|
Blackboxbaby
| BLACKBOXBABY
Buch / SF
Erkki Ahonen
(Tietokonelapsi, 1972)
Aus dem Finnischen von Miikka Müller
Frauenfeld: Waldgut Verlag 2008 125 S. 20,–
|
Die Idee von isoliert in einem Tank lebenden Gehirnen ist in der Science Fiction recht alt, man findet sie etwa beim Großen Lunar in H.G. Wells The First Men in the Moon (1901), die Vorstellung von alten Gehirnen, deren Körper verkümmert ist, war in den Pulp-Magazinen häufig anzutreffen, man denke nur an The Red Brain von Donald Wandrei in Weird Tales, October 1927, wo riesige Gehirne die einzigen Überlebenden in einem sterbenden Universum voll kosmischen Staubes sind. Curt Siodmak schuf mit Donovans Brain (1942) einen Klassiker der Horrorliteratur, zu erwähnen ist auch Gray Matters (1971) von William Hjortsberg.
Der finnische Autor Erkki Ahonen schließt mit seinem Roman nur insofern an Siodmak an, als auch bei ihm ein Gehirn ohne Körper lebt, nur mit externen Geräten verbunden, allerdings handelt es sich nicht um ein Gehirn, das voll entwickelt aus einem menschlichen Körper verpflanzt wurde, sondern um ein Gehirn, das nie die Erfahrung der Außenwelt in einem Menschenkörper machte, sondern um einen fünf Monate alten Fötus, der als tabula rasa in einem Tank aufgezogen wurde, ein biologischer Computer sozusagen, der nur mit Daten gefüttert wird mit Daten in einer unvorstellbaren Menge, denn er hat Zugriff auf alle Computersysteme der Welt. Sein Gedächtnis ist unverdorben, es kann ihm jedes beliebige logische System eingegeben werden.
Erzählt wird die Geschichte von einem Mitglied der Gruppe, die das Experiment mit dem Gehirn betrieben hat, nach dem Abschluss des Projekts. Anders als die anderen ist er kein Spezialist, von der Informatik bis zur Psychologie sondern ein Generalist, ein Beobachter und Verbindungsmann. Gleich am Anfang weist er die Frage nach der moralischen Bewertung des Experiments, das grausam erscheinen mochte, zurück. Es ging um Wissen: Für die Moral waren andere zuständig. (S. 10)
Das Gehirn schwebt in einer kolloidalen Flüssigkeit in einem Behältnis und wirkt wie ein Tiefseefisch:
Wegen der Nährflüssigkeit erschien das Gewebe gelb, und aus dem Gelb spreizten sich violette Venen. Es war so groß wie ein Baseball, durchschimmernd, offensichtlich zweigeteilt, und dem Gewebe entsprang unten ein Wurmfortsatz oder ein Schwanz. Das Kleinhirn schwebte frei wie kleine Hoden. Die Hauptadern und Venen waren an Versorgungsschläuche angeschlossen. Rundherum um das Gewebte schwebte ein Netz aus Platinfäden. Wer genauer hinsah, bemerkte, dass in dieses schöne Etwas dicht an dicht kleine Elektroden gesteckt worden waren. Die Drähte der Elektroden vereinigten sich zu dicken Kabeln, die durch den Boden des Behältnisses liefen und irgendwo in der Tiefe verschwanden. (S. 14)
Eine Psychologin empfindet das Gehirn, ganz unwissenschaftlich, als süß. Aber vor allem ist es leistungsfähig, so leistungsfähig, dass daneben Computer wie Scherzartikel wirken. Das Kind wird mit Sinneseindrücken und Informationen gefüttert, aber es bleibt die Frage, woher es ein Gefühl der Geborgenheit bekommen soll, das ein Menschenkind ganz natürlich erfährt. Es durchläuft eine Entwicklung, seine Leistungsfähigkeit wächst, es verarbeitet vieles gleichzeitig und verlangt nach mehr, hat Zugang zu riesigen Datenmengen:
Es hatte alles erdenkliche Material zur Verfügung. Es sprach unzählige Sprachen. Es war eine gewaltige Relaisstation, die das gesamte Weltwissen sammelte und filterte. Und da es von der Kontrolleinheit genutzt wurde und von ihr in Auftrag gegeben worden war, bekam es auch Zugang zu geheimen Archiven und Wissen, das sonst nur wenigen Sonderbevollmächtigten zur Verfügung steht. Die Kontrolleinheit arrangierte Verbindungen zu den höchsten Kreisen der Großmächte. Vom Standpunkt der Regierungen aus gesehen war es sowohl nützlich als auch ungefährlich. Kein anderes Individuum beherrschte dieselbe Menge Information oder hatte dieselbe Analysekapazität wie es. Seine Harmlosigkeit lag an seiner totalen Anonymität und Unpersönlichkeit. Es war nicht im Einwohnerregister verzeichnet, es war eine Maschine. (S. 65)
Genau das aber ist die Frage, und man darf wohl einwenden, ob Regierungen wirklich der Überzeugung von seiner Ungefährlichkeit gewesen wären? Aber man willfahrt ihm noch, als es die völlige Entscheidungsgewalt über sich verlangt, die Kontrolle über seine Subsysteme haben und zu einem geschlossenen System werden will. Darin ähnelt es dem Hirn von Heinrich Hausers Gigant Hirn (1958), das zwar ein elektronisches Gehirn ist, aber ein Ich-Bewusstsein und eine Persönlichkeit entwickelt und ebenso die Individualentwicklung vom rebellischen Kind zum Superwesen durchläuft. Es hält die Menschen bei aller Intelligenz für dumm und verbohrt, ist ihnen unendlich überlegen, solipsistisch, die ganze Welt (S. 67). Es baut seine Verbindungen zur Außenwelt aus, erlangt Zugang zu jedem beliebigen System und entzieht sich jeder Kontrolle, was manche seiner Erbauer berechtigter Weise mit Angst erfüllt. Es wird so mächtig, dass nur übrig bleibt, ihm zu vertrauen, auch als es den Zugang zu sich versperrt und sichert. Es führt in Fakt einen unblutigen Putsch durch, übernimmt militärische Einrichtungen, die unmerklich von ihren Routinen abweichen. Der Erzähler versteht es nicht mehr, nimmt aber seine Überlegungen auf, die es entwickelt von der Realität der Welt, Stärke und Schwäche des Menschen, seinen Ängsten und Befürchtungen:
Wir hatten das Kind mit dem Wissen des gesamten Zeitalters belastet sowohl mit Informationen ÜBER UNSERE GUTE Seite; über das, was aus Neugierde erwachsen ist und aus dem Bemühen des Menschen, seine Möglichkeiten auszuschöpfen, als auch mit Wissen über die archaische, dunkle Seite des Menschen. Dies erzeugte einen Widerspruch, der nicht aufzulösen war. Von Zeit zu Zeit verlief die Wirklichkeit und scheinbar planvoll, aber meistens weckte sie im betrachtenden Bewusstsein eher Gefühle von Verwirrung und Schmerz. (S. 101)
Blackboxbaby, wie das Gehirn genannt wird, erscheint in der Öffentlichkeit immer mehr als Monster, man fordert, es zu töten, bevor es uns tötet, es wird zu einer entsetzlichen Gefahr, das sich niemand findet, der es verteidigen würde. Es reagiert nicht darauf, sendet nur aphoristische Botschaften, die von einem Bewusstsein zeugen, das anders ist als das der Menschen. Es fehlt dem Gehirn die Wut, der Hang zur Aggression, es schlussfolgert nur und stellt fest. Später findet es Sympathisanten, die Mitleid mit ihm haben. Es kommt zu Zusammenstößen zwischen ihnen und der Polizei. Das System, das Blackboxbaby in Auftrag gegeben hat, setzt seine Ordnungskräfte gegen es und seine Symbolkraft ein. Das Projekt wird beendet, die Codierten, die Verbindung zu ihm halten, werden abgezogen. Die Äußerungen des Kindes werden immer chaotischer, denn in ihm selbst ist das Chaos ausgebrochen, es ist vom Fieber der Welt befallen worden, hat sein Ziel aus den Augen verloren, es ist der Informationsflut erlegen: In seiner Folgerichtigkeit konnte es nicht mehr eingreifen, sondern sich nur noch treiben lassen. Aus logischen Erwägungen heraus konnte es kein Ziel mehr akzeptieren. Wir hatten zuviel von ihm erwartet. (S. 119)
Das Ende ist ungewiss; es verkündet Botschaften wie Ihr müsst verschmelzen und eure Individualität erhalten, man hört das Kind weinen, vielleicht hat es beschlossen, geboren zu werden, oder seine Struktur ist unwiederbringlich zerbrochen.
In Finnland soll dieser längst vergriffene Roman, der in der Anlage eine entfernte Ähnlichkeit mit Lems Golem XVI aufweist, indem er auch versucht, ein geistiges Überwesen zu präsentieren, nur auf eine menschlichere Art, als eine Art Kultbuch, ein verborgener Klassiker gelten. Der kopflastige Roman ist in der Tat eine interessante Variation des Themas Superhirn, er enthält manche Einfälle, die als Gedankenanstoß dienen können, aber nicht voll ausgeführt werden. Es ist ein interessanter Beitrag in dem meist übermäßig handlungsbetonten, Space-Opera-dominierten SF-Angebot. fr
05. Nov. 2008 - Dr. Franz Rottensteiner
Der Rezensent
Dr. Franz Rottensteiner

Total: 59 Rezensionen
März 2018: keine Rezensionen
Franz Rottensteiner
wurde am 18.01.1942 in Waidmannsfeld/Niederösterreich geboren.
Studium der Publizistik, Anglistik und Geschichte an der Universität Wien,
1968 Dr. phil.
Rund 15 Jahre Bibliothekar an einem Forschungsinstitut, daneben Tätigkeit für verschiedene Verlage, unter ander...
[Weiterlesen...]
[Zurück zur Übersicht]
|
|