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Als Wilhelm kam
| ALS WILHELM KAM
Buch / Science-Fiction
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"Wir unterhalten immer noch ein Parlament, doch es ist ein beschnittener und abgewirtschafteter Abklatsch dessen, was es einmal war, fast aller seiner Funktionen beraubt. Als die Wahlen anstanden, hatte man Mühe, brauchbare Kandidaten zu überreden, sich aufstellen zu lassen, und die Leute zu bewegen, an die Wahlurnen zu gehen. Es entlockt einem ein bitteres Lächeln, wenn man bedenkt, daß wir noch vor einem oder zwei Jahren darüber palavert haben, wem das Wahlrecht zugestanden werden sollte. Und natürlich sind auch die alten Parteien mehr oder weniger zerbröselt."
Nein, das ist kein Kommentar zur Bundestagswahl 1998, obwohl mir scheint, daß diese Zeilen die gesamtdeutschen Zustände recht gut treffen. Doch das Zitat entstammt Sakis (eigentlich: Hector Hugh Munros) Alternativweltroman "When Wilhelm Came A Story of London under the Hohenzollerns". Dieses Buch wurde schon 1914 geschrieben und liest sich dennoch so aktuell, als sei es gerade erst entstanden ("When Helmut Came ... "). Das sichere, abgeschottete und so stabil wirkende Großbritannien von den Deutschen in einem Blitzkrieg überrannt. Die deutsche Flagge über dem Buckingham Palace. Alle Namen und Verordnungen zweisprachig (wie genau der Autor die Deutschen kennt, beweist, daß er in den bisher beliebig durchstreifbaren Parks Schilder mit der Aufschrift "Es ist verboten, den Rasen zu betreten" in Englisch und Deutsch warnen läßt; und Schutzleute kassieren Ordnungsgebühren. Der King residiert in Delhi. Tausende sind ihm in die Emigration gefolgt, doch Abertausende haben sich unter der neuen Ordnung eingerichtet, und viele Angehörige der Oberschicht recht behaglich... Das stößt Murren Yeovil, der von einer Rußlandreise mitten in das Debakel zurückkehrt, zuerst gewaltig ab, zumal der Feind in Person seiner Frau Cicely im eigenen Hause steht. Empfänge, Varietebesuche, Parties und Klatsch, als sei nichts geschehen. Nur die deutschen Gäste sind neu. Das Fait accompli (zentraler Romanbegriff, zu deutsch: vollendete Tatsache) zeigt seine Auswirkungen. Man findet sich nicht nur ab man arrangiert sich, macht das Beste aus dem Umschwung, lebt und läßt leben. Life goes on. Business as usual. Und auch Yeovil, der müde Empörer, ist kein Held, den der Leser vielleicht erwartet. Nein. In Oliver Langes "Vandenberg oder Als die Russen Amerika besetzten" beginnt wenigstens ein kleiner Partisanenkampf gegen die Eroberer. Nichts davon hier. Man sinkt dem Feind in die Arme und genießt. Obwohl Yeovil bitter bemerkt: "Es ist ein Unterschied, ob man sich mit der neuen Musik abfindet oder ob man danach tanzt", begräbt auch er das Kriegsbeil und findet sich erst einmal ab. Patriotismus gedeiht nur noch fern der Heimat, in Indien (in einem völlig von der Haupthandlung getrennten Kapitel, das eine eigene Kurzgeschichte sein könnte, gestaltet Saki auch dies in unpathetischer, doch eindringlicher Weise).
Der Autor, bekannt als Shortstorywriter und glänzender Beobachter der britischen High Society, bringt spritzigen Stil und Scharfblick auch in diesen Roman ein. Die Alternativwelt gibt nur den (eher unaufdringlich, beiläufig erwähnten) Hintergrund für sein zentrales Thema ab: Wie verhalten sich Menschen in einer neuen, ungewöhnlichen Lage, nämlich unter dem Zepter eines Usurpators? Eine Frage, die auch den Deutschen viel zu denken aufgibt, wenngleich sie in diesem Geschichtsverlauf einmal selbst die Usurpatoren und nicht die von ausländischen oder eigenen Diktatoren Unterworfenen sind. Für die Engländer (sollte man sagen: für die sogenannten zivilisierten Abendländer?) kommt Saki jedenfalls zu einem vernichtenden Ergebnis. Entschuldigung finden allenfalls die unteren, finanziell benachteiligten Klassen, welche in "Industriekämpfen" um ihr Überleben ringen: "Frauen und Kinder, dachte Yeovil, ..., ja, das ist ein Teil des Problems. Die Kinder müssen ernährt und in die Schule geschickt werden, die Frauen müssen versorgt werden, vielleicht eine alte Mutter in einem Zuhause, das man ihr nicht wegnehmen darf. Der alte Fall von Geiselnahme mit Erpressung." Soziale Differenzierung gehört zur genauen Beobachtung, und darin war der Autor wohl ein Meister, wie dieses Buch verrät. Aber die anderen, die Buckeln und Dienern eigentlich nicht nötig hätten, die werden schonungslos angeprangert mit ihren Sorgen um Debüts, Theater, Liebschaften, Jagdpferde und andere "wichtige" Dinge. Man glaubt, Bekannten zu begegnen, wenn man sie erlebt, diese Meistertänzer. Die Rasse gedeiht auch in Wiedervereinigungsdeutschland nicht schlecht.
"Die Menschen jener Welt, von der ich spreche, unserer zur Zeit vorherrschenden Welt, die zu einer höchstmöglichen Dichte pro Quadratzentimeter zusammengepfercht sind, die nichts tun, was wert ist, getan zu werden, aber sie tun und sagen es immer und immer wieder, hören sich alle die gleichen Schlager an, schauen sich alle die gleichen Shows an, plappern alle die gleichen Modewörter nach, essen alle das gleiche in den Restaurants, ertragen gegenseitig ihren Zigarettenqualm, ihre Duftwässer und ihre Konversation und sind ständig fieberhaft damit beschäftigt, sich aufs neue miteinander zu verabreden, für morgen, nächste oder die übernächste Woche, damit das Getümmel der Herde wieder von vorn beginnt." Auch das stammt aus Sakis Feder, auch das paßt heute ebenso, wie es wohl damals paßte. Die schleichende "schöne neue Welt", die ohne Klons und Umbrüche kommt, die einfach da ist, alltäglich, gewohnt. Man rebelliert nicht gegen sie, man ist ja mit ihr vertraut. Und nichts vermag einen mehr aus dem Trott zu reißen. Deshalb, um der Eindringlichkeit seiner Botschaft willen, läßt der Autor keinen Helden unter seinen Hauptfiguren zu, keinen, der sich den Invasoren entgegenwirft. Daß Vertrauen in andere menschliche Werte und Zuversicht am Ende nicht ganz fehlen, erscheint vor dem Hintergrund des bis zum Finale Geschriebenen beinahe wie eine schöne Utopie. Für Deutschland auf jeden Fall. Die hoffnungslos dem "Weißen Manne" unterlegenen Indianer gaben nicht auf, kämpften bis zuletzt um ihre Heimat, ihre Freiheit und ihre Würde. Nun, sie waren auch nicht "zivilisiert". Bequeme Philosophie und Sophistik hatten in ihre Hirne wohl noch keinen Einzug gehalten.
Ein lesens und preiswertes Buch (nur DM 8,80), das der HeyneVerlag hier herausgebracht hat. Interessant auch das vorzügliche Nachwort von Karl Michael Armer, das nicht nur über Saki, sondern auch über das Subgenre "Alternativweltroman" informiert und in Fußnoten viele Tips zum Weiterlesen bereithält. Science-Fiction ohne die Grenzen, die sie sich mitunter selbst (viel zu eng) zieht.
10. Nov. 2006 - Peter Schünemann
Der Rezensent
Peter Schünemann
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