Farbloser Schlamm und Rhythmus – »Simeliberg« von Michael Fehr
Ein Krimi ohne Punkt und Komma, er spielt in einer Schweiz ohne Banken, Schokolade und Alpenidylle. Simeliberg ist ein abgelegener Ort, irgendwo im Emmental oder nahe bei. Der Dorfverwalter Griese soll den alten Landmann Schwarz von seinem Hof holen und der Sozialbehörde in der Stadt vorführen. Mit Schwarz stimmt etwas nicht, sein Frau ist verschwunden, er spinnt ein wenig sagt man im Ort, er soll unter Fürsorge gestellt werden. Es beginnt eine Geschichte von existentieller Wucht.
Erstes Kapitel
Grau
Nass
trüb
ein Schweizer Wetter
ziemlich ab vom Schuss
nur über einen pflotschigen Karrweg von oben
herab zu erreichen
in einem Krachen ein wüstes
tristes Bauernhaus mit ungestümen Dach
ein zerklüfteter Haufen aus grauen und schwarzen
Tupfen
unter dem ein Jaufen blinder Fenster leer in die
Öde starrt
Am Ende ist das Haus im schlammigen Krachen (hdt.: Graben) in die Luft geflogen, sind sieben vom Bauern in die Irre geführte, tote Jugendliche zu beklagen und Griese sitzt in der Falle. Sein Gewehr und seine Lampe werden als Indizien aus dem Schlamm gezogen. Die Fahnderin hat ihn:
Ja
du musst da jetzt durch
aber weisst
ich mag dich gut
und ich werde dir helfen
Schreiber
helfen
Ist damit die Handlung verraten, die Spannung genommen, der Spaß am Kriminalfall verdorben? Ja, ein wenig und nein, keineswegs. Denn Michael Fehr interessiert nicht das klassische Who-done-it, er spürt lieber dem Seelenleben der wortkargen Schweizer Landbevölkerung nach und protokolliert Blicke in düstere Schründe. Simeliberg hat eine Schweiz als Schauplatz, in der sich »das Liebliche ins Abgründige verkehrt«.

Grau ist der Grundton, schwarz und weiß sind die Extreme. Überall lauern Schatten, in denen nur künstliches Licht etwas Helles hervorzaubert. Der schwarze Schlamm des Krachens und das dunkle Haus des Landmanns Schwarz, kontrastieren mit grellweißen, sauber gewienerten Behördenfluren. Nur wenige der handelnden Personen tragen Namen; und wenn, dann sind auch die in der allgegenwärtigen Schwarzweiß-Kontrastierung gefangen. Oben in der Stadt und im Ort heißen sie Wyss oder Weiss, unten im dunklen Krachen Schwarz und mittendrin als zwischen den Welten umherirrender Wanderer Griese. Einzig die wirren Marskolonialisierungsideen des Bauern Schwarz (ist er nun verrückt oder nicht?) zaubern Rottöne auf die Pallette (und ein monströser Kasten von Feuerwehrwagen).

Zerklüftet und abgründig wie das Land ist die auch Sprache bei Fehr. Die Sätze sind zerhackt, die ordnende Interpunktion wird verweigert (mitunter auch die korrekte Grammatik), halbe Zeilen, einzelne Wort schieben sich untereinander, ineinander, brechen ab. Unvermittelt meint man so etwas wie einen lyrischen Rhythmus zu verspüren, nur um wenig später erneut mit wirrem Trommel-Stakkato irritiert zu werden. Der Text ist durchzogen vom schweizerdeutschen Idiom, seinen (für hochdeutsche Leser) ungewohnten Satzstellungen, seinen merkwürdigen Begriffen (ein Glossar ist beigegeben) und seinen weich-harten Lautfolgen.
Die Kommunkation ist nicht selten gestört oder verläuft einseitig. Oft wird in dunkle Flure hineingesprochen ohne zu wissen, ob überhaupt ein Zuhörer da ist. Tragende Säule der Informationsvermittlung und -beschaffung für Griese ist das Telefon. Auch hier ist er gezwungen, mit unsichtbaren Menschen in Verbindung zu treten. Die Figur Griese hört seine Dialogpartner, sieht sie aber nicht. Der Leser ist doppelt gehandicapt; er sieht und hört sie nicht, denn nur Grieses Part des Dialogs ist abgedruckt, der aus halben Sätze, isolierten Worten und kurzen Fragen, besteht. In diesen kunstvoll gebauten Gesprächen ist der Text noch stärker fragmentiert als ohnehin, sie bleiben absichtsvoll unvollständig und einseitig. Simeliberg als Ganzes funktioniert am besten, wenn es laut gelesen wird, und das hat seinen Grund.
Michael Fehr ist stark sehbehindert, er schreibt seine Texte nicht er spricht sie. Er horcht auf den Klang und das Geräusch der Worte, misst behuhtsam Takt und Tempo der Sätze und tariert die Schwingung der Perioden der einzelnen Zeile aus. Fehr kommt aus der Open Mike Bewegung, seine Texte müssen sich, mitunter im Wettstreit mit musikalischer Begleitung, auf der Bühne bewähren. Das gesprochene Wort verfliegt schneller als das geschriebene. 2014 errang Fehr mit einem Auszug aus Simeliberg beim Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Wettlesen den Kelag-Preis, also den zweiten Platz. Ein Beitrag vom 30. Juli 2014 aus der Sendereihe Kulturplatz des Schweizer Fernsehen (SRF) veranschaulicht seine Arbeitsweise und gibt Einblicke in Fehrs Produktion.
Freilich büßt die Narration etwas von ihrer ursprünglichen Kraft ein, wenn der Text abgedruckt wird. Dennoch: in seiner Verankerung im Mundartlichen bleibt Simeliberg auch als Buch zerbrechlich und wuchtig zugleich. Die knapp 130 Seiten überreden den Leser förmlich, nach dem ersten (schnellen) Durchgang auf den Spuren des Krimiplots unmittelbar einen zweiten folgen zu lassen, einen der in behutsamerem Tempo in die Tiefen des Textes eindringt. Dabei werden schweizer Befindlichkeiten offengelegt, wie die Distanz zu Fremden, die fehlende Verwurzelung des Gemeindeverwalters Griese, der als Sohn eines deutsche Vaters und einer einheimischen Mutter eben nur der Graue ist, stempelt ihn zum Aussenseiter, »auch nicht von hier / und da kommt ihr ein Leben lang nicht drüber hinweg«; genauso eine tiefgründelnde Neigung der Schweizer zu Nationalstolz, der schlimmstenfalls zum wirren Nationalismus degeneriern kann, beim Landmann Schwarz zusätzlich sozialistisch unterfüttert, ausgerechnet. Und wenn eingangs betont wurde, Fehr käme ohne Schweiz-Klischees zurecht, dann ist auch das nur die halbe Wahrheit. In Simeliberg geht es sehr wohl auch um Waffen im Keller, gehortetes Geld ohne eindeutige Herkunft, gegenwärtiges Schweigen über vergangene Schuld, sowie um Tote. Fehr kümmert sich eben nicht um die Postkarten-Klischees, die von aussen gerne in die Schweiz getragen werden, sondern um die inneren Zerr- und Vexierbilder, die sich die Schweizer selbst zeichnen und an denen sie knabbern.
Simeliberg ist eine besondere Empfehlung für alle, die sich einer Exkursion auf literarisch-experimentellen Wegen in ungewöhnliches Gelände nicht verweigern. Sie werden belohnt mit erhellenden Einblicken in die mitunter dunkel verschatteten Herzen der Schweizer und dem rhythmisch-eigenwilligen Klang der Literatursprache Michael Fehrs, belohnt mit einer Mischung aus Kargheit und Fülle. Ein schöner Blick über die Alpen in ein merkwürdiges kleines Land.(Obendrein ist das graue Leinenbändchen mit der knallroten Schrift auf dem Cover ein mustergültig gestaltetes Buch.)

(Mit einem Glossar)
Gebunden, 144 Seiten
Luzern: Der gesunde Menschenversand 2015
Mehr Informationen und eine Leseprobe auf der Webseite des Verlages.