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Atlantis
Trotz seines schweren Unfalls im Juni dieses Jahres bleibt der Output des meistgelesenen "Horror"-Autors der Welt unvermindert groß. "Atlantis" ist 1999 schon das dritte Werk, mit dem er seine immer noch süchtigen Fans beglückt. Bedenkt man allerdings, dass "Sturm des Jahrhunderts" ein Drehbuch und "The Girl Who Loved Tom Gordon" eher eine Novelle war, so legt King mit "Atlantis" seinen ersten "richtigen" Roman vor. Doch auch dies muß relativiert werden: "Atlantis" ist weder ein Roman noch eine Erzählsammlung, eher eine seltsame Mischung aus beiden lite-rarischen Formen.
Den Auftakt des Buches macht die Erzählung (eher der Roman!) "Niedere Männer in gelben Mänteln". Die Geschichte beginnt 1960 in einer kleinen Stadt in Connecticut, und der junge Bobby Garfield wartet ungeduldig auf den Beginn der 'Grossen Ferien'.
Tapfer versucht er zu verdrängen, in welch bescheidenen Verhältnissen er aufwächst (die es nicht einmal zulassen, dass er ein richtiges Geburtstagsgeschenk erhält) und wie wenig Zuneigung ihm seine Mutter entgegenbringt.
An seinem 11. Geburtstag zieht ein neuer Mieter in das Haus der Garfields. Mr. Brautigan. Der alte Mann freundet sich schnell mit Bobby an, der in jeder freien Minute gebannt dessen spannenden Geschichten und Lebensweisheiten lauscht. Als Brautigan dem Jungen als verspätetes Geburtstagsgeschenk Goldings "Herr der Fliegen" schenkt, entdeckt Bobby plötzlich eine neue Welt, die voller Geheimnisse, Bedrohungen und Gefahren steckt. Doch nicht nur Bobbies Mutter ist der neue Mieter höchst suspekt, auch seine Schulfreunde glauben, der alte Mann sei auf der Flucht oder verberge zumindest ein Geheimnis. Oft sitzt Brautigan stundenlang auf der Veranda und hält Ausschau. Doch wonach?
Die Kinder scheinen recht zu haben, denn wenig später bittet Brautigan Bobby um einen Gefallen: Für einen Dollar pro Woche soll er die Gegend nach 'Niederen Männern' in gelben Mänteln absuchen. Zusätzlich seien merkwürdige Dinge wie Drachenschnüre an Stromleitungen oder Suchplakate nach verlorenen Tieren Indizien für ihre Anwesenheit. Der Junge hält Brautigan zumindest in dieser Hinsicht für 'etwas verrückt', aber schon bald stößt er auf einige der erwähnten Anzeichen. Ist alles nur ein dummer Zufall? Da Bobby die ganze Sache noch immer für ziemlich unglaubwürdig hält und er außerdem seinen einzigen wahren erwachsenen Freund nicht verlieren will, beschließt er, Brautigan nichts von seinen Beobachtungen zu erzählen. Doch die Männer in den gelben Mänteln existieren tatsächlich...
Der 1. Teil des Buches ist eigentlich schon für sich genommen ein eindrucksvoller, bittersüßer Roman über die Kindheit, den beschwerlichen Übergang zum Erwachsenenwerden und den damit verbundenen Verlust der Unschuld. In "Niedere Männer in gelben Mänteln" läuft King wieder einmal zur absoluten Top-Form auf. Und warum? Weil er es meisterlich versteht, eine Geschichte aus der Sicht eines Teenagers zu erzählen, von seinen Ängsten, Sorgen, Freuden und Träumen und dies ohne jemals kitschig zu werden. Der erste Teil ist sehr emotional, aber eben nicht gefühlsduselig. Vielleicht auch deshalb, weil King sich einer klassischen Vorlage bedient: Stevenson´s "Schatzinsel". Auch dort wird der jugendliche Held, Jim Hawkins, vom alten Billy Bones angeheuert, nach einem seltsamen Mann Ausschau zu halten, vor dessen Erscheinen er sich fürchtet. Als das Unvermeidliche schließlich geschieht, ändert sich Jims Leben genau wie das von Bobby Garfield auf einschneidende Weise. Zusätzlichen Reiz gewinnt der Text dadurch, dass King ihn mit seinem weitaus größeren Epos- der "Suche nach dem Dunklen Turm"- verwebt. So wird deutlich, dass die 'Gelbmäntel' und auch Brautigan aus der seltsamen Welt (oder den Welten?) Rolands kommen. Die 'niederen Männer' scheinen im Dienste des 'Scharlachroten Königs' zu stehen, der mit allen Mitteln verhindern will, dass Roland und seine Freunde ihr Ziel erreichen.
Mit dem zweiten Teil "Herzen in Atlantis" (aber auch den folgenden Episoden) erfolgt im Hinblick auf die Atmosphäre, den Inhalt und Stil ein schon als dramatisch zu bezeichnender Bruch. Die Akteure sind älter (College-Studenten) und nichts scheint mehr von der geschilderten 'Bradbury-Kindheit' im ersten Teil in ihre Zeit (1966-
1971) hinübergerettet worden zu sein. Phantastische Figuren wie Männer in gelben Mänteln wirken in dieser von 'tatsächlichen' Ereignissen (vor allem dem Vietnam-Krieg) aufgewühlten Welt als vollkommen deplaziert. Ich-Erzähler Pete Riley verbringt -wie viele seiner Mitstudenten- die meiste Zeit am College mit 'Herzen' ("Hearts"), einem skatähnlichen Kartenspiel. Zwischen '69 und '71 ist der Krieg in Vietnam das alles beherrschende Thema auf dem Campus, und ganz allmählich erwächst erster Widerstand gegen die Politik der Regierung. Über allen männlichen Studenten schwebt ein 'Damokles-Schwert': Durch die Spielsucht laufen viele nicht nur Gefahr, von der Uni zu fliegen, sondern danach auch sofort zum Militärdienst eingezogen zu werden. Ein Spiel also auf Leben und Tod.
Ähnlich wie 'Hearts' so ist auch 'Atlantis' eine Metapher: Rileys ''Atlantis' entstammt eigentlich einem Song von Donovan Leitch, doch genauso erscheint ihm zunehmend die ganze Welt, wie ein langsam untergehender Kontinent. Die Doppeldeutigkeit von 'Hearts' zeigt sich in einer unglücklichen Liebe, die Riley während dieser Zeit erlebt. Für ihn persönlich sind es demnach auch die wirklichen Hezen, die ihm Kummer bereiten.
Die folgenden beiden Teile, die einen zeitlichen Bogen bis hin zur Gegenwart schlagen, lassen sich aufgrund ihres Bezuges zum Vietnam-Trauma mit einem Zitat aus der Erzählung "Warum wir in Vietnam waren" beschreiben: "Wir sind nie rausgekommen. Unsere Generation ist da gestorben." Auf eindringliche Weise schildert King Einzelschicksale, Menschen, die ihr Leben durch ihren Einsatz in Vietnam nie mehr wirklich in den Griff bekommen haben. Klar wird auch, dass nicht nur Männer diese Erfahrung machten; einer der Protagonisten ist Carol Gerber, die sich von der empörten Peace-Demonstrantin zur brutalen Anti-Kriegs-Terroristin entwickelt.
King selbst 'empfindet' "Atlantis" mehr als einen Roman, richtig einordnen kann er das Werk allerdings auch nicht. Formal erinnert das Buch an seine Novellen-Sammlungen, aber anders als in "Nachts" und viel stärker als in "Frühling, Sommer, Herbst und Tod" verwebt King die einzelnen Stories miteinander. Neben einem klaren, allerdings etwas unausgewogenen Rahmen (274 zu 16 Seiten!) findet der Leser in allen Teilen Charaktere wieder, die er schon vom ersten Teil her kennt.
Wie schon in anderen Büchern zuvor, doch diesmal nahezu ausschließlich mit den Mitteln des Mainstream, läßt King (Jhg. '47) das Amerika seiner Kindheit, Jugend und frühen Erwachsenen-Jahre am Auge des Lesers vorbeiziehen. Zu Beginn der 60er ist dies ein magisches Land, das-ähnlich wie die Hauptakteure im ersten Teil- voller kindlicher Naivität an Ideale und Träume glaubt. Spätestens mit dem Beginn des Vietnam-Krieges aber zerplatzen diese Träume, und Ideale werden zu bloßen Worthülsen. Dieser Wandel findet sich auch im unterschiedlichen Stil und Inhalt der einzelnen Geschichten wieder: Der 'klassische King' (von "Shining", "Es" und "Cujo") trifft sozusagen auf den 'King des anbrechenden Milleniums' ("Dolores"; Sara" und "The Girl Who Loved Tom Gordon"). Ob es sich um sein bis dato bestes Buch handelt, fällt angesichts der Fülle seiner Meisterwerke schwer zu beurteilen. "Atlantis" ist aber unbezweifelt Kings reifstes Werk. Ein vielschichtiges Amerika-Kaleidoskop der kingschen Extra-Klasse!
Stephen King: "Atlantis" ("Hearts In Atlantis")
Wilhelm Heyne Verlag, München 1999
Hc., 592 Seiten, DM 44,–
Aus dem Amerikanischen von Peter Robert
18. Dez. 2006 - Andreas Wolf
Der Rezensent
Andreas Wolf

Total: 84 Rezensionen
März 2018: keine Rezensionen
* Andreas Wolf, auch als Autor unter dem Pseudonym
ARTHUR GORDON WOLF bekannt,
* Jhg. 1962
* Pendler zwischen dem Bergischen Land und dem Niederrhein, wo er als Lehrer an einem Gymnasium arbeitet
* schreibt Rezensionen für das Magazin "phantastisch!" sowie Short - Stories, Erzählunge...
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