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Flucht ins Feenland

FLUCHT INS FEENLAND

Buch / Fantasy

Zuerst eine wahre Geschichte: Gestern fuhr ich Straßenbahn und las dabei dieses Buch. Als ich nach einer Viertelstunde ausstieg, sprach mich eine Frau an und fragte nach Autor und Titel. Sie lese auch sehr gern, sagte sie, und habe ein paar Seiten mitgelesen. - Also, wenn das keine Empfehlung für „Flucht ins Feenland” ist ...
Und ich kann noch eine nachlegen: Ich teile die Sympathie der Unbekannten für den Roman, den Hope Mirrlees (1887 - 1978) 1926 veröffentlichte. Eigentlich sollte allein dieses Buch (ihr einziges Fantasy-Werk) genügt haben, um sie vor dem Vergessen-Werden zu bewahren. Aber genau dieses Schicksal ereilte sie, trotz dreier Romane, trotz eines hervorragenden Poems, vieler Geschichten und Rezensionen und einiger Berühmtheit in den 20-ern. Es scheint, als habe sie keinen sonderlichen Wert auf Erfolg gelegt. Auch ihren Lebensunterhalt musste sie nicht durch Schreiben verdienen, denn sie stammte aus begütertem englischem Hause. Hätte sie gewollt, hätte sie eine literarische Größe werden können; dafür spricht nicht nur ihr Talent, sondern auch ihre Bekanntschaft oder Freundschaft mit Geistesgrößen und literarischen Genies der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, u. a. Virginia Woolf, T. S. Eliot, A. N. Whitehead, Gertrude Stein, Bertrand Russell etc. Sie gehörte zum „Bloomsbury-Kreis” um Woolf (lt. Michael Swanwick „die prestigeträchtigste literarische Gesellschaft des 20. Jahrhunderts”) und veröffentlichte in Woolfs Hogarth-Press u. a. oben erwähntes Poem „Paris”, das großes Aufsehen erregte. Auch im vorliegenden Roman zeigt sich das große poetische Talent der Autorin, vor allem in den Natur- und Gemütsschilderungen.
„Flucht ins Feenland” offenbart aber noch mehr, zum Beispiel Spaß am Erzählen von Geschichten und ein großes Vermögen zur subtilen Satire. Der Roman kommt so leichtfüßig und neckend daher, als wäre er selbst eine Fee. Schauplätze des Geschehens sind die Stadt Lud-in-den-Nebeln und das Land Dorimare, angesiedelt in einer nicht näher bestimmten Welt, die aber auch die Zimtinseln kennt, einen Ort irdischer Seefahrergeschichten. Nehmen wir also an, Lud liegt „irgendwo da draußen”; zugleich zeigen seine gut situierten Bürger und seine Geschichte eine verdächtige Ähnlichkeit mit Engländern und englischer Historie. Die reichen Kaufleute haben nämlich vor 200 Jahren den letzten Monarchen, Herzog Aubrey, gestürzt und eine Republik errichtet, in der es streng verboten ist, vom Feenland zu sprechen, das gleich nebenan liegt, in das der Herzog (vielleicht) geflohen ist und aus dem verbotene Feenfrüchte geschmuggelt werden, die den Bürgern so verhasst sind, dass sie nicht einmal im Gesetz existieren: Um die Schmuggler zu bestrafen, werden die Früchte per juristischer Fiktion zu Seide umdefiniert. (Allein was Mirrlees über das Gesetz als eine Illusion schreibt, ist äußerst lesenswert.)
Bürgermeister von Lud und damit Großseneschall des Staates ist Meister Nathan Hahnenkamm (die Namen sind ein weiteres Plus), ein ehrbarer und erfolgreicher Mann. Sein Sohn Ranulph beginnt eines Tages Züge absonderlichen Verhaltens zu entwickeln, und schnell steht fest, dass er Feenfrüchte gegessen haben muss, denn die regen die Phantasie auf „ungebührliche” Weise an und machen den Genießer zugleich abhängig. Doch der hinzugezogene Doktor Endymion Lear beruhigt Meister Nathan: Der Junge bilde sich nur ein, dergleichen gegessen zu haben. Er empfiehlt eine Kur auf dem Bauernhof einer gewissen Witwe Schnadderatsch, die wiederum - wie Hahnenkamm später erfährt - wegen Gattenmordes vor Gericht stand, aber freigesprochen wurde ... Damit haben wir wichtige Hauptfiguren vorgestellt und zugleich angedeutet, dass es im Roman weder langweilig noch harmlos zugeht. Denn Meister Nathan gerät schnell in Ereignisse hinein, die nicht nur seine Familie und sein geordnetes Leben, sondern auch seinen Staat gefährden.
Hope Mirrlees sieht sehr genau die Schwächen der Lebensweise des gut situierten Bürgertums, ihrer eigenen Klasse, die nach Erfolg, Besitz und Sicherheit strebt, und ironisiert leise eine solche Lebensart. Auch bemerkt sie sehr wohl die Spannungen zwischen den Klassen, denn die Arbeiter, Seeleute, Tagelöhner, kurz: die Bewohner der ärmeren Viertel - stehen deutlich in Opposition zu den Ratsherren, die in ihrer eigenen abgehobenen Welt leben. Andererseits verteufelt sie weder die Ober- noch die Unterschicht und gibt dem Buch kraft der Phantasie und der Feenfrüchte einen versöhnlichen Ausklang. Dass dabei der verschwundene Herzog Aubrey eine wichtige Rolle spielt, kann als Aufruf zur Wiederherstellung der Monarchie gedeutet werden (doch auch Aubrey und seine Helfer bekommen ihren Teil an Ironie ab). Wenn man aber alle Deutungsvarianten ausblendet und einfach liest, entdeckt man eine wunderhübsche Geschichte, die genügend Spannung hat, um einen zu halten. Wem das nicht genügt, der kann Fragen stellen, zum Beispiel nach seinem eigenen Lebensstil; die Typen und Lebensarten, die Mirrlees so gekonnt aufspießt, sind ja nicht verschwunden, so dass dieses Buch sehr aktuell wirkt.
Abgerundet wird die Edition durch ein kurzes Vorwort Neil Gaimans (wem diese Rezi nicht reicht, der lese es, es informiert ausgezeichnet) und durch einen 70-seitigen biographischen Essay Michael Swanwicks, der nicht nur Lebensdaten anführt und Werke analysiert, sondern anhand gründlicher und schwieriger Recherchen eine Autorin in unsere Wahrnehmung zurückruft, aus den Nebeln des Vergessens, in denen sie zu Unrecht verschwunden ist.

Lud-in-the-Mist, © 1926 by Hope Mirrlees, übersetzt von Hannes Riffel 2003 (Hardcover), 407 Seiten, € 19,90, ISBN 3492700195

05. Nov. 2006 - Peter Schünemann

Der Rezensent

Peter Schünemann

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