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Mobile Röntgenstation

MOBILE RÖNTGENSTATION

Buch / Belletristik

Ein halbes Jahr habe ich in Litauen, genauer gesagt in Vilnius, verbracht, um zu studieren. Natürlich entwickelt man daraufhin ein Interesse an allem, was Litauisch ist. Man möchte die Mentalität der Menschen verstehen, man möchte das Land sehen, die lokale Küche probieren und die Kultur des Landes kennen lernen. Dabei erweist es sich als besonders schwierig, einen Einblick in die Literatur zu erhaschen, da die litauische Literatur auf dem deutschen Buchmarkt eher stiefmütterlich behandelt wird. Und das, obwohl das Land nur knappe 1000 km von Deutschland entfernt liegt (ja, gleich hinter Polen) und 2002 sogar Gastland auf der Frankfurter Buchmesse war. Doch der Athena-Verlag leistet hier mit seiner Reihe „Literatur aus Litauen“ Pionierarbeit und bringt eine Auswahl litauischer Prosa und Lyrik auf den deutschen Markt.

Ich habe mir aus dem Verlagsprogramm Jurgis Kunèinas' „Mobile Röntgenstation“ ausgesucht, um einen ersten Eindruck von der litauischen Gegenwartsliteratur zu gewinnen. Kunèinas ist einer der großen Romanciers des Landes. Er wurde 1947 in Alytus geboren und studierte deutsche Sprache an der Universität Vilnius. Später war er dann freischaffend tätig und übersetzte so große Namen wie Dürrenmatt, Borchert oder Brussig. Außerdem verfasste er Essays, Kurzgeschichten, Lyrik und eben auch Romane. „Mobile Röntgenstation“ erschien in Litauen bereits 1998 und wurde von Klaus Berthel für den Athena Verlag ins Deutsche übersetzt. Kunèinas starb im Dezember 2002 in Vilnius – er wurde nur 55 Jahre alt.

In „Mobile Röntgenstation“ nun haben wir es mit einem alternden Schriftsteller zu tun, der in melancholischer Stimmung von Erinnerungen an vergangene Zeiten geplagt wird. Doch dann ruft ihn ein befreundeter Regisseur an, um mit ihm einen Film zu planen. Die beiden fahren durch Vilnius und entdecken schließlich einen alten Bus – eine Mobile Röntgenstation, die in der Vergangenheit das ganze Land befuhr, um die Menschen zu röntgen und so auf TBC zu untersuchen. Um diesen alten Bus will der Regisseur nun einen Film spinnen und bittet den Autor um ein Exposee. Doch dieser nimmt die Entdeckung des Röntgenbusses zum Anlass, in seiner Vergangenheit zu kramen.

So reisen Autor und Leser zurück ins Jahr 1968. Der Ich-Erzähler (die biographischen Ähnlichkeiten zwischen Autor und Protagonist sind frappierend) studiert gerade in Vilnius, verscherzt es sich aber mit der Militärabteilung der Universität und wird exmatrikuliert. Nun plötzlich in freier Wildbahn, besteht die stete Gefahr, dass er eingezogen wird – noch dazu, wo die Sowjetunion doch in Prag gerade „sozialistische Freundschaftshilfe“ leistet. Unser Autor befindet sich in einer misslichen Lage. Nur durch eine schwere Krankheit könnte er der Armee entkommen und wünscht sich fortan, man möge einen TBC-Herd bei ihm entdecken. Doch stattdessen wird bei seiner Freundin Schwindsucht festgestellt. Er dagegen muss viel Geld ausgeben, um sich erst Hämorridhen und dann chronisch hohen Blutdruck bestätigen zu lassen. Doch im letzten Moment macht er einen Fehler und landet schließlich doch noch beim Militär.

Doch mit dieser Geschichte nicht genug. Sie ist eher Anlass für Kunèinas, sowohl die Vergangenheit als auch die Gegenwart Revue passieren zu lassen. So beschreibt er anhand seiner wechselnden Liebschaften, seiner Universitätslaufbahn und seiner Odyssee durch Vilniuser Krankenhäuser die vergangene Sowjetrepublik Litauen und vergleicht sie mit dem unabhängigen Post-Wendestaat der 90er Jahre. Immer auf der Suche ist er dabei nach seiner eigenen Identität, die er irgendwo zwischen den Zeiten versteckt glaubt.

„Mobile Röntgenstation“ ist damit kein einfaches Buch. Der Handlungsfaden ist nur ein vorgeschobener Aufhänger für die Erinnerungen des Autors und die Darstellung der litauischen Befindlichkeiten. Der Roman ist also insofern besonders litauisch, als dass er versucht, die Mentalität der zwei Zeiten (1968 und 1990er) einzufangen, Charaktere und Schicksale zu zeigen. Dies mag für den völlig unbedarften deutschen Leser komplizierter Stoff sein. Kunèinas jongliert mit litauischen Größen aus Politik, Geschichte und Kultur. Er erwähnt Gegenden und Städte, von denen man diesseits der Oder noch nie etwas gehört hat. Der Athena-Verlag hat versucht, mit einem kleinen Glossar der totalen Verwirrung beim Leser entgegenzuwirken, jedoch ist die knappe Seite kaum ausreichend, alle Leserfragen zu beantworten. Letztendlich arbeitet sich auch der Verlag selbst entgegen. Mit steigender Seitenzahl ist der Roman zunehmend schlampig lektoriert, was sich im besten Fall in fehlenden Satzzeichen äußert, aber im schlimmsten auch darin, dass Namen einfach völlig verändert werden. So wird ein Erwinas zwei Zeilen später schonmal zu einem Edwinas, um dann zum Edvinas zu mutieren. Wer da als Leser keinen kühlen Kopf behält, verliert zwischen den ohnehin ungewohnten litauischen Namen schnell den Überblick.

Wer allerdings durchhält, wird mit einigen Perlen im Roman belohnt. Wirkt Kunèinas' Erzählstil auch zuweilen gestelzt und pathetisch (oder liegts am Übersetzer?), so läuft er an einigen Stellen doch zu großer Form auf und erzählt mit bissiger Ironie oder lakonischem Galgenhumor. Bleibt das Schicksal seines Alter Egos im Roman auch seltsam fern und entrückt, so mag dies doch beim Leser nur die Empfindung stützen, hier ein Buch über ein fernes und entrücktes Land zu lesen. Und das ist Litauen auch. Irgendwie.

Allgemeine Infos

Jurgis Kunèinas
„Mobile Röntgenstation“ (lit. „Kilnojama rentgeno stotis“)
Ins Deutsche übersetzt von Klaus Berthel
Athena Verlag, 2002
ISBN 3898961206
broschiert, 14,90 Euro

06. Jan. 2007 - Michaela Dittrich

Der Rezensent

Michaela Dittrich
Deutschland

Total: 22 Rezensionen
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