Backward Ever, Forward Never
Der Deutsche Buchpreis 2012
2050, circa, wenn eines der gängigen Hollywood-Krisenszenarien (Angriff einer sich selbst bewusst gewordenen KI, Klimakatastrophe…) die Erde verwüstet hat und die letzten Menschen die Städte nach lesenswerten Büchern des frühen 21. Jahrhunderts durchkämmen (auf der Suche nach Antworten, auf der Suche nach Trost, wer weiß das schon) und dabei in den Tunnelsystemen tief unter den ascheumflockten Messeruinen Frankfurts auf die, was sonst, Romane der Deutschen Buchpreisträger stoßen (nichts außer diesen Romanen wird die Apokalypse überdauern, dafür haben die Buchpreismacher noch gesorgt) – wird ihr Erstaunen groß sein.
Bei der Lektüre werden sie feststellen, dass sich zu Beginn dieses rasanten, spannenden, unberechenbaren Jahrhunderts die bedeutenden Autoren offenbar nur mit einem beschäftigt haben: der Vergangenheit. In Form a) der DDR oder b) des Dritten Reichs. Familienstorys von drüben und Familienstorys von anno dazumal, das beschriebene Gesellschaftssystem unter Garantie längst tot und vergangen. So wird es sich darstellen, das große, literarische Ding des anbrechenden Milleniums.
Was werden die Menschen 2050 dazu sagen? Werden sie Trost finden in den hübsch ausstaffierten Familienkosmen von Uwe Tellkamp oder Eugen Ruge? Wird sie ein Hauch Nostalgie anwehen angesichts der oft zwar nicht so guten, doch immerhin schön alten Zeit. Oder wird sie das Staunen ergreifen? Werden sie sich wundern, weshalb diese rückwärtsgewandten, gesellschaftlich schon damals irrelevanten Stoffe mit an Aberwitz grenzender Penetranz Jahr um Jahr aufs Neue prämiert wurden?
Wird den verbliebenen Lesern gar bewusst werden, dass die Literatur zu Beginn des neuen Jahrhunderts per Preisvergabe zu einem Medium der Geschichtsschreibung degradiert und damit musealisiert werden sollte? Werden sie den Abgesang der Juroren und Kritiker auf die Gegenwartsliteratur im Sinne einer Gegenwartsliteratur (um von einer zukunftsweisenden Literatur gar nicht erst zu reden) als das begreifen, was er ist: eine Tragödie? Eine Tragödie, die wohl auch diesen Herbst wieder gegeben wird. Denn, so droht Jurysprecher Andreas Isenschmid seit gestern: „Überraschend viele [unserer zwanzig besten Romane] versuchen sich an geschichtlichen Bestandsaufnahmen der Bundesrepublik in den 50er, 60er und 70er Jahren.”
Man möchte die Leser im Jahr 2050 bedauern, die, anders als die heutigen, ganz und gar dem historisierenden Imperativ der Frankfurter Museumswächter ausgeliefert sein werden. Tun wir aber alles nicht. Wir bleiben heiter. Wir glauben an eine bloß vorübergehende Geschmacksverirrung. Wir glauben, dass auch in den Messetunneln irgendwann eine Gegenwartsliteratur zu entdecken sein wird, die diesen Namen verdient.
Wir setzen auf Autoren wie Thomas von Steinaecker, Juli Zeh oder Leif Randt, die statt geschichtlicher Bestandsaufnahmen visionäre Stoffe in Angriff nehmen. Die statt toter Systeme kommende Welten entwerfen. Und die Literatur dadurch an aktuelle und zukunftsweisende Diskurse rückkoppeln. Wir sind geduldig, wir freuen uns auf die Zukunft.
Warum diese Bipolarität zwischen Geschichte und Gegenwart/Zukunft? Spiegeln nicht viele Autoren “ihre” Gegenwart in der Geschichte? Und ist die “Literatur von morgen” (das klingt mir ein bisschen zu groß) nur eine Frage des Inhalts? Was, wenn ein Autor einen historischen Roman in einer ganz neuen Form schriebe? Oder zumindest neue Formen ausprobierte? Wäre das auch Geschmacksverirrung?
Wenn ein Autor einen historischen Roman nur mal in einer neuen Form schriebe! Da stimme ich völlig zu. Nur: Leider erzählen die meisten Autoren dann doch wieder nur eine lineare, kausale Geschichte ohne Willen zur Form und erklären sich die, oder ihre, Geschichte anhand überkommener Narrationsmuster, die historische Ereignisse in den dominanten Diskurs integriert.
[...] wie all das inhaltlich wie formal auf den „klassischen“ Roman zurückstrahlen könnte. Litflow hat das in Bezug auf die Buchpreisnominierungen polemisch formuliert: Um uns herum passiert die bedeutendste kulturelle Umwälzung unserer Zeit [...]