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Ich lebe, lebe, lebe
Rose und Ivy Latham halten zusammen wie Pech und Schwefel. Innige Geschwisterliebe, ein Leben lang. Bis zu jenem Winterabend im März in den Adirondacks, der alles verändert.
Eine Kurve – ein blauer Lastwagen – ein Fahranfänger am Steuer – ein Zusammenprall.
Rose trägt ein paar Blessuren davon, Ivy liegt im Koma. Intraparenchymale Hämorrhagie, eine Blutung im Gehirn, ohne Aussicht auf Genesung. Die Achtzehnjährige wird künstlich am Leben erhalten, von Maschinen beatmet und ernährt. Einen Monat lang weicht Rose ihrer großen Schwester im Pflegeheim Rosewood nicht von der Seite, dann muss sie zurück in den Alltag.
Doch wie kann sich die Erde unaufhörlich weiterdrehen, wenn ein wichtiger Teil im Gefüge fehlt?
Eine Frage, die sich Rose immer und immer wieder stellt. Eine Frage, auf die es für sie keine Antwort gibt.
Rose geht zum Unterricht an der Sterns High School, wird Zeuge, wie die Mitschüler von Ivy als lebende Leiche tuscheln, beobachtet ihre Mutter, die sich mit emsiger Beschäftigung von den Tatsachen davonstiehlt und auf ein großes medizinisches Wunder hofft und besucht mit Nachbar William T. Jones regelmäßig ihre Schwester, um ihr aus Pompeji vorzulesen. Worte über eine verlorene Stadt des Römischen Reiches, die Ivy nach Aussagen der Ärzte nicht mehr hören kann.
William T. kümmert sich um die Familie seitdem Roses Vater Mutter und Töchter vor Jahren verlassen hat und Connie Latham schon damals mit Lethargie auf die Veränderung in ihrem Leben reagierte. Auch heute schafft sie es nicht, sich bewusst mit der Situation auseinanderzusetzen, ihre älteste Tochter im Pflegeheim aufzusuchen oder ihrer Jüngsten eine Stütze zu sein.
Neben dem väterlichen Freund aus der Nachbarschaft findet Rose einen weiteren Vertrauten in Tom Miller, einem Spielkameraden aus Kindertagen. Bis es jedoch so weit ist, dass sich die Siebzehnjährige ihren Gefühlen öffnet, fließt noch viel Wasser den Bach hinab …
Sie erlebt immer wieder jenen grausamen Moment, der ihr Leben auf den Kopf stellte, wünscht sich, sie könne Ivy mit Verzicht ins gewohnte Leben zurückholen, hat Schuldgefühle und sieht sich in einem Teufelskreis gefangen. Die jüngere Schwester hält an ihrer Hoffnung fest und liest weiterhin vor, während William T. seine Kenntnisse über die Vogelwelt Nordamerikas aufbessert und Schwester Dorothy Van Gulden, Angel genannt, die Komapatientin liebevoll umsorgt.
Und Rose schläft mit den Jungs ihrer Schule – Jimmy Willson, Warren Graves und Todd Forrest - an der Sterns Gorge, wo sie Steine ins Wasser flippt, im Irrglauben, der Schmerz würde auf diese Weise vergehen.
Monate vergehen, Pompeji weicht dem Handbuch für Autofahrer und Ivy schläft noch immer …
New-York-Times-Bestseller-Autorin ALISON MCGHEE erzählt in zwölf Kapiteln von einem herben Schicksalsschlag, der die Schwestern Rose und Ivy Latham entzweit und für die Mutter, Connie Latham, eine nahezu unüberwindbare Hürde darstellt.
In erster Person Singular aus Sicht der siebzehnjährigen Rose wird die Leserschaft schonungslos mitten hinein in einen Strudel aus Hoffnung und Verzweiflung gezogen. Überaus emotional öffnet sich die Psyche der jüngeren Schwester im Laufe der Handlung. Zwischen Ohnmacht und Kampf mit der grausamen Wirklichkeit, versucht Rose nicht nur das Geschehene zu verarbeiten, sondern sucht für sich einen Weg, sich selbst im Hier und Jetzt wiederzufinden und schlussendlich mit der Situation abzuschließen. Konfrontationen und Stolpersteine sind aus psychologischer Sicht nur allzu verständlich.
Die Autorin schafft eine ruhige, zutiefst melancholische Atmosphäre, die der Geschichte rundum gerecht wird. Stil und Sprache bewegen sich auf hohem Niveau. Diverse Wiederholungen verdeutlichen die Zeitschleife, in der sich Rose mit dem Wiedererleben des Unfalls bewegt. Immer wieder kreisen ihre Gedanken um den schrecklichen Abend und halten ihre Seele gefangen.
Die Thematik um Verlust, Trauer und Tod wird sehr feinfühlig und bewegend umgesetzt. Der Leser findet sich zwischen Gegenwart und Vergangenheit, sowie Gedanken und Handlungen der Charaktere und schließlich seinen eigenen Überlegungen wieder. Die Fragestellungen, wie man selbst in dieser oder ähnlichen Situationen reagieren würde und welche Entscheidungen man träfe, machen einen Großteil der Wirkung dieses Romans aus, der zweifelsohne zu Herzen geht und noch einige Zeit nachhallt.
ICH LEBE, LEBE, LEBE erscheint als Deutsche Erstausgabe in der Reihe Hanser im Deutschen Taschenbuchverlag. Die Umschlaggestaltung greift den Inhalt des Romans auf: Ein weiter Fluss, auf einem herausragenden Felsen hockt ein junges Mädchen, stellvertretend für die Hauptfigur der Geschichte, und am Horizont verteilt sich der Schriftzug des Buchtitels wie das Flippen der Steine im Wasser, mit helleren Schatten im Hintergrund, einem Echo der Worte gleich. Treffender hätte man das Covermotiv nicht wählen können. Papier, Satz und Druck sind ebenfalls von sehr guter Qualität.
FazitMit ICH LEBE, LEBE, LEBE erzählt ALISON MCGHEE eine außergewöhnlich berührende Geschichte um den Abschied von einem geliebten Menschen. Die Sichtweise der siebzehnjährigen Hauptfigur ist sehr emotional und authentisch. Der Leser kommt nicht umhin, ein ums andere Mal zu schlucken und eigenen Überlegungen zu dieser schweren Kost zwischen Trauer und Hoffnung nachzugehen. Nicht nur für die Zielgruppe zwischen vierzehn und siebzehn Jahren ein ergreifendes Leseerlebnis!
06. Mar. 2013 - Patricia Merkel
Der Rezensent
Patricia Merkel

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An einem sonnigen Tag im April erblickte ich in der Löwenstadt Braunschweig das Licht der Welt, wo ich auch heute noch, nach dem Abitur, einer Ausbildung zur Datenverarbeitungskauffrau und anschließendem, wirtschaftswissenschaftlichen Studium mit finaler Diplomarbeit im betriebswirtschaftlichen Bereich, mein Unwesen treibe.[Weiterlesen...]
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