Back up your brain
Wie uns die Autoren der Zukunft als Avatare wiederbegegnen
Die Ägypter glaubten, man könne ihre Pharaonen unsterblich machen. Ähnliches erprobt Gordon Bell mit seinem MyLifeBits-Projekt: Jede Minute seines Lebens wird dokumentiert. Er trägt eine intelligente Kamera um den Hals, die selbstständig Filme und Fotos aufnimmt. Dabei werden alle Emails ebenso gespeichert wie alle Seiten, die man im Internet besucht und in Büchern gelesen hat. Inspiriert hat Bell dazu der schon 1945 von Vannevar Bush veröffentlichte Artikel “As We May Think”. Darin entwirft Bush den Memex: Eine Maschine, die das gesamte Wissen eines Individuums auf Mikrofilm speichern und zugänglich machen sollte.
Was vor 60 Jahren uneinholbare Science-Fiction war, umfasst heute ein unglaubliches Datenvolumen. Täglich sammelt Bell über 80 Gigabyte, Tendenz steigend. Daraus, so glaubt er, werde man in Zukunft einen digitalen Avatar mit den Charaktereigenschaften des jeweiligen Individuums programmieren können: „This avatar can “live forever” in a virtual world and respond to queries about that person’s past life. For example, like many great people, Albert Einstein has several posthumous Websites. In addition, computer science researchers at CMU authored an avatar of Einstein that responds to questions from viewers.“
Die größte Herausforderung für Bells Team ist dabei nicht das Sammeln der Informationen, sondern ein System zu finden, das die Daten intelligent organisiert. Der Zugang zum Wissen definiert sich im digitalen Zeitalter über die Auffindbarkeit der relevanten Informationen im Datenwust. Nicht zufällig ist das erfolgreichste Internetunternehmen eine Suchmaschine. Wenn sich das Erinnern komplett in die Cloud verlagert hat, wird nur noch das erinnert werden, was verschlagwortet worden ist.
- Für die Autoren der nächsten Gesellschaft heißt das, einen neuen und vernetzten Blick dafür zu bekommen, wie das eigene Leben autobiographisch inszeniert werden kann. Alle Bausteine müssen konsequent auf den Fluchtpunkt Autor gedacht werden: Das Leben wird zum eigentlichen literarischen Kunstwerk. Damit wird der Avatar so etwas wie eine intelligente Datenbank sein, die darauf ausgerichtet ist, eine literarische Lebenswelt komplett präsent zu halten.
- Für Verlage heißt das: Autobiographie und Poetik werden obsolet. Sie müssen umdenken: Gehandelt werden die Autoren selbst, nicht ihre Literatur. Damit werden Verleger zu Life Coaches, die ihren Autoren zu literarischen Lebensentwürfe verhelfen.
- Darüber hinaus werden Avatare ein Eigenleben entwickeln: Schon heute gibt es Twitterbots, die für menschlich gehalten werden oder auch Programme, die selbst Texte verfassen. Ein nennenswertes ist z.B. Narrative Science von LitFlow-Teilnehmer Larry Birnbaum. Aber was für Texte werden wir zu erwarten haben, wenn Avatare jenseits der Sterblichkeit literarische Meisterschaft erlangen? Wenn Twitterbots ohne materielle Zwänge Jahrzehnte lang an einzelnen Sätzen feilen können?
- Die Avatare werden sich darüber hinaus altklug in die Diskurse unserer Zeit einmischen. Künstliche Gehirne, digitale Handpuppen, Talking Heads: Es wird Expertenrunden, Thinktanks und Ethikkommissionen aus Avataren geben, die versuchen werden, die Probleme unserer Zeit zu lösen. Diese neuen Ältestenräte geben Handlungsempfehlungen und berechnen Zukunftsszenarien anhand ihrer eigenen Biographien und des evolvierenden vernetzten Wissens. Die ersten eigenständigen Avatare könnten so zu den Supercomputern der Zukunft mutieren, und einer von ihnen könnte Gordon Bell sehr ähnlich sein.
Schade, dass es das nicht auch rückwirkend gibt. Allzu gern würde ich einige Stationen meines Lebens noch einmal Revue passieren lassen und Erklärungen auf Fragen finden, die mich aktuell beschäftigen … oder einige der Verflossenen betrachten, von denen ich heute nicht mal mehr den Namen erinnere …
[...] dann Artikel wie DER VERLEGER ALS PAM - Wie die App-Kultur den nächsten Verlag formiert; BACK UP YOUR BRAIN - Wie uns die Autoren der Zukunft als Avatare wiederbegegnen oder VOM ABC ZUM ATCG - Das [...]