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Jonathan Strange & Mr. Norrell
| JONATHAN STRANGE & MR. NORRELL
Buch / Fantasy-Thriller
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Spätestens seit dem Erfolg von Harry Potter weiß jeder, dass England nicht nur das Land der Spukschlösser sondern auch der Zauberei ist. In ihrem Erstling unternahm Susanna Clark nun den Versuch, die Geschichte der Zauberei in England minuziös darzustellen. Die Autorin ging dabei derart gewissenhaft vor, dass ein Wälzer von über 1000 Seiten entstand.
Der Roman setzt im frühen 19. Jahrhundert an, wo er das Leben und Wirken zweier recht unterschiedlicher Zauberer schildert. Dies ist jedoch lediglich der Ausgangspunkt, von dem aus sich immer wieder Rückblicke auf die Anfänge der Magie in Britannien ergeben. Clarkes lexikalische und anekdotenhafte Anmerkungen (die allein ausreichen würden, ein kleines Buch zu füllen) vermitteln dabei den Eindruck, als handelte es sich um ein seriöses Geschichtsbuch. Historische Personen und Ereignisse (Lord Byron, die Napoleonischen Kriege
) werden so in die Handlung integriert, dass sich ein stimmiges aber neu interpretiertes Bild des 19. Jahrhunderts ergibt.
Alles beginnt mit dem Auftauchen eines kleinen, unscheinbaren Mannes namens Norrell. Als er 1806 die Gilde der theoretischen Zauberer von York durch sein Können verblüfft, feiert man ihn als den Verkünder einer neuen Ära der Zauberei. Nach über 400 Jahren scheint es endlich wieder einen Menschen zu geben, der Zauberei auch praktisch anwenden kann. Mr. Norrell wird zum Mittelpunkt von Partys und Empfängen der gehobenen Gesellschaft Londons. Doch Norrell hat weitaus ehrgeizigere Ziele: Er will sein Können in den Dienst der Regierung stellen. Gleichzeitig unternimmt er alles, um etwaige Nebenbuhler aus dem Weg zu räumen. So kauft er nach und nach alle bedeutsamen Zauberbücher in ganz England auf. Seine Bibliothek wird so zum weltweit mächtigsten Zentrum magischen Wissens. Und nur er allein sieht sich auserwählt, Einblick in die Bücher zu nehmen.
Anfangs nehmen die Regierungskreise keine Notiz von Norrell; als es ihm allerdings gelingt, eine junge Dame der Gesellschaft wieder zum Leben zu erwecken, denkt man selbst an höchster Stelle über den möglichen Nutzen magischer Kräfte in Politik und Kriegsführung nach. Immerhin befinden sich England und Frankreich im Krieg.
Norrell erfüllt seine ersten Aufträge mit Bravour. So gelingt es ihm, Trugbilder englischer Kriegsschiffe vor allen wichtigen Häfen Frankreichs erscheinen zu lassen.
Zur gleichen Zeit entscheidet sich das Schicksal des zweiten großen Zauberers Englands. Der junge Mann heißt Jonathan Strange; durch den Tod seines Vaters ist er in den Besitz eines beträchtlichen Vermögens gekommen. Die Weissagung eines Bettlers bringt ihn auf die Idee, den Beruf eines Zauberers zu ergreifen. Fast aus Spaß probiert er einen Zauberspruch aus, den er für ein paar Schillinge von dem Bettler erworben hat. Der Spruch soll ihm zeigen, wer sein Feind ist. In einem Spiegel erscheint daraufhin das Bild eines kleinen, unauffälligen Mannes inmitten von Bücherstapeln: Mr. Norrell.
Zwei Jahre später treffen sich die beiden Männer zufällig in London. Norrell kann Strange von Anfang an nicht leiden, ein Gefühl, das der andere ebenso erwidert. Einen Zauberer, der die Existenz des Rabenkönigs, Englands bedeutsamsten und größten Magiers leugnet, kann Strange nicht verstehen. Als er jedoch von Strange aufgefordert wird, eine Kostprobe seiner Kunst zu zeigen, ist dieser mehr als begeistert. Norrell geht sogar so weit, sich als Lehrmeister Stranges anzubieten. Und Strange willigt ein.
Schon bald bemerkt der Schüler, dass sein Lehrer ihm bewusst viele Dinge vorenthält; ganz offensichtlich fürchtet Norrell in Strange einen Konkurrenten. Dennoch führt er seinen Schüler in die Regierungskreise ein, wo er noch erfolgreicher als Norrell Kriegs entscheidende Zauber bewirkt. Strange reist schließlich nach Portugal, um dort aktiv die Truppen zu unterstützen, Kurzerhand verändert er den Lauf von Flüssen, verschiebt ganze Städte und lässt Straßen entstehen, wo vorher nur Wildnis herrschte. Mit seiner Hilfe stürmen die Engländer von Sieg zu Sieg. Als Napoleon 1814 abdankt, ist England wieder zur stärksten Nation Europas geworden. Und niemand im Königreich vergisst, wem dies zu großen Teilen zu verdanken ist.
Norrells und Stranges Streit über die Bedeutung von John Uskglass, dem Rabenkönig, führt schließlich dazu, dass sich die beiden Zauberer trennen. Während Norrell sein Wissen für sich behalten will, beschließt Strange, die Zauberei in England wieder zu verbreiten und Schüler auszubilden. Damit macht er sich allerdings nicht nur unter den Gefolgsleuten Norrells Feinde. Ein weitaus mächtigerer Gegner setzt alles daran, um Strange zu bekämpfen.
Meinung:
Auch wenn Jonathan Strange & Mr. Norrell hinsichtlich Form und Inhalt ein einmaliges Projekt darstellt, so muss man dem Buch dennoch einen klaren Mangel attestieren: Es langweilt! Sicherlich kann man von einem derartigen Mammutwerk nicht verlangen, dass es seine Leser gleich von der ersten Seite an fesselt (selbst ein Herr der Ringe vermag dies nicht), die Handlung und seine eindimensionalen Charaktere mäandrieren allerdings derart zähflüssig durch die Jahre, dass erst ab etwa Seite 650 so etwas wie ein spannender Handlungsbogen entsteht. Doch selbst in dieser recht gelungenen Schlusspassage zeigen sich Schwächen, die das ganze Buch durchziehen. Der Roman liest sich, als sei er tatsächlich im 19. Jahrhundert entstanden. Dieser positiv klingende Eindruck erweist sich allerdings als klares Manko. Clarke entwirft ein nahezu unreflektiertes Gesellschaftsbild, das durch und durch vom vor-viktorianischen Standesdenken durchwoben ist. Mit einer Ausnahme gehören alle Protagonisten der Oberschicht an. Niemand scheint den Begriff Arbeit überhaupt zu kennen. Wie selbstverständlich verfügt jedermann über zahlreiche Dienstboten, die devot jeden Wunsch erfüllen. Selbst die Teilnahme an einem Krieg wird als freudige Abwechslung vom täglichen Einerlei dargestellt. Man verkehrt stets nur in gehobenen Kreisen; mit Dienstpersonal, aber auch mit Bauern, Händlern, selbst Anwälten oder Ärzten spricht man nicht oder beschränkt sich auf das Notwendigste. Die Damen der Gesellschaft verbringen ihren Tag damit, durch Gärten zu lustwandeln, zu lesen oder melancholisch aus dem Fenster zu schauen.
Die einzelnen Figuren des Romans erscheinen gleichfalls schablonenhaft und ohne jegliche Tiefe. Strange beschließt einfach Zauberer zu werden, und plötzlich ist er einer! So einfach ist das also. Selbst die tragische Liebesbeziehung zwischen Strange und seiner Frau wirkt seltsam blass und emotionslos. Nie gelingt es Clarke, dass sich der Leser mit ihren Figuren auch nur ansatzweise identifizieren kann. Dieser Eindruck bliebe allerdings auch dann bestehen, wenn man das Buch um die Hälfte kürzte (was seine Qualität mit Sicherheit verbessern würde). Dies ist ohnehin das phantastischste Element des Buches: Wie gelang es Clarke überhaupt, einen Erstling (!) mit über 1000 Seiten zu publizieren? Selbst ein Autor wie Stephen King musste seiner Zeit Das letzte Gefecht um ein Drittel kürzen und das, nachdem er Bestseller wie Carrie, Brennen muss Salem und Shining auf dem Markt hatte. Was die überbordende positive Kritik des Buches betrifft, so erscheint sie wie die Verneigung vor des Kaisers neuen Kleidern. Vor einem 1000 Seiten Buch muss man offenbar seinen Respekt bezeugen. Dem ist leider nicht so. Jonathan Strange und Mr. Norrell kann hinsichtlich seiner monumentalen Erscheinung und der entsprechenden Erwartungshaltung nur als Enttäuschung gewertet werden.
Susanna Clarke: Jonathan Strange & Mr. Norrell
Bloomsbury/Berlin Verlag, 2004
Hc. 1024 Seiten; 29, 80
Aus dem Englischen von Anette Grube und Rebekka Göpfert
06. Dez. 2006 - Andreas Wolf
http://www.phantastisch.net
Der Rezensent
Andreas Wolf

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März 2018: keine Rezensionen
* Andreas Wolf, auch als Autor unter dem Pseudonym
ARTHUR GORDON WOLF bekannt,
* Jhg. 1962
* Pendler zwischen dem Bergischen Land und dem Niederrhein, wo er als Lehrer an einem Gymnasium arbeitet
* schreibt Rezensionen für das Magazin "phantastisch!" sowie Short - Stories, Erzählunge...
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