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Gestern noch sahen wir Meerjungfrauen
| GESTERN NOCH SAHEN WIR MEERJUNGFRAUEN
Buch / Belletristik
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Die wahre Geschichte Amerikas
Diesen kleinen Text schrieb Esther Friesner schon 1992, und wie das so geht: Ist eine Autorin erst einmal populär geworden, kramen die Verlage auch ihre älteren und weniger erfolgreichen Publikationen aus der Versenkung hervor, um jetzt damit ordentlich Geld zu scheffeln. Nicht immer ist das ein dankenswertes Vorgehen - in diesem Fall aber schon. Ich habe selten eine ungewöhnlichere Fantasy-Geschichte gelesen.
El dia pasado ... veiamos sirenas notierte 1492 Christoph Columbus in sein Tagebuch; die englische Übersetzung Yesterday we saw mermaids gibt den Titel dieses Buches ab. Meerjungfrauen - oder besser: Meerfrauen und -männer - sieht auch die Besatzung eines vierten Schiffes, das den dreien des Amerika-(Wieder-)Entdeckers vorausfährt. An Bord: drei magisch begabte Frauen, ein Dämon namens Zamiz, sechs Ordensschwestern aus Spanien und ihr Beichtvater. Eine der Schwestern, Ana, zeichnet die Geschichte der Reise auf, zwanzig kurze Kapitel in einem erfrischenden, lebendigen Stil, der den Leser - auch im Punkt schlimmsten Scheiterns - nie ganz die Hoffnung verlieren lässt, alles möge am Ende gut ausgehen; nun, es gibt noch ein einundzwanzigstes Kapitel, viele Jahre später hinzugefügt.
Was treibt eine so seltsame Gesellschaft vor der Flotte des Genuesen her? Leben oder Tod, um nicht weniger geht es. Zwei der Frauen - die Dame Rasha von der Tausend Toren, Braut des Dämons, und ihre Freundin, die Zigeunerin La Zagala - müssen die dritte, nur genannt die kleine Jüdin, unbedingt nach Amerika bringen, ehe Columbus dort eintrifft. Darum retten sie ihren Schützling vom Scheiterhaufen der Inquisition, wobei die Ordensschwestern und der äußerst unsympathische Priester Garcilaso in den Strudel der dazu entfesselten Magie hineingeraten. Nur Ana vermag sich darüber zu freuen: im Kloster die Rangniedrigste, ausgegrenzter Bastard eines Edelmanns, wird sie hier von Zamiz auserkoren, die Chronistin zu sein - und er beschützt sie vor allen Eingriffen in ihre Arbeit. Ana gewinnt auch die Freundschaft Rashas und wird in das Ziel der Reise eingeweiht: Die kleine Jüdin muss in Priester Johanns Königreich gebracht werden, um dort ihr - augenscheinlich jungfräulich empfangenes - Kind zu gebären, einen neuen Erlöser, der diesmal aber nicht zu den Menschen gesandt wird, sondern zu den Geschöpfen der Magie, zu Drachen und Mantikoren, Satyrn und Meerfrauen, Dschinns und Dämonen - die als Gottes Geschöpfe auch eine Seele haben und also den Menschen ebenbürtig sind. Johann hat diese Wesen gesammelt und in die Neue Welt gebracht, wo sie unter seinem Schutz sicher leben können; so büßt er seine Sünde (worin die bestand, erfahren wir aus Esther Friesners Neuerzählung der Weihnachtsgeschichte). Doch sobald der erste Kiel von Columbus Flotte auf den Sand Amerikas läuft, ist Johanns Macht gebrochen, und nur der Sohn der kleinen Jüdin kann die Geschöpfe der Magie noch schützen.
Fantasy, Geschichte und die Existenz Gottes - obwohl mindestens zwei dieser Elemente, oft aber auch alle drei gern als unvereinbar gehandelt werden, bringt Esther Friesner sie in ihrem kleinen Roman zusammen, mit so leichter Feder, als gäbe es nichts Einleuchtenderes. Das Buch ist auch anderweitig beseelt vom Geist der Toleranz. Der Priester Garcilaso, die Nonnen Catalina und Angustias, Anas Vater oder die Vollstrecker der Heiligen Inquisition geben die düsteren Gegenbilder ab zu Priester Johann oder Rasha; selbst der Dämon Zamiz wirkt menschlicher als jene finsteren Gestalten. Wer von beiden Lagern den Sieg davonträgt, entscheidet sich in Anas Figur, die lange schwankt, in den Banden ihrer Erziehung befangen bleibt, wiewohl sie es eigentlich besser weiß. Durch ihre Augen erlebt der Leser ein bewegendes Auf und Ab, Hoffnungen und Niederlagen - und nebenbei erfährt er einiges zur Geschichte Amerikas, was ihm bisher garantiert noch nicht bekannt war. Der Roman verzichtet auf Schwertgefechte und Magierduelle, doch die Kämpfe, die in ihm ausgetragen werden, die Prüfungen, die zu bestehen sind, erscheinen nicht weniger spannend. Hat man sich erst einmal hineingelesen in die Handlung, ahnt man die Hintergründe und Konstellationen - auch Ana muss sich ja erst mühsam darüber klar werden -, dann lässt man das Buch nicht mehr aus der Hand, bis zum (bitteren?) Ende.
Yesterday We Saw Mermaids, © 1992 by Esther Friesner, a. d. amerikanischen Englisch übers. v. Angela Koonen 2002, m. Illustrationen v. Johann Peterka, 200 S. (+ 35 S. Leseprobe aus Druidenblut), _ 6,90, ISBN 3404204352
30. Okt. 2006 - Peter Schünemann
http://www.solar-x.de
Der Rezensent
Peter Schünemann
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