herz.
So begannen sie, die Vorbereitungen zu treffen. Und nach Anweisung der Otschy-Bala stach der Obere ihr blaue Farbe unter die Haut und bildete die Verkörperung der Stimme der Welt auf ihrer rechten Schulter ab. Als dies geschehen war, brachte er sie in eine der unterirdischen Grabkammern. Sie setzte sich in das Tauwasser, das durch die Decke aus Holz und Graswurzeln gedrungen war und des Nachts gefrieren würde, reichte dem Oberen das Messer, das normalerweise erst nach dem Tod zum Einsatz kam, um das Innere des Körpers zu entfernen und Platz für die Seele zu schaffen. Als der Obere zögerte, ihr die Arme und Beine damit zu öffnen, da er Liebe für die Otschy-Bala verspürte, da erinnerte sie ihn an seine Schuld, die eigentlich die ihre war, und er öffnete mit Tränen in den Augen ihre Adern. Die Schmerzen, die sie verspürte, waren schreckliche Folter und Erlösung zugleich. Doch sie war es ihrem Volk schuldig und gerne ertrug sie es, auch wenn ihr Herz von schrecklicher Furcht ergriffen war. Als sie spürte, dass das Leben langsam aus ihr wich und sie nur noch wenige Augenblicke in der Welt der Lebenden hatte, da erklärte die Otschy-Bala dem Oberen, was ihre Aufgabe war. Dass ihr Leib nicht entfernt werden durfte, da sie die Welt der Lebenden nun mit ihrem Körper vor der Macht der Welt der Toten verschloss und mit ihren unendlichen Qualen die Schrecken dieser anderen Welt abfangen und ihr Volk beschützen würde. Er dankte ihr dafür. Als sie spürte, dass ihr letzter Atemzug gekommen war, da gestand sie dem Oberen ihre Schuld und entlastete sein geschundenes Herz und zugleich ihr eigenes. So schloss sie die Augen und drang wieder ein, in das unendliche Blau. Doch ihre Schmerzen verschwanden diesmal nicht mehr. Jedes Mal, wenn der Huf voller Zorn auf die Erde treffen sollte, warf sie sich zwischen ihn und den Erdboden und nahm sämtliches Leid auf sich, um das Leben und das Glück ihres Volkes auf ewig zu beschützen.

Szenentrenner


Prolog

So verblieb sie, bis zum Jahr 1993 in der Ukok Ebene im Altai- Gebirge, als ein Team von Archäologen ihre Grabstätte entdeckte und sie zu wissenschaftlichen Untersuchungen mit sich nahm. So kam es in dem sonst eher behüteten Gebiet im Jahr 2003 zu einem schweren Erdbeben und im Jahr 2014 zu einem starken Hochwasser, wofür die Einheimischen, die sich als Nachfahren des Volkes der Schamanin, der Pasyryken sehen, die Entfernung des Leichnams verantwortlich machen. Sie glauben, dass er die Welt zur Unterwelt verschloss und sie so beschützte.

12. Jul. 2017 - Maximilian Valentin

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