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Chaga oder Das Ufer der Evolution

CHAGA ODER DAS UFER DER EVOLUTION

Buch / Science-Fiction

Tja, da habe ich sie nun also hinter mir, diese 648 ReziExeSeiten im heyneschen Pseudo-Hardcover-Gewand. Sogar ziemlich schnell, alles in allem auf zwei Zugfahrten á fünf Stunden: Es "las sich weg", ja. Und doch weiß ich nicht, ob ich "Chaga" wirklich weiterempfehlen soll .
Der Hauptgrund dafür läßt sich in Fragen formulieren: Handelt es sich hier überhaupt um einen SF-Roman? Reicht es aus, eine "Infiltration" des Sonnensystems und der Erde durch außerirdisches Leben in eine Handlung hineinzuschreiben, um einem Werk dieses Etikett verleihen zu können?
Sicherlich sollte man hierauf erst einmal mit einem "Ja" antworten, jedoch sogleich ein "aber" anfügen: aber nicht, wenn die Handlung auch ohne dieses außerirdische Leben funktionieren würde.
Und eben darum bin ich mir nicht sicher, ob ich "Chaga" weiterempfehlen soll. Oder anders herum: Ich würde es bedenkenlos all denjenigen Lesern ans Herz legen, die interessiert sind an einem gut und spannend geschriebenen Roman über Arbeit sowie Gefühls und Sexualleben einer Journalistin kurz nach der Jahrtausendwende, über die zwielichtige Rolle der UNO bei der Bewältigung von Katastrophen, über das Leben in Afrika aus Sicht einer Weißen und über eine komplizierte Zweierbeziehung. Falls diese Leser noch philosophische Einlagen zu schätzen wissen und darüber hinaus nicht prüde sind, sondern es mögen, wenn offen und deutlich (allerdings nicht pornographisch) über Sexuelles geredet wird, dann ... ja, dann wäre "Chaga" genau das richtige Buch für sie! Als Draufgabe hat Ian McDonald noch einen Hang zum anekdotischen Darstellen zu bieten, so daß es in diesem Roman viele "hübsche kleine Geschichtchen" gibt, die auch schon mal schmunzeln lassen; daneben finden sich andererseits auch ernste Passagen nahezu, ich sagte es schon, philosophischer Prägung. Soweit, so gut.
Aber "Chaga" ist ein NahFiktionsRoman, und derlei Texte bergen immer die Gefahr in sich, das eigentliche SFElement also gemeinhin das, um dessen willen der SFLeser ein Buch liest zu kurz kommen zu lassen, es eher nebenbei zu behandeln, ihm keinen entscheidenden Platz im Bau der Handlung einzuräumen. Eben dies, meine ich, gilt auch für "Chaga". Ein kurzer Blick auf das Geschehen möge das verdeutlichen:
Gaby McAslan, Irin, Tochter eines Leuchtturmwärters mit ausgeprägten astronomischen Neigungen, entschließt sich, Journalistik zu studieren am Abend, an dem sie diese Entscheidung trifft, verschwindet der Saturnmond Hyperion vom Himmel, und das katalysiert ihren Entschluß, bei großen Ereignissen nicht nur Zuschauerin zu sein. Sie arbeitet nach abgeschlossenem Studium als OnlineJournalistin für SkyNet, eine große Informationsfirma. Und obwohl es erst einmal einen Karriereknick bedeutet, geht sie nach Kenia, um dem Chaga nahe zu sein, einem Gebiet außerirdischen Lebens auf der Erde, das vor fünf Jahren mit dem Fall eines biologischen "Packens" auf den Kilimandscharo entstand und sich seitdem Tag für Tag fünfzig Meter in allen Richtungen ausdehnt, ohne sich von den Menschen in irgendeiner Weise bekämpfen zu lassen. Aber es ist ihnen offenbar wohlgesinnt, denn man kann im Chaga existieren, und es stellt alles zum Leben Notwendige überreichlich zur Verfügung, einschließlich einer UniversalArznei gegen sämtliche Krankheiten. Alles wird biologisch produziert und noch dazu umsonst, so daß wir ahnen: Hier werden die Probleme der Menschheit mit einem Schlag gelöst. Weitere "Packen" sind übrigens in anderen Gebieten der Welt gelandet, und eines Tages manifestiert sich an Stelle Hyperions ein riesiges Objekt, welches sich unaufhaltsam der Erde nähert. Der Roman endet, als es nur noch Tage von ihr entfernt ist.
Gut das liest sich alles wie ein echter SFRoman. Und dennoch ... Im Prinzip funktioniert die Handlung, welche ganz und gar an die Hauptfigur gebunden wird, auch ohne diese Elemente. Es wird eben kein "Ufer der Evolution" erreicht, wie es der Titel verspricht, sondern wir erhalten nur eine Reihe Teile zu einem Puzzle namens "Wie der Mensch einmal sein könnte". Große Teile dieses Puzzles allerdings fehlen. Ich hatte den Eindruck, daß der Autor selbst nicht mehr weiter wußte und darum diesen Teil der Geschichte in der Schwebe ließ, um sich stärker auf die für ihn wichtigere Handlung um Gaby zu konzentrieren.
Denn worum geht es im wesentlichen? Um eine junge Frau, Journalistin aus Leidenschaft, aber auch entschlossen, Karriere zu machen. Um ihre Arbeit bei SkyNet. Um ihre Liebe. Um ihr Engagement als Enthüllungsjournalistin. Um die nicht ganz sauber agierende UNO, welche eine Katastrophe in Afrika irgendwie "in den Griff kriegen" muß. Um Politik also, die nicht immer mit legalen oder moralisch tadelsfreien Mitteln gemacht wird. Um afrikanische Zustände geht es, um organisiertes Verbrechen und schließlich um den großen Zusammenbruch eines Landes. Das alles, bitte schön, läßt sich problemlos auch ohne jede Science Fiction erzählen; und die eigentlich wichtigen Stellen der Handlung, die spannenden auch, sind alle durchweg dieser Kategorie entnommen. Selbst Gabys Neigung zum Chaga hat nichts zu tun mit einer übersinnlichen Beziehung zu diesem Objekt, sondern entspringt dem Riecher der geborenen Journalistin für schlagzeilenträchtige Themen, den sie ständig unter Beweis stellt: Gaby deckt Verbrechen und Korruption unter den Besatzungstruppen auf, Gaby findet ein geheimgehaltenes UNOObjekt (Block Zwölf), in dem Menschen gefangen sind, Gaby recherchiert über die Interessen der Wirtschaft, welche die UNPolitik beeinflussen. So gesehen, liegt uns mit "Chaga" eher ein Politthriller vor. Und wäge ich zwischen den beiden Anteilen ab, dann muß ich sagen: Ohne die SF funktioniert das Buch auch, ohne den Politthriller wäre es gar nicht erst entstanden. Statt des Chaga könnte es auch eine Gruppe von Menschen geben, die beschlossen haben, ein neues Leben mit neuen Strukturen zu beginnen, und die ihre Ideen systematisch verbreiten. Die in Block Zwölf eingesperrten Mutanten könnten ebensogut Agitatoren dieser neuen Gesellschaft sein. Und statt des Objektes, welches die Erde anfliegt, ließe sich beispielsweise ein drohender Krieg denken das alles würde an Gabys Handlungsweisen und an der aller anderen Personen vermutlich nichts ändern, anders wären nur bestimmte Worte. Hierin liegt die Schwäche dieses Romans, welcher ansonsten, ich wiederhole es, sehr gut und über weite Strecken auch spannend geschrieben ist, desgleichen über lebendig geschilderte Charaktere verfügt und so weiter. Nur braucht er eben die SF nicht, um sein Wesen zu definieren
und ist er damit noch ein SFRoman?
Lest und entscheidet selbst.

Chaga (Titel der englischen Originalausgabe; Titel der amerikanischen: Evolutions' Shore), © 1995 by Ian McDonald, übers. v., Irene Bonhorst 1997, 648 S., DM 19,90

02. Nov. 2006 - Peter Schünemann

Der Rezensent

Peter Schünemann

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