Anthropozän und Angstlust

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Anthropozän und Angstlust

Von Reinhard Meier, 23.10.2019

Die Klimakrise bewegt und verändert nicht nur die Politik. Sie beeinflusst und befördert auch den Sprachwandel. Zwei Beispiele.

«Der Mensch erscheint im Holozän» heisst eine Erzählung von Max Frisch, deren Titel im deutschen Sprachbereich zum geflügelten Wort geworden ist. Wissenschaftlich gesehen stimmt dieser Titel eigentlich nicht, denn gemäss der Fachzunft tritt der Homo Sapiens bereits am Ende des Pleistozäns in Erscheinung – also vor dem Holozän. Den Beginn des Holozäns (populär auch als Nacheiszeitalter bezeichnet) datiert die Wissenschaft auf einen Zeitraum, der etwa 11’700 Jahre zurückliegt.

Dennoch ist der Titel von Frischs Erzählung nicht unbedingt falsch. Der Autor erzählt  die Geschichte des 73-jährigen Herrn Geiser, der in einem Tessiner Bergdorf wohnt und mit seinem Gedächtnisverlust kämpft. Zu diesem Zweck schreibt er allerlei enzyklopädisches Wissen auf oder schneidet es aus dem Lexikon aus, um es sich einzuprägen. Wenn ihm auf seiner Wanderung bei stürmischem Wetter der Satz «Der Mensch erscheint im Holozän» durch den Kopf geht, ist das wohl ein Hinweis darauf, dass er da in seinem Gedächtnis wieder etwas durcheinandergebracht hat.

In dieser Kolumne soll indessen nicht der Begriff Holozän im Vordergrund stehen, sondern vielmehr der Ausdruck Anthropozän, der noch kaum bekannt war, als Max Frisch in den 1970er Jahren seine Erzählung schrieb. Heute stösst man in den Medien immer häufiger auf  diesen Begriff. Er wurde laut Wikipedia von dem niederländischen Forscher und Nobelpreisträger Paul Crutzen in die Diskussion geworfen. Er soll zum Ausdruck zu bringen, dass nach dem Holozän ein neues Erdzeitalter begonnen hat, in dem die klimatischen und geologischen Verhältnisse auf unserem Planeten zunehmend vom Menschen beeinflusst werden.

Es liegt auf der Hand, dass durch die intensivierte Debatte um die Klima-Erwärmung und das zunehmende Bewusstsein einer anrollenden globalen Krise auch das Bedürfnis gewachsen ist, dieser sich abzeichnenden epochalen Veränderung durch neue Begriffe Ausdruck zu verleihen. Der Terminus Anthropozän gehört in diese Kategorie. Man tut wohl auch als nicht zünftiger Naturwissenschafter gut daran, ihn sich zu merken. Herr Geiser in Max Frischs oben erwähnter Erzählung hätte vielleicht auch versucht, ihn sich einzuprägen, wenn der Begriff Anthropozän zur Zeit der Entstehung dieses Textes schon im Schwange gewesen wäre.

Auch ein anderes Wort, das viel mit der Klima-Krise zu tun hat, ist mir unlängst in einem Kommentar in der «Süddeutschen Zeitung» aufgefallen. Es heisst «Angstlust». Es ist eine Art Verkürzung und Verdichtung der schon lange vor der Klima-Debatte vielzitierten Formel «Lust am Untergang».

In den 1950er Jahren hatte der deutsche Kritiker Friedrich Sieburg einen Essayband unter diesem Titel publiziert. Das Buch, in dem der Autor sich sehr kritisch mit den Verhältnissen und dem gesellschaftlichen Bewusstsein des noch jungen westdeutschen Nachkriegsstaates auseinandersetzte, hatte damals ziemlich viel Aufsehen erregt. Seine Prognose für die Zukunft der Bundesrepublik war nicht optimistisch – ähnlich wie diejenige des Philosophen Karl Jaspers, der seine düstere Prophezeiung einige Jahre später in der Schrift «Wohin treibt die Bundesrepublik?» veröffentlichte.

Die Begriffe «Angstlust» und «Lust am Untergang» signalisieren ein Paradox: Dass mit den Ängsten vor dem Abgrund, dem Weltende und der Katastrophe häufig auch eine gewisse  Faszination einhergeht. Das hat offenbar mit dem Bedürfnis nach Nervenkitzel oder der Neugier nach einem totalen Umbruch aller Verhältnisse zu tun. Diese widersprüchliche Verbindung von Angst und Lust scheint die Menschheit (oder Teile davon) seit eh und je in Bann geschlagen zu haben. Man denke nur an die Apokalypse-Beschreibung in der Bibel, die vielen Endzeit-Beschwörungen im Mittelalter, an Spenglers «Untergang des Abendlandes» – oder die Popularität von Katastrophenfilmen und die überbordende Flut von Krimi-Geschichten auf dem Buch- und Filmmarkt.

Gewiss, die Demonstrationen und schrillen Forderungen im Kampf gegen den Klimawandel sind weitherum durch begründete Sorgen und Ängste getrieben. Aber man sollte dabei die historischen Erfahrungen und psychologischen Einsichten, die sich mit solchen Bewegungen verknüpfen lassen, nicht einfach ausblenden. Der Begriff «Angstlust» bringt diese Ambivalenz prägnant auf den Punkt.

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Der früher in Zürich lebende Psychoanalytiker Harold Lincke hat über Angstlust geschrieben. Ein Foto dabei zeigt einen Jungen an der Hand seines Vaters, der am Jahrmarkt einer abenteuerlichen Bahn zuschaut und sich mit der anderen Hand nach der Hose an sein Glied fasst. Viele Abenteuer, welche bei uns nicht nur im sportlichen Bereich zu finden sind, bieten Angstlust. Darüber zu sinnieren macht Spass.

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