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Unstillbares Verlangen / Unheimliche Ferne

UNSTILLBARES VERLANGEN / UNHEIMLICHE FERNE

Buch / Horror

Tanith Lee: nun auch deutlich bemerkbar im HorrorBusiness. Nicht ungewöhnlich, sondern fast zu erwarten. Die FantasyLady aus England arbeitet ohnehin schon seit eh und je mit dem Unheimlichen, und einer ihrer SFAusflüge führte sie auf Bram Stokers Spuren: "Sabella oder der letzte Vampir" (Bastei 20045, wohl nur noch antiquarisch zu erhalten). In diesem kurzen Roman aus den frühen Achtzigern versuchte sie, das Problem der Blutsauger wissenschaftlich zu erklären: Vampirismus ohne Vampire. Ein routiniert geschriebenes, aber nur durchschnittliches Buch. SF lotet das Thema anscheinend nicht völlig aus; auch wenn ein Autor sich aus dem okkulten Bannkreis des "Dracula" fortbewegen will und die meisten Beigaben (Blutdurst, Knoblauch, fließendes Wasser, kein Spiegelbild etc.) für angedichteten Unsinn erklärt, braucht er eine gehörige Portion Schauerliches meisterhaft gelang das z. B. George R. R. Martin in "Fiebertraum" (vgl. SX 49).
Nun, ein gutes Jahrzehnt nach dem Abstecher, hat Tanith Lee es erneut probiert konsequenter und erfolgreicher. Sie stellt sich mit den beiden Romanen "Dark Dance" und "Personal Darkness" in die Reihe der Frauen, welche den Gothic Novel neu beleben: Anne Rice ("Gespräche mit dem Vampir") oder Barbara Hambly ("Jagd der Vampire") nenne ich hier stellvertretend auch für die Qualität, in der das geschehen kann. Die Ladies übertreiben, splattern und "kingen" nicht, sondern bevorzugen das feine, schleichende, psychologisch motivierte Grauen. Eben echt gothic.
In düsteren Farben malt Lee die Geschichte von Rachaela Smith, einer alleinstehenden jungen Frau in London. Tagsüber Buchhändlerin in einem winzigen Geschäft, führt sie ein zurückgezogenes, unauffälliges, von Angst gegenüber Wechselfällen bestimmtes Leben. Ihre Mutter ist gestorben, ebenso ihre Katze, und den Tod der letzteren bedauert Rachaela entschieden mehr. Janet Smith muß eine furchtbare Mama gewesen sein, die das Mädchen überstreng und mit einer Art Haß erzog. Doch daran liegt es nicht, daß Rachaela sich "Day" nennt, also unter falschem Namen auf dieser Welt wandelt. "Sie hatte ihn gespürt, den schweigenden Verfolger im Nebel" so heißt es gleich auf der dritten Seite, als die junge Frau über ein Anwaltsbüro einen Brief von der Familie ihres längst verschwundenen Vaters erhält und erschrickt. Sie tut im folgenden alles, um den Nachstellungen dieser Scarabae zu entrinnen. Erfolgslos. Die mysteriösen Unbekannten, vor denen ihre Mutter sie eindringlich warnte, sind reich und äußerst mächtig. Rachaela wird entlassen, und der Hausbesitzer kündigt ihr die Wohnung. Ihr bleibt keine andere Wahl, als das Angebot zum Besuch im Haus anzunehmen. Dieses Haus befindet sich in irgendeiner obskuren, mystisch geprägten Gegend am Meer, und was Rachaela nach ihrer Ankunft dort auch immer versuchen wird: Sie kann den Scarabae vielleicht physisch, aber nicht mehr geistig entkommen. Sie trifft ihren Vater Adamus wieder, doch das wird alles andere als eine Freude für sie ... Rachaela ist auch eine Scarabae und wird als solche mit all ihren Handlungen anstandslos akzeptiert: eine jahrhundertelange Geschichte voller Verfolgungen, Verluste und Neuanfänge hat in diesem Geschlecht einen starken Familiensinn erzeugt. Die junge Frau schlägt dennoch aus der Art: die Gene der "normalen" Mutter machen sich bemerkbar. Sie will sich nicht in die Pläne der Scarabae einfügen, doch ihr gelingt keine Gegenwehr. Selbst ein Intermezzo von zwölf Jahren in London sie flieht aus dem Haus, gebiert und erzieht eine Tochter namens Ruth ändert nichts daran, daß die Familie ihr Leben bestimmt.
Zum interessanten Inhalt tritt die unheimliche Atmosphäre. Tanith Lee schafft es einerseits, überhaupt keinen Horror im trivialen Sinne zu produzieren: kein Platz für John Sinclair, ja nicht einmal für Van Helsing. Andererseits aber ist gerade das viel horrender, denn so gibt es keinen erlösenden Knalleffekt und kein Entrinnen. Auch wenn der Leser sehr schnell ahnt, daß die Situation für Rachaela hoffnungslos ist, mindert das die Spannung nicht im geringsten. Die Bösen können nicht bekämpft werden einfach deshalb, weil es keine Bösen gibt, sondern nur uralte, seltsame Menschen innerhalb einer morbiden Behausung oder nein, als morbide empfindet vielleicht Rachaela das Haus, aber ist es das wirklich? Jedenfalls arbeitet Lee großartig mit den Beschreibungen von Personen und Ort allein die verschiedenen Fenster und die Farben der Räume sind exzellent eingesetzt (Anmerkung: Bibelkenntnisse nützen sehr). Man kommt einfach mit den Scarabae nicht klar. Sie erscheinen weder als unsympathische noch als bedrohliche Wesen, aber da die Geschichte ganz aus Rachaelas Blickwinkel erzählt wird, kann man sie auch nicht für harmlos halten; doch sind sie keine Vampire Marke Dracula, und selbst das Problem des Bluttrinkens wird nicht endgültig geklärt. In jedem Falle bleiben sie rätselhaft, auch wenn sich einige ihrer Pläne auf geradezu brutale Art und Weise enthüllen.
Gut getroffen finde ich auch den weiblichen Blickwinkel, bei dem Lee mit AntiHollywoodWirkungen arbeitet. Als Rachaela sich schwanger weiß, will sie abtreiben lassen und findet zuerst keinen Arzt, der sich dazu bereit erklärt. Das Gespräch mit einem, den sie aufsucht, ist ganz und gar darauf angelegt, den Kopf über diesen Mann und seine Ideen zu schütteln. Später entdeckt Rachaela einen Kurpfuscher, doch die Atmosphäre in dessen Wartezimmer bedrückt sie, und sie geht fort. Kein Gedanke an das Kind es ist ihre Angst vor dem Leben an sich, die sie wegtreibt. So kommt Ruth zur Welt: ungewollt, gehaßt. Und nun beginnt nicht Friedefreudeeierkuchen wie im Film hach, das süße Baby, an der Mutter Brust wird alles wieder gut. Nein, Rachaela haßt ihre Tochter weiter, empfindet sie als aufgezwungene Störung. Später "mildert" sich das dann zur Gleichgültigkeit aber gäbe es nicht Emma, eine Freundin, die Ruth quasi großzieht, tja ... Als Ruth Fieber hat, will Rachaela sie sogar sterben lassen, was nur durch Emma verhindert wird. Die Autorin macht hier dem Klischee keinerlei Zugeständnisse: Sie, seit je eine leidenschaftliche Frau, versucht uns eine Ahnung davon zu vermitteln, welche Seelenkämpfe eine Mutter austragen muß, die gar nicht Mutter sein will.
Tanith Lee gerät aber auch nicht in den Bann eines radikalen Feminismus (vgl. die Rezi zu "Tage des Grases" in SX 57). Sie läßt ihre Heldin zwar eine Weile in einem FrauenBuchladen arbeiten, doch zu dessen emanzipierter Leiterin Jonquil in keinerlei engere Beziehung geraten. Jonquil hat ihre eigene falsche Meinung über Rachaela, und diese tut nichts, sie zu berichtigen. Sie bleibt konsequent zurückgezogen und am liebsten einsam, eine Frau, die niemals eine gute Mutter werden wird. Sie versucht nicht einmal, Ruth zu erziehen sie kümmert sich fast nicht um ihre Tochter. Als die Scarabae allerdings die Hand nach dieser ausstrecken, handelt sie aber nicht aus Liebe zu Ruth, sondern aus Abneigung gegen die Familie, die sie nun beide in ihren Bann schlagen will. Das Finale jedoch gleitet allen aus den Händen ...
Der zweite Band, "Personal Darkness", knüpft unmittelbar an den ersten an. Da es nun zwei Hauptheldinnen gibt, erzählt die Autorin etwas anders die kurz gehaltenen Kapitel wechseln zwischen einer RachaelaHandlung und einer anderen (meist mit Ruth verbundenen) hin und her. Die Mutter kommt von den Scarabae nicht los, während die Tochter ein mordender Dämon geworden ist, der allein durchs Land streift. Jetzt "kingt" es gelegentlich doch. Die düstere Atmosphäre aus dem ersten Buch weicht einer immer noch distanzierten, aber auch differenzierten Sicht das liegt daran, daß Rachaela mehr und mehr akzeptiert, eine Scarabae zu sein, und also einiges anders sieht. Die mit ihr verknüpften Handlungsteile spinnen den psychologischen Faden fort, während die Geschichten um Ruth reicher an Action sind. Die Familie hat das Kind bekommen, das sie wollte, doch sie vermag es nicht zu bändigen. Da keiner Ruth Paroli bieten kann, erscheint Malach: ein dunkler Engel aus einem anderen ScarabaeZweig, ein Krieger mit weißen Haaren, der von sich sagt, die Pyramiden gesehen zu haben und er meint das nicht im touristischen Sinne. Von ihm stammt auch der Satz: "Wir umgeben uns mit unserer persönlichen Dunkelheit, um uns vor der Sonne zu schützen", dem der Titel des Buches entnommen ist. Auf der Suche nach Ruth und später, bei ihrer Erziehung durchstreift Malach London. Ihm ist nichts und niemand gewachsen. Nicht der ehemaligen Soldat, der ihn wegen seiner langen Haare anpöbelt, nicht die feinen Herren, die in der UBahn einen illegalen Hundekampf austragen (Malach liebt Hunde), nicht die Entführer des Mädchens. Malach ist nicht gut und nicht böse er ist einfach er selbst, kein Mörder, aber ein Kämpfer. Er tötet, aber er schenkt auch einem kleinen Kind Spielzeug, als es danach weint. Er ist grausam, und doch befreit er auf Ruths Bitten eine Ehefrau von ihrem abscheulichen Mann, der sie schlägt.
Auch hier werden wieder Frauenprobleme wie das eben erwähnte angesprochen. Effektvoll gestaltet Lee die Szene, als Rachaela und ihre Freundin Althene (eine Scarabae, die zusammen mit Malach angekommen ist) bei Nacht durch London gehen und von fünf Jugendlichen gestellt werden, die sie vergewaltigen wollen. Was daraufhin folgt, ist allerdings kein Vampirismus, sondern eine Art Handlungsrezept für jede Frau, die nachts allein draußen ist ...
Der zweite Roman ist ebenfalls durchweg spannend geschrieben und bietet eine Vielzahl von Typen; er bereichert nicht nur das FamilienEnsemble, sondern bezieht die "normalen" Leute der Außenwelt stärker mit ein. Die Bibliothekarin und Geliebte, der Bauingenieur und Liebhaber, der Gangsterboß, die Durchschnittsfamilie, die gelangweilten jungen Eheleute, die Rocker sie alle und noch mehr tauchen auf. Wie gut dies dem Gesamtkonzept bekommt, merkt man dann, wenn man wie ich beide Romane in einem Zug gelesen hat; auf die Dauer würde die exzellent getroffene morbide Atmosphäre des ersten nämlich strapaziös werden. Die geschickte Erzählerin Lee setzt das zweite Buch also aus verschiedenartigen Facetten zusammen und garniert es mit ein wenig Mord und Totschlag ein sehr gutes Rezept. Hinzu kommt ein ebenso interessanter wie unerwarteter wie passender Schluß.
Mit dem Rachaelas Geschichte freilich nicht beendet ist. Für die Hauptheldin das bleibt sie unumstritten beginnt mit dem Auftauchen der wunderschönen und im doppelten Wortsinn reizvollen Althene ein ganz neues Kapitel, das sie abermals enger an die Familie binden wird obwohl sie sich räumlich wieder von dieser trennt. Fortsetzungen sind programmiert. Ich freue mich schon darauf.
Abschließend zwei Worte zu weniger Erfreulichem. Zum einen trifft die Übersetzung der Titel ganz und gar daneben. "Dunkler Tanz" und "Persönliche Dunkelheit" (oder meinetwegen auch "Das eigene Dunkel") warum nicht? Warum statt dessen das verkitschte "Unstillbares Verlangen" und das in bezug auf den Inhalt völlig sinnlose "Unheimliche Ferne"? Hinzu kommt, daß sich auf dem Titelbild des ersten Buches ein nur schlecht verhülltes Lolitachen zwischen Blumen rekelt. Das alles schaut aus wie ein unsäglicher Liebesroman von Barbara Cartland oder ein Softporno. Und auch das schwülstigromantische Cover des zweiten Bandes (verhangener Mond, Bläue, Druidensteine) hat absolut nichts mit dem Text zu tun. Mark Harrison und Michael Whelan kannten die Romane also nicht, oder wahrscheinlich trifft sie gar keine Schuld; irgendein Lektor wird sich gedacht haben, daß diese Bilder sich wohl positiv auf den Verkauf auswirken würden. Na ja.
Lobenswert ist allerdings der BasteiPreis von je DM 9,90. Nichts gegen Heyne, aber da müßte man pro Buch wohl vier bis fünf Mark mehr bezahlen.

Also, Freunde stilvollen Horrors: vom Cover nicht abschrecken lassen kaufen!


Tanith Lee, Dark Dance, 1992, übersetzt von Adelheid Hartmann 1993, ca. 380 S. , DM 9,90
Personal Darkness, 1993, übersetzt von Adelheid Hartmann 1994, ca. 405 S., DM 9,90.

01. Nov. 2006 - Peter Schünemann

Der Rezensent

Peter Schünemann

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