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Eine andere Welt

EINE ANDERE WELT

Buch / Science-Fiction

Warum nicht mal wieder ein Klassiker? Immerhin erhebt die "Bibliothek der Science Fiction Literatur" des HeyneVerlags den Anspruch, "herausragende Werke dieser Literaturgattung" zu umfassen, "die als Meilensteine ihrer Geschichte gelten und als beispielhafte Versuche, Möglichkeiten denkbarer Entwicklungen aufzuzeigen und auf Gefahren und Probleme der Gegenwart und Zukunft hinzuweisen". (Uff. Geschafft.) Nun, diese Probleme und Gefahren sind seit 1974, dem Erscheinungsjahr dieses Romans, im wesentlichen dieselben geblieben, speziell auch die hier erfaßten: das allgegenwärtige Lauern des Polizeistaates am Horizont der westlichen Demokratien (Notstandsgesetze, "gläserner Bürger" und "Großer Lauschangriff"), die zunehmende Entpersönlichung und Entmenschlichung auch des "normalen" Lebens, die Drogen ... Alles so neu nicht mehr. Immer wieder beschworen, mittlerweile in Dutzenden und aber Dutzenden von SFRomanen; tja, und schon deshalb bin ich für die Klassiker, denn die haben diese Themen als erste, am originellsten und oft auch mit nicht wieder erreichtem literarischen Anspruch umgesetzt. Da kann es bei der Flut des Neuen nicht schaden, immer wieder auf die großen Leistungen einer Schriftstellergeneration zu verweisen, die sich ins Reich des "Legendären" zu entfernen beginnt ("legendär" boomt auch in der SFSzene ungeheuer). Außerdem: Was ist ein "Klassiker"? Ein Werk, das alle loben, das aber kaum einer gelesen hat. Ha, ha ...! Ein fader Witz, ich weiß, aber nicht ohne ein Körnchen Wahrheit. Goethe ist natürlich uuuunschlagbar, aber unser Bücherschrank bricht vor lauter Simmel und Konsalik: diese Erscheinung dürfte es auch im Fandom geben. Darum also, liebe Leser (und lieber Rezensent des SX53 im "FanzineKurier"!) greife ich auch immer mal wieder die "ollen Kamellen" heraus in diesem Falle diesen Dick.
Der ein ganz raffiniert geschriebenes Buch ist. "Jason Taverner, Sänger und Unterhaltungskünstler, tritt allwöchentlich im Fernsehen auf, um ein Millionenpublikum mitzureißen. Eines Tages erwacht er in einem schäbigen Hotelzimmer, und kein Mensch scheint ihn mehr zu kennen, auch seine Freundin nicht. Er stellt fest, daß er sich in einer Parallelwelt befindet, die weitgehend identisch mit seiner bisherigen ist mit ein paar Ausnahmen: Die USA sind ein totalitärer Polizeistaat, ... in dem der Bürger entmündigt, total überwacht und der Willkür des Staatsapparats ausgesetzt ist." Halt, Meister Klappentexter von Heyne! Hier nimmt das Verwirrspiel nämlich schon seinem Lauf. Eigentlich treffen diese Worte zu mit einer Ausnahme: Die Parallelwelt, in der Taverner erwacht, ist eigentlich schon die zweite; denn die USA, aus denen er stammt, sind nicht identisch mit den USA, die wir kennen. Jene sind nämlich bereits der angesprochene "totalitäre Polizeistaat", und der Showmaster kommt praktisch in einer Parallelwelt zur Parallelwelt zu sich die eigentlich fast gar keine Parallelwelt zur ersten ist, mit der einen Ausnahme: Es gibt Jason Taverner da nicht. Begriffen? Nein? Um so besser lest das Buch, es lohnt sich!
Wir erleben also die Verknüpfung zweiter Motive: das Thema der "Welt, die wäre, wenn ..." wird verbunden mit der Geschichte vom Mann, welcher seine Identität sucht. Dick legt den Schwerpunkt auf letzteres. Die Story vom totalen Regime wird eher beiläufig "mitgeliefert", denn diese Staatsform ist ja die, welche Taverner eigentlich bestens vertraut ist. Er bewegt sich mit Vorsicht, aber nicht mit Entsetzen in ihr das Entsetzen wäre beim Leser zu suchen, doch wie, wenn das alles so nüchtern geschildert wird? Dick schwelgt nicht in der Betonung und Ausschlachtung der Unterschiede die "andere Welt" bietet einfach den erschwerenden Hintergrund der Suche Taverners, und so steht die Frage im Mittelpunkt, warum es ihn denn nun nicht mehr gibt und ob er am Ende wieder so wie früher existieren wird. Das irritiert anfangs, lenkt es doch ein wenig ab von dem, was AlternativweltSchreiber zu bezwecken scheinen: den Vergleich mit den heutigen Zuständen und das Entsetzen oder traurige Frohlocken über die Möglichkeiten, die es gegeben hätte, wenn ... Also was will dieser Dick mit seiner Parallelwelt? Die Geschichte eines Mannes, den keiner mehr kennt und der keine Papiere hat, wäre schon im modernen (demokratischen Sozial)Staat der Gegenwart wahrscheinlich die pure Horrorstory (ich erinnere nur daran, wie dramatisch es für den Seemann in Travens (1) "Totenschiff" ohne Papiere zugeht, und dieser Roman ist bar jeder Phantastik).
Aber dann stellte ich mir die Frage, ob die Nüchternheit, das Nebenbei nicht die eigentlich schwere Aussage sei, und ich fand: Ja. Da schreibt einer, der keine Illusionen über die Welt hat, in der er lebt, der nicht entsetzt aufschreit über den totalen Polizeistaat weil er ihn wohl mehr als greifbare Realität denn als Schreckensvision betrachtet, weil er weiß, wie schnell solche Konzepte Wirklichkeit werden können. 1970 wurde der Roman weitgehend fertiggestellt 1971 Dicks Haus vom FBI nach dem Manuskript durchsucht 1972 schlug die Stunde von Watergate 1974 verlief das Verfahren wegen der Durchsuchung im Sande. Kontinuität der Ereignisse? Sicher. Deshalb auch das einfache Erzählen, das sich abgefunden zu haben scheint, das deshalb wie ein "Na und??" wirkt ein provokatives allerdings. Bitte, so werden die Zustände in den USA 1988 sein. "Mach was dagegen" das wird nicht gesagt, nicht geschrieben, darauf kann man bestenfalls nur selbst kommen. Der Epilog des Romans schließlich, der alles wieder ins mehr oder weniger "Normale" auflöst, betont gerade durch diesen Trend zum wieder geordneten Leben das Unnormale derartiger Zustände. Die Lebensläufe der beteiligten Personen werden in knapper Form zu Ende geschrieben, zeitungsberichtartig, ganz der Gebrauchssprache der Gegenwart angenähert aber jener Staat besteht immer noch. Dick, scheint es, schreibt ohne jede Hoffnung, und gerade diese letzten vier Seiten verstärken den Eindruck, hier habe einer nur ganz nüchtern beobachtet, was sich in Wirklichkeit zuträgt.
Dabei geht die Spannung nicht verloren keineswegs! In den zwei Tagen der Suche Taverners geschieht sich nicht allzuviel, doch die Ereignisse verwirren und verwirren Taverner tappt im Dunkeln, die Polizei tappt im Dunkeln, der Leser desgleichen und selbst die Lösung verführt nur dazu, das Buch gleich ein zweites Mal zur Hand zu nehmen: Geht das so überhaupt? Doch auch nach erneuter Lektüre bleiben Fragen offen wie kann es anders sein in einem Roman, in dem (siehe oben) das Drogenproblem eine bedeutende Rolle spielt? Kontinuität, Kausalität schwierig. Eines erscheint plötzlich plausibel dadurch wird ein anderes unwahrscheinlich. Und so weiter.
Jason Taverner, Unperson durch Verlust aller Papiere und aller Bekannten in einem auf ÜberBürokratie und Nachweise gegründeten Staat: Wird er wieder Person werden? Und hat er dann etwas gelernt? Zumindest für letzteres möchte man, bei all der Nüchternheit des Philip K. Dick, ein klares "Nein" befürchten. Aber lest selbst.
Noch ein letztes Wort: Das Buch steckt auch voller Symbolik. FLOW MY TEARS, THE POLICEMAN SAID (2) lautet sein Originaltitel echt Dicksche Diktion , und dieses zentrale Motiv zieht sich durch die gesamte Geschichte, verklammert durch die Epigraphe der einzelnen Teile, entnommen den Strophen zur Laute "Lachrimae" von John Dowland (ca. 1598) und gesteigert zum Schlußbild des Polizeigenerals Buckman, welcher, selbst Vertreter des totalen Regimes, am Ende seltsam bekehrt und geläutert erscheint, welcher einer Schwarzen umarmt und weint. Also doch Hoffnung? Wer weiß. Ich möchte die Frage nicht beantworten; das soll jeder für sich selbst tun.
Und ein allerletztes: Hier sind Szenen enthalten, die aus der modernen SF, will mir scheinen, langsam verschwinden Gespräche über Liebe und Leben und Tod, über Freude und Schmerz und über den Versuch, etwas anderes zu sein, als man ist. An diesen Stellen wird Dick zum Philosophen; die Texte bedürfen der Handlung nicht, sie lassen sich herauslösen und selbständig durchdenken. Unnötige Einsprengsel, könnte man sagen; ich sage: eine schöne Sache, der SF samt ihrem eigentlich philosophischen Anspruch nahe, näher vielleicht als die überzogene WissenschaftTechnikSchreibe manches HardcoreBuches oder die Brutalität des Gepunkten und Gesplatterten neuester Couleur.
Ein Buch zum WiederLesen; ein Buch zum Wi(e)derDenken.

(1) Traven Taverner: nur eine zufällige Ähnlichkeit? Im Hinblick auf das Motiv des Paß und also Existenzlosen würde ich sagen: Nein. Zumal die Polizei "Taverner" auch noch zu "Tavern" reduziert, was die Ähnlichkeit verstärkt.
(2) Auch hieran zeigt sich "klassische" Kontinuität, freilich betrüblicher Art: der Zug zur vollkommen bezugs oder sinnlosen deutschen Titelgebung. Leider!

Philip K. Dick, Flow My Tears, the Policeman Said, 1974, übersetzt von Walter Brumm, 1977, Heyne SF 06/3528 (1977) u. 06/30 (1984), Nachwort von Uwe Anton (sehr empfehlenswert!), ca. 240 S., DM 6,80 (aber leider auch 1984!)

29. Okt. 2006 - Peter Schünemann
http://www.solar-x.de

Der Rezensent

Peter Schünemann

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