Ein Traum hat sich erfüllt und ich halte den neuen Roman von Nino Haratischwili in den Händen. Auch wenn ich mich gerade wie der glücklichste Mensch im Universum fühle, mischt sich eine bestürzende Trauer in dieses Gefühl: Der Roman wurde nicht in die Longlist für den Deutschen Buchpreis 2014 aufgenommen.
Irgendwie bin ich dennoch sicher, dass er grenzenlos erfolgreich werden, dass man noch in Jahrzehnten von ihm sprechen wird. Denn „Das achte Leben“ ist nicht nur ein sprachliches Kunstwerk, welches fiktive und reale Ereignisse mosaikähnlich zusammenfügt. Es ist außerdem ein inhaltsreicher Roman mit einer Story, die sich anfühlt, als hätte Nino H. sie stellvertretend für alle Menschen, die in Diktaturen aufgewachsen sind, erzählt.
Ich hatte das große Glück (ein Dankeschön an die Frankfurter Verlagsanstalt!), dass ich den gesamten Roman vorab elektronisch lesen konnte. Doch weil das Lesen auf dem eReader kein Vergleich ist zum Rascheln der Buchseiten beim Umblättern sowie vom Erfassen von Buchstaben auf echtem Papier, will ich heute erneut eintauchen in das liebevoll gestaltete echte Buch. Und tatsächlich vermisse ich bereits Stasia, Christine, Kitty, Niza und all die anderen wundervollen starken Frauen … Doch vorerst ein weiterer Dank und eine tiefe Verbeugung:
Liebe Nino Haratischwili,
nicht in meinen stärksten Phantasien hätte ich mir vorzustellen vermocht, was dieses Buch mit mir machen wird. Dass es mich so komplett vereinnahmen wird. Dass viele Dinge in der realen Welt plötzlich unwichtig und klein erscheinen, weil ich nur weiterlesen, tiefer eintauchen will. Geradezu magisch werde ich hineingesogen, versinke in einer Art von Paralleluniversum. Und bin so unendlich dankbar. Für jede einzelne Szene. Jeden Satz –
Das 20. Jahrhundert hat gerade begonnen und der berühmte georgische Schokoladenfabrikant wird Vater. Hier, mit dem Ururgroßvater beginnt die Geschichte der Familie Jaschi. Anastasia, genannt Stasia, wird geboren. Viele Jahre später wird sie die Kinder Kolja und Kitty zur Welt bringen. Jeder dieser Figuren ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Buch 1, Buch 2 … Buch 8. Ich finde das wunderbar überschaubar und will inhaltlich hier gar nichts vorwegnehmen. Verblüffend finde ich, mit wie wenig Figuren der Roman auskommt. Und wie vertraut sie mir alle werden. Stasias übersinnliche Fähigkeiten, die verstorbenen Freundinnen zu sehen, scheinen auf mich überzugehen. Plötzlich habe ich das Gefühl, die Romanfiguren in meiner Nähe zu spüren und ich fühle mich tatsächlich wie in einem Paralleluniversum. Ich habe das Gefühl, alle im Roman beschriebenen Ereignisse würden in Echtzeit neben mir ablaufen. Ich frage mich, wo ist die geheime Tür? Wo der versteckte Spiegel, um ganz und gar in die Welt der Familie Jaschi zu kommen? Wenn eine Figur stirbt, zerreißt es mir das Herz. Wenn Niza ihren Großvater umarmt und ihm all seine Tyrannei verzeiht, dann spüre ich die körperliche Wärme der beiden Körper. Selten bin ich Figuren so nah gekommen.
In meinen Gedanken trinke ich die magische und sehr schwarze, heiße Schokolade. Ich sehe den kaputten und schönen grauen Himmel Georgiens. Ich laufe durch die Räume des Grünen Hauses, sehe den granatapfelroten und mit Ornamenten verzierten Teppich. Durch meinen Kopf geistern die wütenden Songs von Waladimir Wyssotzki, tanzen sterbende Schwäne ihr Pas de deux zu der aufwühlenden Musik von Tschaikowsky. Ich sehe schwarze Rosen und bläulich gefärbten Schnee. Ich rase durch dieses gesamte 20. Jahrhundert, das sibirische Gulags und Menschen wie den Generalssimus und den Kleinen Großen Mann hervorgebracht hat. Aber eben auch so mutige und starke Figuren, wie sie im Roman beschrieben werden. Mit den Worten von Nizas Lehrer David und ein paar grandiosen Songs von Wyssotzki möchte ich meinen kleinen Vorgeschmack auf ein ganz großes Buch beenden. Mit dem folgenden Satz hat David nicht nur Nizas Denken sehr geprägt, sondern mir eine wundervolle Weisheit geschenkt:
„Aus allen Varianten deines Ichs such dir die Unmöglichste aus.“
Wssotzki. Spazitje Naschi Duschi
Nino Haratischwili. Das achte Leben. Für Brilka. Frankfurter Verlagsanstalt Frankfurt am Main 2014. 1275 Seiten. 34,-€
Ich lese nun deine Rezension und deine Gedanken zu diesem Buch. Freue mich nun fast noch mehr richtig in dieses Buch einzutauchen, zu verschwinden. Der Earl Grey könnte gern zu der magischen schwarzen Schokolade werden …
Ich höre die Musik und bin nun gleich weg. In den Zeilen gehen meine Augen auskostend immer weiter. Endlich kann ich dieses Buch lesen.
Warum es nicht auf der Longlist ist, verstehe auch ich nicht. Aber manche Bücher stehen vielleicht einfach für sich. Ja, ich denke auch es wird grandios erfolgreich sein.
Und manchmal gibt es Worte und Gedanken zu Büchern, die einfach auch erstklassig geschrieben wurden. Danke dafür Masuko.
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Eintauchen und verschwinden – das hast du schön gesagt. Genieß es, du hast eine wirklich schöne Zeit vor dir mit diesem Roman.
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Liebe Masuko,
dein Beitrag hat mein literarisches Herz erwärmt und höher eingeschlagen. Seit ein paar Tagen liegt das Buch hier, noch in Plastik eingeschlagen. Die Worte, die du gefunden hast, um dein Lektüreerlebnis zu beschreiben, haben mich infiziert und angesteckt – am liebsten würde ich sofort die Folie entfernen und loslesen.
Liebe Grüße
Mara
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Ja, dann mach es! Genieße es, die Folie gaaaanz langsam zu entfernen, den wundervollen Schutzumschlag zu entfalten und dann den ersten Satz zu lesen. Ich bin sicher, der Roman gefällt dir! Ich will ja auch unebedingt ein zweites Mal eintauchen.
Liebe Grüße, Masuko
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Das Buch hat mich fasziniert und biswelen umgehauen. Einhundert Jahre russische Geschichte im Familienbereich, man versteht sofort, wieso wir im Westen so wenig von dieser fremden Welt wissen und verstehen. Denkt man die hohe Politik weg, so bleibt ein gewaltiger und interessanter Einblick in diesel stemde Welt.
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Ja, Nino H. schafft es, dass man sich bei diesem dicken Roman nie langweilt und dass man nie den Faden verliert. Und ganz nebenbei erfährt man die Geschichte eines ganzen Jahrhunderts. Es freut mich, dass dich das Buch ähnlich begeistert und beeindruckt hat. Schöne Grüße!
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Im Beitrag von Jo M Ubags sollen die letzten Worte im Text lauten: Einblick in diese fremde Welt.
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