Der Totgesagte macht weiter
Fast exakt sechs Wochen hat das als Shakespearsches Drama, als griechische Tragödie betitelte Trauerspiel um den Präsidentschaftskandidaten der französischen Konservativen gedauert. Molière und Tartuffe wurden aufgerufen, manche empfanden das Ganze als pathetische Tragikomödie, andere als Kasperltheater. Und besonders gerne wurden die Metaphern aus der Seefahrersprache bemüht, oft bis zum Überdruss: das Schiff, das ein Leck hat; das Wasser, das bis zum Hals steht; der Kapitän, der bei Sturm auf seinem Posten bleibt oder die Ratten, die das sinkende Schiff verlassen. Als François Fillon dann schon 300 konservative Parteikader davongelaufen waren, hiess es in einem ganz besonders bösen Kommentar, nicht die Ratten hätten das Schiff verlassen, sondern das Schiff die Ratte.
Wie auch immer – am Ende ging der Lotse nicht von Bord .
Sechs Wochen Drama
Sechs Wochen in einer eigentlich schon heissen Phase des Wahlkampfs liegen hinter Fillon, sechs Wochen, in denen es um keine Inhalte mehr ging, in denen sich auch keiner der anderen Präsidentschaftskandidaten etwa mit Marine Le Pen auseinandersetzte, als hätten alle die im Grunde wichtigste Gegnerin vergessen und als wäre es nicht höchste Zeit, endlich zum Beispiel Marine Le Pens Programm auseinanderzunehmen. Sechs Wochen, in denen die Scheinbeschäftigungsaffäre um Fillons Ehefrau alles andere dominierte.
Es waren sechs Wochen, in denen Francois Fillon ein hysterisches, zumindest extrem emotionales Klima in diesem Wahlkampf geschaffen hat. In einer noch nie dagewesenen Art und Weise – wenn man einmal von der extremen Rechten absieht – hat ein möglicher künftiger Staatspräsident die dritte und vierte Macht im Staat angegriffen: die Justiz – zumal als Präsidentschaftsanwärter – in unzulässiger Weise kritisiert und zum Halali auf die Presse geblasen .
Besonders die Töne Fillons, in denen von Komplott und Verschwörung, von politischem Mord, von einer instrumentalisierten Justiz, einem Angriff auf die Demokratie und einem bürgerkriegsähnlichen Klima die Rede war, haben Dutzende konservative Spitzenpolitiker in den letzten Tagen dazu bewegt, sich von ihm abzuwenden, waren das doch Töne, wie man sie bisher ausschliesslich von der extremen Rechten gehört hatte.
Gaullistisch
Nicht zufällig hat der mögliche Ersatzkandidat, Alain Juppé, bei seiner definitiven Absage für die Präsidentschaftskandidatur davon gesprochen, dass die Mitglieder und Sympathisanten der konservativen Partei „Les Républicains“, die Fillon zu seiner Unterstützung auf die Strasse, d. h. auf den Trocadéro-Platz gerufen hatte, sich in diesem von Fillon geschaffenen Klima radikalisiert hätten.
Nebenbei bemerkt: Ein Präsidentschaftskandidat, der seine Anhänger auf die Strasse ruft und sie gegen seine eigene Partei ausspielt, auch dies ist bislang einmalig. Und bei dieser Gelegenheit dann auch noch General De Gaulle zu missbrauchen, im Grunde unverschämt.
Zur Rettung Fillons am Trocadéro
Mit dem blau-weiss-roten Fahnenmeer und gut 50‘000 Anhängern am Trocadéro, dem Platz der Menschenrechte, sollte ganz offensichtlich suggeriert werden, es gehe hier um die Rettung der Nation und nicht einfach um die Rettung des Präsidentschaftskandidaten François Fillon, der bald vor dem Untersuchungsrichter wird aussagen müssen. Dieser Kandidat konnte es sich nicht verkneifen, unter Regenschauern und den Klängen der Marseillaise auf dem Trocadéro-Platz auch noch vom ewigen Frankreich, dem Frankreich der Kathedralen zu sprechen und von der „gewissen Idee Frankreichs“, dieser Phrase De Gaulles, die alles und nichts heissen kann.
Natürlich sollte diese inszenierte Machtdemonstration auch viele von Fillons betagten Sympathisanten an die berühmte Demonstration vom 30. Mai 1968 erinnern, als Hunderttausende Gaullisten auf den Champs-Elysées – darunter ein wie im Opiumrausch schwankender André Malraux – für den General auf die Strasse gegangen waren und de facto das Ende von Mai 68 besiegelt hatten.
Ein Sieg?
Auch Fillon wirkte nach dieser Demonstration wie im Rausch und war überzeugt, 200‘000, ja sogar 300‘000 Teilnehmer gezählt zu haben. Nicht nur, dass er jeden einzelnen Demonstranten fünf oder sechs Mal gesehen haben muss, er hat auch seine erzkonservativen Anhänger, von denen viele aus der inzwischen legendären Bewegung gegen die Homo-Ehe kommen und von denen gut die Hälfte bereits das Rentenalter erreicht hat, mit dem Volk schlechthin verwechselt. Dieses berühmte „Volk“, die einzige Instanz, vor der er sich zu verantworten habe und nicht vor einer Justiz, die gezielt anklagend gegen ihn ermittelt habe. Auch diesen nicht gerade staatsmännischen und verantwortungsvollen Satz hat der konservative Kandidat für das höchste Amt im Staat im Lauf der sechswöchigen Turbulenzen gesprochen.
„Er hat sie geschafft“, titelt nun eine Tageszeitung, da Fillon entgegen fast allen Prognosen diesen denkwürdigen Machtkampf gewonnen hat. Hier bin ich, hier stehe ich und hier bleibe ich, signalisierte der verbissene und verbohrte Kandidat, den letztlich nichts und niemand zum Aufgeben bewegen konnte. Selbst Don Sarkozy, in der Rolle des Paten, zu dem sie pilgerten, um sich Rat zu holen, und der glaubte immer noch im Hintergrund die Fäden ziehen zu können, musste sich geschlagen geben.
Spuren und Folgen
Fillon hat gewonnen, doch Fillons Image liegt in Trümmern und die immer wieder beschworene und absolut notwendige Einheit zwischen der Rechten (LR) und dem Zentrum (UDI) hat das sechs Wochen dauernde Psychodrama nicht überlebt. Das Zentrum hatte sich von Fillon derart dezidiert losgesagt und ihn zum Verzicht aufgefordert, dass es kaum mehr zurückrudern kann.
Gleichzeitig sind unter den über dreihundert mehr oder weniger namhaften Konservativen, die sich öffentlich und manchmal sogar lautstark von François Fillon abgewandt hatten, eine ganze Reihe sozusagen über Nacht bereits wieder zu Kreuze gekrochen, als klar war, das Fillon nicht nachgibt. In wohl formulierten Tweets sicherten sie dem Immer-Noch-Kandidaten ihre volle Unterstützung zu, so als sei nichts gewesen. Ein derart windelweiches und nicht gerade appetitliches Verhalten dürfte exakt das sein, was die Wähler heute bei Politikern definitiv nicht mehr ertragen können, und den ohnehin ramponierten Ruf der Politikerkaste nicht sonderlich aufpolieren .
An dritter Stelle
Derweil gibt es bereits die dritte Meinungsumfrage innerhalb weniger Tage, die François Fillon im ersten Wahlgang am 23. April nur an dritter Stelle und mit 7–8 Prozent Rückstand auf den parteilosen Mittelinks- Kandidaten Macron sieht. Noch gut 40 Tage hat er, um diesen Rückstand aufzuholen. Sollte er es nicht schaffen und erstmals in der 5. Republik kein Kandidat der traditionellen Rechten in die Stichwahl um das Präsidentenamt kommen, dürfte dies wohl das Ende der konservativen Partei „Les Républicains“ bedeuten.
Es stimmt gar nicht, dass vor lauter Fillon-Skandal und Penelope-Theater in Frankreich die Politik vergessen geht. (War gerade dort, bis Les Sables d O. am Atlantik: Bravo Alan! Bravo "La Frabrique"!) Zumindest Jean-Luc Mélenchon ("La France insoumise") macht mit seiner "Revue de la semaine" im Internet (www.mélenchon.fr) und auf gut besuchten Veranstaltungen im ganzen Land seine politischen Positionen unmissverständlich klar: Raus aus der Nato ("Cette Europe de la guerre!") wie seinerzeit schon De Gaulle, raus aus den für die lokale Wirtschaft ruinösen Handelsabkommen Ceta und TTip. Ultimative Neuorientierung der EU weg vom Paradies der Grossindustriellen, Ferntransporteure und Finanzspekulanten (das einseitig nur Deutschland nützt) - hin zu einem ökologischen und sozialen Wirtschaftsraum mit Nachhaltigkeit. Sonst müsse halt auch Frankreich raus. Das sind doch ebenso klare wie kluge Ansagen. Leider hat er wohl ebenso wenig Chancen, wie Sanders in den USA. Aber er setzt immerhin eine Alternative zum Sumpf der korrupten Pariser Elite, die vom rechts-verbiesterten Fillon bis zum links-blassen Hollande-Adlaten Hamon reicht. Macron gehört auch dazu – wäre aber noch übler: Er kommt ebenso aus der arroganten Szene der Finanzspekulanten und der Casino-Hochfinanz , wie wichtige Minister in der gefährlichen Trump-Truppe in Washington. Für Frankreich und die FranzösInnen wäre dieser aalglatte Macron eventuell die verheerendste Variante. Es ist ein Jammer (aber sehr verständlich), dass Alain Juppé (Borderaux) sich von diesem ganzen Theater nun definitiv distanziert hat N. Ramseyer, Bern
Fillon passt nicht in Ihr politisches Schema, werter Herr Woller. Das meine ich völlig wertfrei. Wenn man seine wohl selbstverschuldete Situation ebenfalls wertfrei begutachtet, kann sein Nichtaufgeben aber auch imponieren. Warum sollte er aufgeben? Sind seine sogenannten Vergehen bewiesen? Wenn ja, hätte er wohl schon längst adieu gesagt. Oder diese Frage: Haben sich die Franzosen von ihm schon endgültig abgewendet? Offenbar nicht. Sie kennen ja wohl die Franzosen. Les Dupont's wissen doch nur zu gut, dass in Ihrem Land noch nie ein Politiker eine reine Weste gehabt hat. Ob sie sich nun mit linken oder rechten Versprechen ins Elysée schwadroniert haben. Oder ist in Frankreich die Verlässlichkeit von PolitikerInnen besser als anderswo in den meisten EU - Ländern? Oh, wie wär's schön! Und was, wenn die Dupont's doch noch die Karte Fillon spielen, so typisch à la français - obschon.....Zum Beispiel im Wissen (wahrscheinlich auch der eine oder andere Linke), dass er wohl das beste Programm für ihr Land hätte. Zumindest für eine Uebergangszeit - bis die EU ohnehin auseinandergefallen sein wird. Spielt es wirklich noch eine so wichtige Rolle, wer in pleiten EU-Staaten zurzeit die politische Führung innehat? Zu den Abgängen in Fillon's Wahlteam noch: Jetzt weiss er wenigstens, wem er im Amt ohnehin nicht hätte trauen können. Auch das ist Politik - in Reinformat! Wie sie natürlich nur im bürgerlichen Lager stattfindet - würde ein Schelm mit Augenzwinkern dagegenhalten. Lass' uns alle aufwachen und die Trauerspiele hüben wie drüben mit mehr Gelassenheit beobachten. Die Wählerschaft tut dies schon längst. Sie verteilt Karten - je nach Stimmung und persönlicher Situation. Im Wissen, dass die allesentscheidenden Probleme von der Politik ohnehin nicht gelöst werden können. SEIN BESTIMMT BEWUSSTSEIN. Danke, Karl Marx! Wahrscheinlich wusste er auch, dass dadurch Ideologien entstehen. Jede davon überzeugt, die einzig Wahre und Richtige zu sein. Eine, ich sage mal kleine Aenderung im persönlichen oder beruflichen Leben - und schon kommen da und dort Meinungen ins Rutschen. Sei es in der Politik, bei Medien oder anderswo. Das wissen auch die französischen Wählerinnen. Und wir alle wissen: Dieses grossartige Land ist so was von heruntergewirtschaftet - bankrott! Wie noch andere in der EU. Fillon's Denken könnte immerhin etwas bewirken, z.B. dass die Reichen und Investoren wieder zurückkehren. Die Linke wird dies aber zu verhindern wissen. So nach dem Motto: Wenn schon, soll es allen schlecht geben!