Es geht in die vierte Woche
Nach drei Tagen wieder einmal ein Gang durch die alte Hauptstrasse von Dieulefit. Die Sonne mag scheinen, aber je länger die Ausgangssperre anhält, desto trister erscheint einem der idyllische Weg vom Platz vor der katholischen zum Platz vor der evangelischen Kirche zwischen den engen, hohen Häusern aus dem 18. und 19. Jahrhundert.
Wer wird überleben?
Schon in ganz normalen Zeiten und selbst in der Touristensaison zwischen Ostern und Oktober stehen hier rund zehn Geschäfte leer. Nun sind auch die sonst allzeit Geöffneten und die, die sich für die Saison zu rüsten begannen, bis auf drei allesamt verrammelt – und plötzlich macht man sich Sorgen um sie und das künftige Leben im Ortszentrum.

Da ist Damise und ihr ständig etwas trauriges Lächeln, mit dem sie hier ihre Keramik schlecht und recht verkauft und in normalen Zeiten nur gerade so über die Runden kommt. Ihr Geschäft und Atelier sind geschlossen, schon seit drei Wochen und für mehrere weitere Wochen, gerade jetzt, da in Teilen Frankreichs die Osterferien beginnen. Man sieht Damise nicht mehr. Ihr Auto hat sie auf dem Platz vor der katholischen Kirche abgestellt. Seit dem 17. März hat es sich nicht mehr bewegt.
Dann sind da drei Galerien, von denen man sich ohnehin ständig fragt, wie sie sich über Wasser halten. Zum Teil sind sie jetzt leergeräumt.
Da ist das Schokoladegeschäft, das zwar noch geöffnet ist, aber keine Kunden mehr hat und sich via Facebook fast verzweifelt bemüht, seine Osterkreationen zu verkaufen.
Die Teestube hat ihren Rolladen nur zur Hälfte heruntergelassen und informiert per Anschlag, dass sie Tee auch ins Haus liefert.
Einer der wenigen Orte in der Hauptstrasse, an dem sich noch etwas regt, ist ein Restaurant, das gerade zu einem Feinkostladen umgebaut wird. Hier wird gewaltig renoviert und vielleicht werden sie ja zum richtigen Zeitpunkt fertig, wenn die Krise vorbei ist.
Ein paar Schritte weiter hat einer das «Café de la France» gerade neu übernommen. Mitte März sollte er die Beiz eröffnen. Der Blick hinter die Fensterscheiben zeigt ein Szenario, als sei man, wie nach einem Unglück in einem Atomkraftwerk, Hals über Kopf davongelaufen.
Das Buchantiquariat, das gerade von einem anderen Ort in die Hauptstrasse umgezogen war und natürlich auch auf eher wackligen Beinen steht, will es nach zwanzig Tagen Schliessung in dieser Woche mit einem «Drive» versuchen. An drei Tagen, von zehn bis zwölf kann man vorher bestellte Bücher in Plastik verpackt abholen.
Und da ist der Friseurladen. Die Besitzerin, die gerade in der kleinen Schlange vor der Metzgerei in der Hauptstrasse steht, sieht besorgt aus. Auf Facebook hatte sie am 1. April geradezu rührend daran erinnert, dass sie ihren Laden vor exakt 29 Jahren eröffnet hatte.
Vor wenigen Tagen hat sie im Inneren ihres geschlossenen Geschäfts ein paar Lichter installiert, Blumen in die Auslage gestellt und das auch per Facebook verbreitet, wie um zu sagen: Vergesst uns nicht, wir leben noch.
Wie viele dieser Geschäfte in der Hauptstrasse nach Ende der Pandemie dann wirklich noch leben werden, wird man wohl erst gegen Jahresende wissen.
Derweil hat die Bürgermeisterin in ihrem mittlerweile zehnten Brief an die Bewohner von Dieulefit darüber informiert, dass das Krankenhaus im dreissig Kilometer entfernten Montélimar im Rhonetal, das über drei Dutzend Intensivbetten verfügt, inzwischen an den Grenzen seiner Kapazitäten angelangt ist. Tags zuvor hatte man mehrere Patienten von dort ins rund hundert Kilometer entfernte Nîmes transportieren müssen. Und auch die Lage im grössten Krankenhaus des Departements, in Valence, sei äusserst angespannt.
Wir sind im Krieg
Je länger diese Ausgangssperre dauert, desto mehr häufen sich die kritischen Stimmen über Präsident Macrons Kriegsrhetorik der letzten Wochen. Frankreichs Staatschef scheint in der Coronakrise vergessen zu haben, dass man ihm diese martialische Rolle als oberster Kriegsherr, in die er seit Amtsantritt schon mehrmals geschlüpft war, bisher nicht wirklich abgenommen hat und er sich deswegen bereits mehrmals den Spitznamen «Westentaschen-Napoléon» gefallen lassen musste.
Rony Braumann, der legendäre Ex-Präsident der Hilfsorganisation «Ärzte ohne Grenzen» bezeichnete die Metapher vom Krieg gegen das Coronavirus dieser Tage unter anderem als Risiko dafür, dass man mit dieser Wortwahl den Krieg der einen gegen die anderen und in der Bevölkerung den Argwohn untereinander fördere, weil schliesslich jeder Einzelne im Land ein Träger des Virus sein könne, welchem der Präsident den Krieg angesagt hat.
Ausserdem sieht der ehemalige Chef von «Ärzte ohne Grenzen» in dieser Kommunikationsstrategie des Élyséepalastes einen Versuch, jede Kritik und jede Diskussion zu vermeiden, nach dem Motto: Wenn Krieg ist, wird nicht diskutiert, sondern man marschiert im Gleichschritt, mit der Blume im Gewehrlauf.
Plötzlich Helden
Das mit dieser Kriegsrhetorik einhergehende Phänomen, wonach nun seit zwei Wochen alle Pfleger, Krankenschwester und Ärzte mehrmals täglich und bei jeder Gelegenheit von der Staatsspitze zu Helden des Landes erklärt werden, hat in Braumanns Ohren etwas Zynisches, Unappetitliches und Perverses. Schliesslich habe man seit Jahrzehnten denen, die jetzt plötzlich als Retter der Nation verherrlicht werden, die Budgets radikal gekürzt und zehntausende Krankenhausbetten im Land gestrichen – allein 4’000 weitere, seit Emmanuel Macron an der Macht ist. Ganz zu schweigen davon, dass Pflegepersonal und Krankenschwestern in Frankreich so erbärmlich schlecht bezahlt werden, dass sie in den letzten Jahren der sich ständig verschlechterndern Arbeitsbedingungen massenweise ihren Beruf an den Nagel gehängt haben. Vor allem in den Krankenhäusern der Region Paris mit ihren teils unerschwinglichen Mieten herrschte schon lange vor der Coronakrise akuter Personalmangel. Hier wurde die Zahl der Betten nicht nur wegen Sparmassnahmen reduziert, sondern auch, weil schlicht kein Personal mehr zur Verfügung steht.
Vertuschen
Eines ist mittlerweile sicher: Der hilflose Versuch der Regierung in Paris, mehr als eine Woche lang zu kaschieren, dass es um die Versorgung mit Atemschutzmasken und Corona-Tests im Land ausgesprochen schlecht bestellt ist, wird Spuren hinterlassen und das Vertrauen der Bevölkerung in Präsident und Regierung insgesamt weiter untergraben. Anstatt klar zu sagen, was Sache ist, hat man laviert und mit einer unseligen Kommunikationsstrategie am Ende wieder einmal den Eindruck erweckt, man wolle die Bevölkerung für dumm verkaufen, indem man mehr als eine Woche lang erklärt hatte, Masken und Tests seien schlicht nicht von Nutzen.
Den Vogel dabei schoss die arme Regierungssprecherin, Sibeth Ndiaye, ab, die bei einer ihrer Pressekonferenzen erklärte, sie selbst wisse zum Beispiel nicht mal, wie man eine Schutzmaske richtig aufsetze, und von daher nütze sie nichts. Für diesen peinlichen Auftritt wird die Frau in Ministerwürden jetzt auch noch mit ihrem Vornamen bestraft. In diesem Land, in dem Wortspiele eine Art Nationalsport sind, ist natürlich sofort fast jedem aufgefallen, dass man Sybeth auch anders schreiben kann. «Si bête» – so doof.
Ein Humorist brachte die missglückte Vertuschungsstrategie der Regierung gestern auf den Punkt, indem er eine Karikatur des Premierministers sagen liess: «Das Tragen von Schutzmasken ist nutzlos und nicht ratsam – so lange man keine hat. Es wird obligatorisch sein, sobald man welche hat.»
Hass kriecht aus den Löchern
Der untergründige Hass gegen Staatspräsident Macron seit Ausbruch der Gelbwestenbewegung im November 2018 ist mit Ende der teils sehr gewalttätigen Bewegung zwar von der Bildfläche, aber im Grunde nicht wirklich aus dem Land verschwunden.
Er tummelt sich in diesen Tagen der Coronakrise in alter Frische auf dutzenden Twitter- und Facebookseiten, die häufig – aber bei weitem nicht nur – im rechtsextremen Spektrum angesiedelt sind. Dort spriessen Sätze wie: «Sie haben es gewusst und haben nichts getan. Köpfe müssen rollen» oder man findet Hashtags, die da lauten: «Sie werden dafür bezahlen», «Wir vergessen nichts» oder «Team von Unfähigen», die zehntausendfach gelikt oder geteilt werden. Und im Internet ist auch eine Kampagne im Anrollen, mit dem Ziel, massenhaft Klage gegen einzelne Minister zu führen wegen Inkompetenz, Gefährdung anderer oder gar wegen Totschlags. Kurzum: die da oben sind an allem schuld, an Corona erkrankte Politiker werden bevorzugt behandelt, die Eliten belügen das Volk. Der an Covid-19 verstorbene Ex-Minister Patrick Devedjian wurde aus diesen Kreisen sogar noch nach seinem Tod beschimpft.
Auch in Dieulefit
Das Brummeln im Land und die Haltung, wonach die Regierung seit Wochen auf der ganzen Linie versagt habe, die Eliten die kleinen Leute auch in dieser Situation wieder für dumm verkaufen würden und an der ganzen Misere die Hauptschuld trügen – sie sickert auch an diesem sonst so humanistisch gesinnten, von seiner Geschichte als Schutzort während der nationalsozialistischen Besatzung geprägten Städtchen langsam durch.

Die Ehefrau von einem der vier Kandidaten in Dieulefit bei den jüngsten, so unglücklichen Kommunalwahlen im Zeichen von Covid-19, ist zum Beispiel vor wenigen Tagen auf Facebook mit der Regierung äusserst ungeschminkt ins Gericht gegangen. Unter dem Titel: «Je suis en colère» (Ich bin wütend) ähneln ihre Tiraden gegen Präsident und Regierung im Tonfall der archetypischen, unverfrorenen Fischhändlerin am Alten Hafen von Marseille, die vor nichts und niemandem und schon gar nicht vor irgendeiner Autorität Angst hat und sich den Mund niemals verbieten lässt.
«Man muss uns jetzt die Wahrheit erklären», poltert sie und fragt im Stil derer, die hinterher immer alles besser wissen: «Warum hat die Regierung nicht schon am 24. Januar, als die ersten drei Coronafälle in Frankreich bekannt wurden, eine Ausgangssperre verhängt? Warum muss das Pflegepersonal unter erbärmlichen und schändlichen Bedingungen arbeiten, gerade in unserem Land, das weltweit die 6. Wirtschaftsmacht ist? Warum werden schon wieder die Franzosen dazu herangezogen, Schutzmasken herzustellen für das Krankenhauspersonal und für die ganze Bevölkerung? Warum müssen Eltern es ertragen, dass ihre Kinder sterben und dass sie sie dabei nicht mal in den Arm nehmen dürfen? Warum sterben die Senioren alleine, isoliert und fern ihrer Familien in den Altenheimen? Warum sind es wieder die Franzosen, die keine Arbeit mehr haben, aber in die Tasche langen und Geld spenden sollen, um Covid-19 zu bekämpfen?»
Der Eintrag endet mit den Worten «Merde, alors!» und wurde prompt von über einem Dutzend Zeitgenossen gelobt mit Äusserungen, deren Heftigkeit überraschte und die teilweise nach Verschwörungstheorien rochen.
«Die Pest»
Noch am Abend des 17. März, als hierzulande die Ausgangssperre begann, hatte man angefangen, Albert Camus’ 1947 erschienen Roman «Die Pest» noch einmal zu lesen, eine in diesen Zeiten wahrlich faszinierende, ja fast überraschende Lektüre. Man hatte nicht mehr in Erinnnerung, dass eine derartig grosse Anzahl von Situationen, Verhaltensweisen und Problemen einen an die aktuelle Krise erinnern würde.
Da sind die Isolation, die Versorgungsengpässe, damals schon der Präfekt, der verlängerte Arm des Zentralstaats im Departement und die schwierigen Entscheidungen, die er zu treffen hat. Da sind die sozialen Ungleichheiten angesichts der Seuche, die Unmöglichkeit, von Verstorbenen wie gewohnt Abschied nehmen zu können. Die Überarbeitung und grenzenlose Müdigkeit der Hauptperson Doktor Rieux und seiner freiwilligen Helfer und Pfleger, da ist die verzweifelte Suche nach einem Serum, das Wirkung zeigt, oder das grosse Thema der Solidarität in Ausnahmezeiten und das der kleinen Gaunereien. Da ist von Profiteuren der Krise die Rede und von denen, die ausbrechen und um jeden Preis die Stadt verlassen möchten, und vor allem auch von der Trennung von geliebten Menschen sowie von der Unmöglichkeit – vor den Zeiten des Internets und des Telefons in jedem Haushalt –, mit diesen Menschen zu kommunizieren, da selbst die Post nicht mehr funktioniert.
Und zugleich hat «Die Pest» ja noch einen ganz besonderen Reiz, da man die rund 300 Seiten des Romans auch auf einer zweiten Ebene lesen kann: als Metapher für die Besetzung Frankreichs durch die Nationalsozialisten.
Gerade in diesem Kontext scheint der allerletzte und hier frei übersetzte Absatz des Romans fast etwas Prophetisches zu haben. Die Quarantäne der gesamten Stadt ist aufgehoben, die Stadttore sind wieder geöffnet und das – vorläufige – Ende der Seuche wird von der Bevölkerung mit einem Freudenfest gefeiert.
«Rieux hörte die Freudenschreie, die aus der Stadt nach oben drangen, und dachte daran, dass diese Freude weiterhin bedroht bleibt. Denn er wusste, dass diese Menschenmenge im Freudentaumel ignorierte, was man in allen Büchern nachlesen konnte, dass nämlich der Bazillus der Pest niemals stirbt und verschwindet. Dass er jahrzehntelang in den Möbeln oder der Wäsche dahinschläfern kann. Dass er geduldig in Zimmern und Kellern, in Truhen, Taschentüchern und im Papierkram wartet und dass vielleicht der Tag kommen könnte, an dem zum Unglück und als weitere Lehre für die Menschen, die Pest ihre Ratten wieder aufweckt und sie losschickt, um in einer glücklichen Stadt zu sterben.»
Am Karfreitag, ab 15 Uhr, wird ein vom Wiener Rabenhoftheater organisierter, zehnstündiger Lesemarathon von Camus’ Meisterwerk auf ORF FM4 zu hören sein. Insgesamt 120 Personen, von Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek bis zu Altbundespräsident Heinz Fischer haben für dieses Projekt ihre Stimmen zur Verfügung gestellt.
Guten Morgen, ich schreibe Ihnen aus Le Poet Celard, wohne seit über 40 Jahren hier in der Gegend,... Suis confinée au Poet à mon domicile... Et reçois de mon beau frère en suisse vos écrits... C est étrange.. Auch wenn viel Land um mich herum, ist meine Realität die eurer Beschreibung nach ähnlich.... Ich bin auch keramikerin aber weit entfernt von dem turistenrummel ("enfin d avant) in dieulefit... Natürlich ist auch bei mir der Verkauf zu null geschrumpft... Mais je jouis de la vue sur les trois becs, des oiseaux qui chantent de nouveau et essaie de tenir la tête haute.. Pas évident tous les jours... . Ein mal pro Woche einkaufen in jenem von Ihnen so 'pittoresque' beschriebenen Dorf...dieulefit... Langsam un parcours de combattant..... Ich wünsche Ihnen weiterhin 'bon confinement' in unserem schönen Süden, effectivly, bleiben Sie gesund, wie Sie gesagt haben, unsere spitaler sind überfordert... Und waren es schon vorher... Il ne vaut mieux pas être obligé d y aller..
Mein Sohn, Student in Savoyen, ist seit drei Wochen zu Hause blockiert, meine Tochter war krank gerade als man noch reisen konnte und ist so blockiert in ihrer cité in Bordeaux, elle est en Master, C est dommage, mais elle n pourra pas nous rejoindre.... Er blabla... Et beaucoup plus. Aber es freute mich wieder mal mit einem Schweizer zu plaudern (en sens unique...)
Schöne Tag no
Barbara