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Startseite > Kurzgeschichten > Timo Bader > Düstere Phantastik > Der Fall der Jane J.

Der Fall der Jane J.
von Timo Bader

Pat Hachfeld Pat Hachfeld
© http://www.dunkelkunst.de

1.0 PROLOG

Hiermit möchte ich Sie höflich darum bitten, folgenden Informationen unbedingt Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken, sollten Sie ernstes Interesse daran haben, sich mit der Thematik dieser Hausarbeit zu beschäftigen.

Der folgende Aufsatz ist die belletristische Studie eines kranken Geistes - kein wissenschaftlicher Bericht! Es handelt sich um eine rein fiktionale Erzählung, die aufgrund der Brisanz des behandelten Themas bewusst auf komplexe Fachwörter, ausschweifende Theorien und/oder psychische bzw. psychologische Analysen verzichtet.

Die Geschichte schildert die Begegnung einer armen, verwirrten Seele mit einem Menschen - nach jahrelanger Isolation von der Gesellschaft. Um zu verhindern, dass wir uns in den kranken Gedankengängen dieses bemitleidenswerten Wesens verirren, werden wir die Geschehnisse aus leichter Distanz studieren.

Abschließend bestätige ich die Richtigkeit der im Text enthaltenen Angaben. Personen, Orte und Ereignisse wurden frei erfunden. Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen sind rein zufällig.

Heiko D.
(Student der Psychologie)

2.0 KONTAKT

2.1 Die Begegnung I

Vor ungefähr 300 Millionen Jahren verschwand das rheinische Meer aus Deutschland und große Wälder entstanden. Trotz der stark fortschreitenden Industrialisierung der letzten Jahrzehnte sind viele dieser weitläufigen Biotope noch heute vorhanden.
Am Rand des Dorfes Winden in Rheinland-Pfalz liegt ein solcher Wald mit mehreren wild wachsenden Holzarten. Im Zentrum dieses Waldes, wohin sich heute nur noch selten ein Wanderer verläuft, haust zwischen Kiefern und Tannen, Birken und Buchen, Eichen und Kastanien eine junge Frau namens Jane J. Einsam. Erbarmungswürdig. Entstellt.
Sie trägt nur Fetzen an ihrem Körper, der voller Schlamm und Schürfwunden ist. Ihr Unterschlupf ist eine Höhle - ein verlassener Fuchsbau, in dem sie tagsüber schläft. Nachts geht sie nach draußen - und auf die Jagd. Jane J. ernährt sich von Würmern, Schnecken und Insekten, gelegentlich verspeist sie auch eine Maus oder einen Vogel.
An diesem Tag hat sie es auf ein Eichhörnchen abgesehen. Gierend nach dem zarten Fleisch, jagt sie den Nager quer durch den Wald und nähert sich dabei, ohne es zu merken, der Baumgrenze.
Dort spaziert ein harmloser Wanderer, Jonathan, der nach einem langen Tag im Büro noch schnell seinen Hund Benny vor die Tür bringen will, ehe er es sich Zuhause mit einem kühlen Bier vor dem Fernseher gemütlich machen möchte.
Diese außergewöhnliche Koinzidenz führt dazu, dass Benny das fliehende Eichhörnchen wittert. Angelockt vom prägnanten Geruch des Nagers, entfernt sich der Schäferhund von seinem Herrn. Er dringt tiefer in den Wald ein und gelangt auf eine Lichtung.
Am Himmel hängt der Mond und beobachtet den streunenden Hund wie ein großes, bleiches Auge. Seine Strahlen fallen flach ein und zeichnen einen blauen Kreis in die Mitte der Lichtung. In diesem Lichtkegel begegnet Benny dem Eichhörnchen. Ängstlich erstarrt der Nager zur Bewegungslosigkeit.
Da springt Jane J. aus dem dichten Unterholz!
Die Wilde erblickt das Eichhörnchen. Das Eichhörnchen erblickt die Wilde. Benny erblickt die Wilde. Und endlich erblickt auch die Wilde den Schäferhund.
Eine klassische Pattsituation!
Am Schnellsten erwacht das Eichhörnchen, aufgrund seines ausgeprägten Überlebenstriebs, aus der Passivität. Die allgemeine Verwirrung nutzend, flüchtet es ins Dickicht eines Gebüsches und ist verschwunden.
Auch Jane J. will die Flucht ergreifen und rennt los. Doch Benny lässt sie nicht so einfach entkommen. Der Anblick der flüchtenden Wilden weckt einen uralten Jagdinstinkt in ihm; er spürt die Furcht der vermeintlichen Beute, riecht den sauren Angstschweiß und …
… hetzt sie quer durch den Wald!
Gerade als die beiden ins Unterholz eindringen, betritt Jonathan die Lichtung. Er glaubt, Benny hätte ein Reh aufgespürt, und beginnt schneller zu laufen, obwohl er genau weiß, dass seine Chancen, den Schäferhund einzuholen, sehr schlecht stehen.
Über Stock und Stein geht die Jagd, in Schlangenlinien zwischen den stummen Baumgiganten hindurch. Jane J. kennt die Umgebung genauestens und bewegt sich, trotz der vorangeschrittenen Dunkelheit, so sicher, als stünde die Sonne hoch und hell am Himmel.
Benny folgt ihr.
Und Jonathan folgt Benny.
Der Boden wird sumpfiger, das Zentrum des Walds rückt näher. Jonathan strauchelt, stolpert und fällt. Jane J. hingegen weiß plötzlich nicht mehr, wohin sie noch flüchten soll. Verzweifelt rettet sie sich in ihre Höhle und kauert sich dort, bibbernd vor Angst, zusammen.
Benny baut sich drohend vor dem Fuchsbau auf und schlägt an. Sein Bellen lockt Jonathan zielgenau zur Höhle. Erschöpft humpelt er zwischen den Bäumen hindurch. Auf seiner Stirn glänzt Schweiß. Benny bellt noch immer. Jetzt sieht Jonathan den Höhleneingang und nähert sich dem Unterschlupf der Wilden.
»Verschwinde!«, zischt eine fremde Stimme.
Sie scheint nicht zu einem Menschen zu gehören, denn die Worte klingen wie gutturale Laute. Jonathan bleibt stehen; sein Herz schlägt wie verrückt. Unvermittelt entdeckt er die Silhouette der Wilden, die sich in einem glänzenden Grauton von dem in der Nacht fast schwarz glänzendem Felsen abhebt.
»Wer bist du?«, fragt er schüchtern.
Jane J. antwortet nicht.
»Wer bist du?«, wiederholt Jonathan seine Worte.
Er glaubt, er wäre nicht verstanden worden.
Vorsichtig macht er einen Schritt nach vorne.
»Weg! Geh weg!«, faucht Jane J., wie ein wildes Tier.
Jonathan erstarrt zur Bewegungslosigkeit.
»Wer bist du?«, stellt er seine Frage ein drittes Mal.
»Wer … wer soll ich schon sein?«, wimmert sein Gegenüber. »Ein Nichts. Ein blinder Blick. Ein stummer Schrei. Ein Körper - ohne Gestalt. Ein Schatten in der Nacht.«
Die Worte kommen schwerfällig über die Lippen der Wilden; sie hat lange nicht mehr gesprochen. Sehr lange …
»Wie heißt du? Und … und was machst du hier draußen?«, will Jonathan wissen.
»So viele Fragen. So wenig Antworten …«, seufzt Jane J. ergriffen. »Mein Name ist Janet Jefferson, und alle nannten mich ›Jane‹. Aber seit dem Unfall schimpft man mich ›INSANE JANE‹, die verrückte Jane ... Du hingegen sollst mich ›Jane J.‹ nennen.«
»Von welchem Unfall redest du da?«, hakt Jonathan sofort nach. »Und warum bist du hier draußen, so ganz allein?«
»Ich muss mich verstecken«, wispert Jane J. geheimnisvoll.
»Verstecken?«, wundert sich der junge Mann. »Aber vor wem?«
»Vor denen, die mich ›INSANE JANE‹ nennen. Vor den ›Hässlichen Menschen‹!«
»Hab keine Angst«, spricht Jonathan beruhigend auf sie ein. »Hier wird dir niemand böse Namen geben.«
Zögerlich streckt er die Hand in ihre Richtung.
»Zurück!«, keucht sie. »Keinen Schritt näher!«
»Schon gut, schon gut.«
Jonathan kommt ihrer Bitte nach. In einer versöhnlichen Geste breitet er die Arme aus. Er will Jane J. nicht verjagen. Obwohl er nur ihren Schemen sieht, findet er sie wunderschön ... Eine Faszination geht von ihr aus, die er nicht in Worte zu fassen vermag.
»Ich möchte dich doch nur ansehen«, erklärt er sein Handeln.
»NEIN!«, kreischt sie, als würde ihr die bloße Vorstellung ungeheure Qualen bereiten. »Nein, das darfst du nicht!«
»Aber warum denn nicht?«
»Die Hässlichen Menschen sagen, ich bin entstellt«, verrät sie ihm mit brüchiger Stimme. »Früher war ich bildhübsch, doch seit dem Unfall … bin ich verstümmelt. Mein Gesicht …«
Jane J. bricht schluchzend ab.
Jonathan hat großes Mitleid mit ihr. Er will ihr helfen.
Da er sie aber weder ansehen noch anfassen darf, geschweige denn sich ihr nähern kann, setzt er sich nieder und spricht mit ihr.
Die ganze Nacht.


2.2 Der Unfall I

Von diesem Tag an treffen Jonathan und Jane J. sich regelmäßig. Jeden Tag. Wochenlang. Immer und immer wieder. Nicht ein einziges Mal versucht Jonathan dabei die Wilde zu überreden, mit ihm zurück ins Dorf zu kommen oder gar in die Zivilisation zurückzukehren. Er denkt ja nicht einmal darüber nach, ob er vielleicht Hilfe holen oder die Behörden darüber informieren soll, dass eine junge Frau ganz allein draußen im Wald lebt.
Er, der selbst sein ganzes Leben lang ein Außenseiter gewesen ist, kann Jane J.s Entschluss, in der Isolation zu leben, vollkommen verstehen. Mehr noch: Er bewundert sie für ihre Konsequenz und wünscht sich nichts mehr, als sein langweiliges Leben beenden und in die Einsamkeit ziehen zu können. Genau wie Jane J. …
In diesem Prozess des gegenseitigen Kennenlernens beginnt Jonathan für Jane J. zu schwärmen. Natürlich bleiben der Wilden die starken Sympathien und das Verständnis, das der junge Mann ihr entgegenbringt, nicht verborgen.
Was dazu führt, dass Jane J. auch ihm gegenüber zunehmend ihr Misstrauen verliert. Mit der Zeit ist er ihr gar so vertraut, dass sie es kaum erwarten kann, bis er endlich am Abend zu ihr kommt.
Vor sieben Uhr erlaubt sie Jonathan allerdings nicht, sie zu besuchen, und auch dann nur, wenn es bereits gedämmert hat, die Schatten langsam länger werden und das Licht der Dunkelheit weicht. Wenn es dann Nacht geworden ist, steht Jonathan im feuchten Gras vor der Höhle, während Jane J. sich im Schutz der Dunkelheit aufhält, so dass der junge Mann nur ihre Silhouette wahrnehmen kann.
Aber das stört Jonathan nicht. Ganz im Gegenteil: Zufrieden lauscht er ihrer angenehmen Stimme und schmunzelt hin und wieder über ihre Zunge, die ungeübt ist, weil sie so lange keine menschlichen Worte mehr geformt hat.
Benny, den Schäferhund, nimmt Jonathan zu jedem ihrer Treffen mit, obwohl das Tier sich jedes Mal wie verrückt gebärdet. Benny bellt und muss an der Leine geführt werden.
Jonathan vermutet, dass die Unruhe des Hundes sich auf die unheimliche Sumpflandschaft und die Nebelschwaden zurückführen lässt, die wie verschwommene Geistergestalten von der Erde aufsteigen und schwerelos gen Himmel streben. Vielleicht sind es aber auch die ungewöhnlichen Geräusche und Gerüche, die den Hund aufregen.
Wenn Jonathan und Jane J. sich treffen, sprechen sie meist über die beiden grundverschiedenen Welten, in denen jeder von ihnen einsam sein Dasein fristet.
Häufig erzählt Jonathan dann von seinem Leben in der Welt außerhalb des Waldes, und anschließend muss Jane J. von ihrer allmählichen Anpassung an die widrigen Umstände des Waldes berichten.
»Kurz nach dem Unfall haben meine Füße oft wehgetan, wenn ich barfuss über den Waldboden gegangen bin. Aber jetzt nicht mehr ... Sie haben eine Art Hornhaut gebildet«, erzählt Jane J. eines Tages wieder einmal über ihr Leben im Wald.
»Sei mir bitte nicht böse, Jane J.«, unterbricht Jonathan die Wilde höflich. »Aber was ist das für ein Unfall gewesen, auf den du dich ständig beziehst?«
Er weiß, dass Jane J. nicht gerne über den Unfall und ihr Leben vor dem Wald spricht. Heute ist aber alles anders ...
»Es war ein Autounfall«, verrät sie ihm.
Er glaubt, eine Träne zu sehen, die über ihre bleiche Wange rollt. Wie ein Diamant erstrahlt sie in der Nacht, als das Licht des Mondes auf sie fällt.
»Mein Wagen hat sich überschlagen. Seitdem sagen die Hässlichen Menschen, ich bin entstellt. Seitdem nennen sie mich ›INSANE JANE‹. Seitdem … bin ich ein Monstrum!«
Jane J. kreischt und weint. Minuten später wird sie ganz still. An diesem Abend spricht sie kein Wort mehr mit Jonathan. Dafür spricht er, die ganze Nacht, bis zum Morgengrauen. Jane J. lauscht seinen Worten.
Benny bellt.

3.0 FUGE

Eines Nachts, kurz nachdem Jonathan von einem Spaziergang und einem langen Gespräch mit Jane J. nach Hause gekommen ist und sich gerade in sein Bett gelegt hat, vernimmt er lautes Bellen von draußen.
Er steigt umständlich aus dem Bett und huscht durchs dunkle Haus. Seit er Jane J. kennt, gibt es keinen elektrischen Strom mehr in der kleinen Hütte. Jonathan möchte sein wie die Wilde. Er liebt sie.
Das Bellen wird wilder. Bricht plötzlich ab …
Jonathan zündet eine Kerze an und geht nach draußen. Dort liegt Benny. Sein Kopf wurde mit einem Stein zertrümmert.
Benny bellt nicht mehr.

4.0 WAHRHEITSFINDUNG

4.1 Die Begegnung II

Am nächsten Morgen geht Jonathan spazieren. Die kleine Runde am Waldrand entlang und zurück zum Haus, die er jeden Morgen mit Benny macht, kurz bevor er ins Büro geht.
Heute legt er die Strecke alleine zurück …
Ein Rascheln lenkt seine Aufmerksamkeit auf den Waldrand. Dort erspäht er einen Schatten. Jane J. beobachtet ihn durch einen Holunderstrauch hindurch. So nahe ist er ihr noch nie zuvor gewesen.
Für einen Moment schwindet der Schmerz in seinem Herzen und macht einem anderen Schmerz Platz – einer süßen Pein ...
»Sei mir bitte nicht böse, Jonathan«, bittet ihn Jane J. »Aber warum bist du so traurig? Und wo ist die Kreatur?«
Sie meint Benny, hat den Schäferhund immer »die Kreatur« genannt; wahrscheinlich, weil ihr sein Bellen nicht gefallen wollte.
»Benny ist tot«, antwortet Jonathan bedrückt. Dann fügt er zu seiner eigenen Überraschung hinzu: »Die Hässlichen Menschen müssen ihn erschlagen haben.« Mit hängenden Schultern setzt er sich auf einen Baumstumpf. »Was machst du hier überhaupt? Verfolgst du mich etwa?«
Die Worte sollen ein Scherz sein, doch Jane J. lacht nicht. Schweigend kniet sie hinter dem Holunderstrauch. Verdorrte Tannennadeln stechen ihr in die Knie, aber davon merkt sie nichts.
»Dein Schmerz hat mich angelockt«, offenbart sie ihm. »Ich kenne Schmerz, sowohl körperlich, als auch … anders.«
Jonathan spürt, dass Jane J. die Qualen in seinem Herzen nachfühlen kann. Sie ist, wie er. Und er ist – wie sie. Sie ist gekommen, um ihn zu trösten. Und Jonathan … liebt sie. Jetzt noch mehr als zuvor! Ob sie eines Tages ein Paar sein können? Jane J. ist ein guter Mensch, das weiß er.
Aber warum haust sie allein im Wald? Was ist nach dem Autounfall geschehen? Was haben die Hässlichen Menschen ihr angetan, das sie zu dem gemacht hat, was sie heute ist? Und wer sind die Hässlichen Menschen überhaupt?
Heute ist Jonathan derjenige, der weint und nicht spricht.
Und Jane J. ist diejenige, die Mitleid hat. Sie will ihm helfen.
Da Jonathan sie aber weder ansehen, noch anfassen darf, geschweige denn sich ihr nähern kann, setzt sie sich nieder und spricht, den ganzen Morgen, bis es Mittag wird und die Sonne am Zenit steht. Jonathan lauscht ihren Worten.
Benny bellt nie wieder …


4.2 Der Unfall II

Am Mittag geht Jonathan in die Stadt aufs Polizeiamt und meldet Bennys Totschlag. Die Beamten versprechen, sich bei ihm zu melden, sobald noch mehr Fälle auftauchen, bei denen Tiere mutwillig getötet wurden.
Da Jonathan ohnehin schon in der Stadt ist, besucht er noch gleich das Stadtarchiv. Er will mehr über Jane J. erfahren. Über ihre Vergangenheit. Über den Unfall. Über - einfach alles!
Apathisch durchforstet er alte Zeitungen, analysiert jeden Artikel akribisch. Nach stundenlanger, harter Arbeit stößt er auf eine interessante Unfallmeldung:

»Kleiner Junge bei Autounfall tödlich verletzt

Ein vierjähriger Junge ist am Freitagnachmittag bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglückt. Nach Angaben eines Polizeisprechers ist ein Pkw an der Seehoferstraße über einen Natursteinblock gefahren, der von der Ladefläche eines Baufahrzeugs gefallen sein muss, und hat sich daraufhin überschlagen. <…> Im Auto befanden sich die Fahrerin und ihr vierjähriger Bruder. Die junge Frau überlebte den Unfall bis auf einen Schock unverletzt. Der Junge wurde mit schwersten Verletzungen geborgen und verstarb noch am Unfallort. <…> (tba.)«

Jonathan stöbert weiter in den Archiven. Er glaubt, eine heiße Fährte gefunden zu haben. Auf seine Bitte hin bringt ihm ein Bibliothekar einen Stoß vergilbter Regionalzeitungen. (Dieser Bibliothekar bin ICH, der Verfasser dieser Studie. Aber das soll nicht weiter von Belang sein). In einer der Ausgaben findet Jonathan eine Todesanzeige.

»Das einzig Wichtige im Leben
sind die Spuren von Liebe,
die wir hinterlassen,
wenn wir fortgehen.«

In stiller Trauer,
Peter, Anne & Janet Jefferson,
Freunde und Verwandte.

Janet Jefferson, so lautet der volle Name von Jane J.! Das hat sie ihm selbst gesagt. Die Puzzleteile fügen sich ineinander: Ihr kleiner Bruder ist bei dem Unfall ums Leben gekommen, sie selbst dagegen nicht einmal verletzt worden.
Es dauert eine Weile, bis Jonathan begreift, was das bedeutet: Die Verstümmelungen existieren nur in ihrer Einbildung! Es muss etwas mit ihren Schuldgefühlen zu tun haben … Diese lassen Jane J. glauben, sie wäre grausig entstellt. Dem ist aber gar nicht so!
Was für eine arme, verwirrte Seele sie doch ist …, denkt Jonathan betroffen.
Er beschließt, Jane J. zu helfen.
Schließlich liebt er sie doch …

5.0 SCHULD & SCHULDGEFÜHLE

Als Jonathan an diesem Abend in den Wald geht, hat er einen Spiegel bei sich. Er versteckt ihn unter seinem Mantel und ist fest entschlossen, Jane J. ihr wahres Gesicht zu zeigen. Er will ihr beweisen, dass es die Verstümmelungen nur in ihrer Einbildung gibt.
Mit dem Spiegel in der Hand fühlt er sich wie Perseus, der seinen Bronzeschild poliert hat, um die Medusa mit dem Grauen ihrer eigenen Fratze zu konfrontieren. Doch Jonathan ist kein Held und Jane J. kein Monstrum!
Jetzt nicht mehr ...
Seine Schuhe machen saugende Geräusche, wenn er sie aus dem sumpfigen Untergrund zieht, in dem sie bei jedem Schritt versinken. Er kommt der Höhle näher. Dort sehnt sich Jane J. bereits nach ihm.
»Ich grüße dich, Jonathan«, heißt sie ihn freundlich willkommen.
»Hallo, Jane«, antwortet er.
Sofort spürt die Wilde, dass etwas nicht stimmt. Noch nie zuvor hat er sie »Jane« genannt. Etwas scheint sich verändert zu haben. Sie spannt sich.
»Was hast du vor?«, fragt sie entsetzt.
»Ich möchte dir jemanden vorstellen«, erwidert Jonathan und tritt näher.
»Stopp! Was denkst du, tust du da?!«, protestiert Jane J.
Unbeeindruckt geht Jonathan weiter. Die Wilde taumelt zurück. Hinter ihr liegt die Höhle - eine Sackgasse, das weiß sie. Nach links oder rechts kann sie nicht mehr ausbrechen, dafür ist es schon zu spät. Sie ist ihrem Gegenüber hilflos ausgeliefert!
»LASS MICH IN FRIEDEN!«, schreit sie, halb ängstlich, halb erschrocken.
Jonathan hält an. Er sieht ihre abgemagerte Gestalt so deutlich wie noch nie zuvor. Ein zitterndes Bündel Mensch kauert vor ihm am Boden. Jane J. ist von knochiger Statur.
Die Haut spannt sich wie trockenes Pergament über ihr Skelett. Sie ist halb nackt, nur ausgefranste Stofffetzen bedecken ihren eindeutig weiblichen Körper. Schlamm klebt an ihren Gliedern und überdeckt ihren Leib wie eine zweite, erdfarbene Haut. Die Hände und Füße mit den überlangen Nägeln verkrampft die Wilde vor Verzweiflung. Das zerzauste Haar fällt ihr ins Gesicht und verbirgt ihr Antlitz, wie hinter einem schwarz-braunen Schleier.
»Warum tust du mir das an?«, wimmert sie leise.
»Ich liebe dich«, erwidert Jonathan voller Zuversicht.
»Niemand kann mich lieben«, behauptet Jane J. »Die Hässlichen Menschen sagen, ich bin entstellt.«
»Sie lügen!«, fällt Jonathan ihr schroff ins Wort. »Du bist wunderschön ...«
»Nein.« Sie schüttelt den Kopf. »Ich bin ein Nichts. Ein blinder Blick. Ein stummer Schrei. Ein Körper …«
»GENUG!«, wird sie barsch unterbrochen. »Du bist ein Engel. Ein Zauberwesen. Warte nur, ich werde es dir beweisen.«
Mit diesen Worten reißt Jonathan den Spiegel unter seinem Mantel hervor. Das blaue Mondlicht fällt auf die Oberfläche und wird vom Glas reflektiert. Geblendet reißt Jane J. die Hände vors Gesicht.
Nachdem ihre Augen sich an das Licht gewöhnt haben, späht sie scheu zwischen ihren dürren Fingern hindurch. Jonathan kann sehen, wie sich ihre Augen vor Unglauben weiten. Er legt den Spiegel zu Boden und beugt sich über sie. Seine Hand streichelt ihre Wange.
Plötzlich spürt er eine raue Stelle unter den Fingern. Er tastet weiter. Das Gesicht der Wilden gleicht einer zerfurchten Kraterlandschaft. Verwirrt zieht Jonathan die Hand zurück.
Auch Jane J. nimmt die Hände von ihrem Gesicht und dahinter kommt ihr Antlitz zum Vorschein: Ein Albtraum aus Narben und blutigen Wunden. Die Wilde ist grässlich verstümmelt! Die Hässlichen Menschen hatten Recht gehabt: Sie ist entstellt!
Völlig perplex stolpert Jonathan nach hinten. Wie ist das möglich?!
Es kann nur eine Erklärung geben: Sie muss sich die Wunden selbst zugefügt haben …
Endlich erkennt Jonathan die ganze schreckliche Wahrheit: Die Schuldgefühle am Tod ihres kleinen Bruders haben Jane J. in den Wahnsinn getrieben! Kurz nach dem Unfall hat sie angefangen, Stimmen in ihrem Kopf zu hören: die Hässlichen Menschen. Sie haben ihr befohlen, sich die Wunden zuzufügen …
Auch jetzt hört sie die Stimmen, so vermutet er. Wahrscheinlich sagen sie ihr, dass niemand erfahren darf, wo sie sich verborgen hält. Die Hässlichen Menschen zwingen sie dazu, ihn zu töten ...
Während Jonathan noch immer erstarrt vor Überraschung und Entsetzen vor ihr steht, hebt Jane J. den verschrammten Natursteinblock vom Boden auf.
An der rauen Oberfläche klebt Blut. Benny hat den Wahnsinn in Jane J. gespürt. Daraufhin haben die Stimmen der Hässlichen Menschen ihr aufgetragen, den Schäferhund zu töten …
Die Wilde wankt sichtbar unter dem Gewicht des Natursteinblocks. Ihre Muskeln beben. Die Stimmen des Hässlichen Menschen werden lauter. Drängender. Jane J. gehorcht ihnen und lässt den Natursteinblock herabfallen …

6.0 EPILOG

An dieser Stelle möchte ich dem unaussprechlichen Grauen, das sich an diesem Tag zugetragen hat, den Rücken zukehren und meine Studie beenden. Die Schuldgefühle haben Jane J. in den Wahnsinn getrieben.

Sie leidet an einer »Körper-dysmorphen« Störung, auch »Dysmorphophobie« genannt und weitläufig als »Entstellungssyndrom« bekannt. Hierbei handelt es sich, um eine exzessive Beschäftigung mit einer vermuteten körperlichen Entstellung, die sich meist auf ein unverarbeitetes, innerseelisches Problem zurückführen lässt.

Über die Häufigkeit dieser Störung gibt es keine exakten Untersuchungen und damit leider auch keine genauen Angaben. Es wird jedoch vermutet, dass dieses Leiden mehr Menschen betrifft, als allgemein bekannt und registriert ist. Und die Zahlen werden eher noch steigen, als zurückgehen!

Bevor ich meine Studie an dieser Stelle abschließen werde, möchte ich betonen, dass »Dysmorphophobie-Kranke« nicht nur in Sümpfen, Höhlen oder dunklen Wäldern hausen. Sie leben unter uns! Vielleicht im Haus auf der anderen Straßenseite, vielleicht in der Wohnung nebenan, vielleicht, ja, vielleicht sogar mit uns zusammen …

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit,

Heiko D.
(Student der Psychologie)

11. Dez. 2006 - Timo Bader

Bereits veröffentlicht in:

WILDES LAND
T. Bader (Hrsg.)
Anthologie - Phantastik - Web-Site-Verlag - 2005

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