„Incredibly risky“

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„Incredibly risky“

Von Heiner Hug, 16.09.2018

Der Druck auf Theresa May, die Briten nochmals über den EU-Austritt abstimmen zu lassen, wächst.

Auf Volksentscheiden und Parlamentsbeschlüssen gründet jede Demokratie. Doch auch das Volk kann seine Meinung ändern. Dann zum Beispiel, wenn neue Erkenntnisse da sind. Wir Schweizerinnen und Schweizer sind die ersten, die wissen, dass Volksentscheide nicht für die Ewigkeit gelten müssen. Wie oft haben wir ein zweites Mal anders abgestimmt als beim ersten Mal.

Die Zeiten, die Wirtschaft, die Gesellschaft, die Politik und das Polit-Personal ändern sich, und so könnten auch Meinungen ändern. Stures Beharren auf einmal Beschlossenem wäre lähmend. Es zeugt von Stärke, wenn man den Mut hat, die Meinung zu ändern. Natürlich sind Volksmeinungen zu respektieren, doch auch ein Volk kann umdenken.

Die Stimmung kippt

Solche Fragen kümmern im Moment die Briten. Die Engländer und die Waliser haben sich am 23. Juni 2016 für einen Austritt aus der EU entschieden. Insgesamt stimmten 51,85 Prozent der stimmenden Briten für den Brexit. Gegen den Austritt votierten die Schotten mit 62 Prozent, die Nordiren mit 56 Prozent und die Londoner mit 60 Prozent.

Gut zwei Jahre später hat die Stimmung gekippt. Laut der von der „Financial Times“ veröffentlichten „Poll of Polls“ (ein Durchschnittswert aller wichtigen Meinungsumfragen) spricht sich heute eine Mehrheit der Briten für einen Verbleib in der EU aus. Die jüngsten Umfragen zeigen, dass bis zu 56 Prozent der Befragten gegen den Brexit sind.

Eine Mehrheit für eine zweite Abstimmung

Der Meinungswandel überrascht nicht, denn viele sind sich erst jetzt bewusst geworden, was ein Brexit bedeuten könnte: Mehr Arbeitslose, sinkender Lebensstandard, Abzug von Banken und anderen internationalen Unternehmen, Druck auf das Gesundheitswesen, Schwächung im Kampf gegen den Terrorismus und sinnloses bürokratisches Gezerre mit dem übrigen Europa.

Umfragen des Instituts YouGov und des Fernsehsenders Sky News ermittelten, dass heute eine Mehrheit der Briten eine erneute Volksabstimmung über den EU-Austritt will.

Gekippt ist die Stimmung auch, weil die Austrittsverhandlungen „badly“ verlaufen. Dieser Ansicht sind 73 Prozent der von YouGov befragten Briten. Sie geben jedoch nicht nur Theresa May die Schuld, sondern sind der Ansicht, dass jeder andere Premierminister die gleichen Probleme hätte.

Prominente Unterstützung

Die Stimmen, die ein zweites Referendum fordern, mehren sich. Jetzt haben die Brexit-Gegner sehr prominente Unterstützung erhalten. Der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan forderte am Sonntag in einem Gastbeitrag für die Zeitung „The Observer“ einen erneuten Urnengang. Die Konsequenzen, die ein Brexit für die Wirtschaftsentwicklung, die Arbeitsplätze und den Lebensstandard vieler Menschen habe, seien zu gross, um nicht ein zweites Mal abstimmen zu lassen.

Viel Zeit für die Austrittsverhandlungen bleibe nicht, schreibt Khan. Jetzt gebe es nur noch zwei Möglichkeiten: kein Abkommen oder ein schlechtes Abkommen. „Beides ist incredibly risky. Ich glaube nicht, dass Theresa May das Mandat hat, so schamlos mit der britischen Wirtschaft und den Lebensgrundlagen der Menschen zu spielen“, schreibt Kahn im Observer.

Premierministerin May hat sich erst kürzlich wieder gegen eine zweite Volksabstimmung und für den Brexit ausgesprochen. Sie steht unter dem Druck der Hardliner und Scharfmacher in ihrer Partei. Dazu gehört der oft irrlichternde frühere Aussenminister Boris Johnson, der zusammen mit Ukip-Parteiführer Nigel Farage eine populistische Kampagne für den Austritt führte.

Blick auf Labour

Mitentscheidend könnte jetzt die Labour Party sein. Ihre Führung sprach sich bisher ebenfalls für den Brexit aus. Doch auch bei Labour scheint der Wind zu drehen. Die Partei tritt am kommenden Sonntag zu ihrem viertägigen Jahreskongress in Liverpool zusammen. Nicht nur Theresa May wird die Liverpool-Diskussionen zum Brexit mit grösster Aufmerksamkeit verfolgen.

Ein Brexit hebt das Selbstbewusstsein und den Stolz mancher Briten, die sich in alter Tradition von Rest-Europa abheben wollen. Doch abgesehen davon, bringt der Brexit der Insel gar nichts. Im Gegenteil. Die gut zwei Jahre seit der Abstimmung genügten, um zu zeigen, dass ein EU-Austritt vor allem negative Konsequenzen haben wird – sowohl für Grossbritannien als auch für das übrige Europa. Brexit: is it worth it?

Der Teufel scheut das Weihwasser und so die EU einen ev erfolgreichen Austritt der UK. Nicht unwahrscheinlich, dass der Geist eines zweiten Referendums aus der Flasche der EU-Höflinge entlassen wurde. Hatte nicht Cameron mit der gleichen Arroganz das Referendum überhaupt ermöglicht? In der sicheren Annahme, dass das Ergebnis EU-freundlich ausfallen wird? Es ist diese unappetitliche brüsseler Überheblichkeit, welche die Völker abstösst.

Der Druck auf Theresa May, die Briten nochmals über den EU-Austritt abstimmen zu lassen, wächst.

Haben die Briten die Asylanten-Zwangs-Quoten von Angela Merkel schon vergessen? Reichen den Briten die EU-Armutsmigranten wie die kinderreichen Sinti und Roma aus der Slowakei, Ungarn und Rumänien noch nicht? Ist das britische Sozialsystem so robust? Will sich das stolze ehemalige GB-Imperium den Anordnungen aus Brüssel fügen, unterordnen? Soll die Abstimmung so lange wiederholt werden bis das richtige Ergebnis rauskommt?

Prinzipiell stimme ich mit Ihnen überein, in einer Demokratie kann auch ein Volk seine Meinung wechseln, insbesondere, wenn neue Fakten und Erfahrungen vorliegen. Genauso kann sich nicht nur eine einzelne Person irren, sondern auch ein ganzes Volk. Auch damit haben wir in der Schweiz in der Vergangenheit genügend Erfahrungen gemacht. Solche Fehlentscheidungen an der Urne wieder zu korrigieren ist keine Schande, sondern ein Zeichen von Einsicht. Allerdings bedarf der Entscheid zu einem zweiten Urnengang zum gleichen Thema Mut der führenden Politiker eines Landes UND viel wichtiger, muss die (direkte) Demokratie über das Anfangsstadium ihrer Entwicklung heraus gekommen sein, um den Entscheid einer Wiederholung mit selbstbewusstem Auftreten verteidigen zu können. Ich denke, hier liegt die Schwachstelle in Grossbritanien. Viel Erfahrungen mit direkten Demokratie-Übungen ist nicht vorhanden. Man verschanzt sichgegenwärtig hinter dem „Volkswillen“ auch wenn dieser lediglich aus einer Mehrheit von 1% besteht. Auch hier kämpft die Schweiz bekanntlich mit den selben Phänomenen. Der Unterschied liegt allerdings darin, dass wir auch nach harten Argumentationskämpfen versuchen, alle Parteien und Minderheiten, mögen sie noch so knapp unterliegen, wieder ins Boot zu holen und ihnen bei der Ausgestaltung der neuen Gesetze genügend Gehör zu verschaffen. Hoffen wir, dass ähnliches in GB ebenfalls gelingt. Vielleicht kommt es ja doch noch zu einem zweiten Referendum...

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