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Frontera
| FRONTERA
Buch / Cyberpunk
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Daß die deutsche Ausgabe von "Frontera" erst 1991 erschien, mag falsche Vorstellungen wecken. Shiner veröffentlichte den Roman bereits 1984, also im gleichen Jahr, in dem William Gibson seinen berühmten "Neuromancer" herausbrachte. Ich merke das so ausdrücklich hier an, weil ich nicht wie Rainer Schorms Professor L. in "ALIEN CONTACT 11"1 der Meinung bin, daß alles, was nach Cyberpunk aussieht, letzten Endes in der Nachfolge von diesem Buch Gibsons geschrieben und unter seinen Maßstäben zu betrachten ist. Gardner Dozois, den Professor L. zitiert2, mag gesagt haben, was er will ich glaube nicht, daß man eine ernsthafte Analyse auf einem solchen Bonmot aufbauen kann. Auch Gibson schuf "Neuromancer" nicht einfach so; er schrieb sich schon früher an das Thema heran, genau wie andere Autoren auch. Sein Roman nimmt in der Bewegung der "Cyberpunker" (wenn es so etwas überhaupt gibt) freilich eine herausragende Stellung ein alles an ihm zu messen heißt jedoch, das Recht auf Vielfalt einzuengen, und trägt meines Erachtens nach nicht zur Ergründung des umstrittenen Phänomens der "postmodernen SF der achtziger Jahre" bei. Michael Nagula leistet mit seinem hervorragenden Nachwort zu "Spiegelschatten"3 eine wesentlich gründlichere und differenzierende Arbeit, da er die einzelnen Entwicklungslinien genau betrachtet und den Autoren besser gerecht wird als der Schormsche Professor, welcher nur "nicht so gut wie 'Neuromancer'", "Plagiat von 'Neuromancer'" und so weiter zu werten imstande ist.
"Frontera" enthält bereits wesentliche Elemente dessen, was später "Cyberpunk" genannt wurde. Für besonders wichtig erachte ich hier die Darstellung der gesellschaftlichen Entwicklung, welche nicht einfach nur in den Roman hineinmontiert ist, sondern seinen Hintergrund bildet, ohne den sich die Handlung nicht entfalten kann. Shiner entwirft ein Bild des Zusammenbruchs der (zahlungs)unfähigen nationalen Regierungen; das Machtvakuum danach füllten die großen Konzerne aus, welche einzig noch genug Mittel hatten, um die Gesellschaft funktionsfähig zu erhalten, freilich immer mit knallharter Kalkulation. Doch wenigstens haben fünfzig Prozent der Menschen in den ehemaligen USA Arbeit, der Rest erhält genug Mittel, um seine Existenz zu sichern. Ähnliche Prozesse fanden in den anderen großen Staaten statt; in Rußland zum Beispiel bildeten die stärksten Gewerkschaften zusammen mit Aeroflot und anderen Firmen einen gigantischen Trust, welcher unter dem Logo der Aeroflot regiert.
Pulsystems, die dominierende Kraft in den USA (mit viel japanischer Unterstützung), sendet eine Expedition zur ehemaligen Marskolonie Frontera aus, welcher Kane, der Neffe des Konzernchefs Morgan, der japanische Vize Takahashi, die Ärztin Lena und der ehemalige Marsastronaut Reese angehören. Angeblich sollen sie nur in den Trümmern herumstöbern, doch Morgan, Takahashi und auch Reese wissen, daß Frontera nach wie vor bewohnt wird. Die überlebenden Russen aus Marsgrad fanden dort ebenfalls Aufnahme. Aber noch mehr ist bekannt. Auf dem Mars wurden unter dem Einfluß harter Strahlung einige Kinder mit bemerkenswerten Fähigkeiten geboren, die, geschart um die geniale zwölfjährige Physikerin Verb, eine einmalige Erfindung gemacht haben. Verb ist Reeses Enkelin, Tochter seiner unehelichen Tochter Molly und von Curtis, dem hart regierenden Gouverneur der Siedlung.
Ein gnadenloser Wettlauf um die begehrte Entdeckung beginnt. Aeroflot schickt ebenfalls eine Crew, noch dazu besser ausgerüstet und trainiert als die von Pulsystems. Curtis wiederum hat seine eigenen Absichten in bezug auf die Ausbeutung des Materietransmitters, der nicht nur ungeheure Energiemengen praktisch zum Nulltarif bereitstellen, sondern auch völlig neue Wege ins All öffnen kann; und nur um letztere geht es Reese. Kane wiederum wurde nach einer schweren Kopfverletzung ein Implantat eingepflanzt, mit Hilfe dessen sein Onkel Morgan ihn darauf programmiert hat, Curtis zu töten. Takahashi, der darum weiß, verfolgt dennoch eigene Ziele. Molly möchte die alten Träume von der Terraformung des Mars nicht begraben, und die russische Oberste Majakenska will die Erfindung für rodina Rußland sichern.
Shiner versteht es glaubhaft, jeden der Charaktere zu zeichnen und ins Spiel zu bringen. Es gibt hier keine Front zwischen Gut und Böse, es gibt bestenfalls Zweckbündnisse der verschiedenen Protagonisten. Reese läßt sich von Verb durch den Transmitter zu einem eventuell bewohnbaren Planeten von Barnards Stern schicken und scheidet noch vor dem Endkampf aus; er hat die Nase voll von den Intrigen und Machtproben, möchte nur noch seinen persönlichen Traum verwirklichen, selbst um den Preis der Lebensgefahr. Aber das löst nichts, denn Curtis sichert sich die Erfindung und droht nun den Russen, die Frontera mittels Laser beschießen können, seinerseits damit, einen Antimateriebehälter auf den Roten Platz zu verfrachten... Als ihre rodina derart in Bedrängnis gerät und die Verantwortlichen von Aeroflot keine Vernunft annehmen, ändert auch Majakenska, deren Heimatverbundenheit Shiner sehr plausibel ins Bild setzt, ihr Spiel. Bis zum Schluß bleibt alles offen; jeder der Protagonisten vermag plötzlich eine unerwartete Handlung zu begehen, ein Zeichen für kluge Charakteranlage. Auch Takahashi, in dem der Leser den klischeehaften Finsterling vermuten könnte, erweist sich schließlich nicht als das, was er scheint...
Spielerisch untersucht Shiner die Frage, was die Menschheit denn noch aus dem Desaster herausbringen kann. Er kommt einzig auf das wohlverstandene Eigeninteresse; doch immerhin, das kann man akzeptieren, das ist keine Utopie, verhindert jedoch möglicherweise den totalen Crash. Etwas Ähnliches setzten Sterling und Gibson ebenfalls am Beispiel des Mars 1983 in ihrer Erzählung "Roter Stern, Winterorbit"4 literarisch um. Die schwermütige, illusionslose Stimmung in "Frontera" kommt der in jener Geschichte sehr nahe; doch auch das träumerische Element, hier verkörpert in Reese und Kane, nimmt Shiner aus seiner eigenen Story "Bis Menschenstimmen uns wecken"5 mit. Mich hat der Roman überzeugt; es handelt sich hier um ein lesenswertes Buch, Cyberpunk oder nicht. Sicherlich kultiviert Shiner andere tragende Elemente wie die Verdrahtung und die Konsolenkämpfe wenig, spricht sie (Kanes Implantat) wie auch das Drogenproblem (die Isolationskammern in Frontera sind ebenfalls eine Form der Wirklichkeitsflucht) nur beiläufig an. Aber was ist denn eigentlich Cyberpunk wie gesagt, falls eine solche Frage überhaupt relevant scheint? "Spiegelschatten" demonstriert eindrucksvoll die Vielfalt dieses Subgenres, die sich nicht auf "Neuromancer" reduzieren läßt. Mag Frontera meinetwegen eine "Grenzstadt" (in etwa die Übersetzung des Titels) im Grenzgebiet des Cyberpunk sein das ist nicht wichtig. Ein gutes Buch braucht keine Etiketten. Und daß Shiner bestimmte Elemente dieser "Eighties Wave" nicht überstrapaziert, kann sich unter Umständen durchaus als ein Vorteil erweisen.
Quellenverzeichnis
1 Schorm, Rainer; CyberpunkWeisheiten, in: ALIEN CONTACT Nr. 11, Ausgabe 2/92, S. 26ff
2 ebd., S. 26
3 Nagula, Michael; Palimpseste. Cyberpunk und die Urbarmachung der Science Fiction, in: Spiegelschatten. Die große CyberpunkAnthologie, Heyne SF Nr. 4544, München 1988, S. 392ff
4 Spiegelschatten, S. 337ff
5 ebd., S. 216ff
11. Nov. 2006 - Peter Schünemann
Der Rezensent
Peter Schünemann
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