Leben nach der Pandemie
Die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen, also geopolitischen Folgen der durch das Virus Sars-CoV-2 verursachten Krankheit Covid-19 betrifft alle Länder der Welt und alle Gesellschaftsschichten. Insofern kann die Pandemie durchaus mit einem epochalen Ereignis wie dem Zweite Weltkrieg verglichen werden.
Allerdings sind Sieger und Besiegte, Gewinner und Verlierer weniger offensichtlich, als dies nach dem Sieg der Alliierten über die Achsenmächte der Fall war. Alles erscheint möglich von einer allmählichen Rückkehr zur vor-pandemischen Normalität bis hin zum Beginn grundlegender Umschichtungen. So wie der Zweite Weltkrieg die Dekolonisierung der Dritten Welt eingeleitet und sich das politische Antlitz der Weltgemeinschaft verändert hat.
Kommt es auf das System oder die Führung an?
Für Antworten ist es offensichtlich noch zu früh, ein paar grundlegende Hauptpunkte können aber bereits angesprochen werden. Im Bereich der Politik wird wohl die Suche nach dem Sieger im Wettbewerb der Systeme eine der Hauptfragen sein. Bereits steht praktisch fest, dass das Virus in China seinen Anfang machte, dort systemisch bedingt eine Weile lang vernachlässigt wurde, um dann mit brutaler Effizienz erfolgreicher als anderenorts bekämpft zu werden. Lässt sich also eine Pandemie nur, oder jedenfalls besser, mit autoritären, ja totalitären Massnahmen bekämpfen?
Was für uns in europäischen Demokratien normal erscheint, ist es nicht unbedingt in vielen anderen Teilen der Welt. In der Krise gilt die Selbstverantwortung des Einzelnen nichts, der starke Mann an der Spitze allein befiehlt. Nicht nur in China, auch beim grossen, grundsätzlich demokratischen Widerpart in Asien. Der indische Premierminister Modi hat mit einem verspäteten, plötzlichen und radikalen „Shutdown“ auf die Krise reagiert. Dabei bleibt offen, ob für die Millionen Ärmsten im Subkontinent auf der Fussreise nach Hause das Virus oder der Hunger die grössere Herausforderung bildet.
Kommt es also weniger auf das System an als auf den Mann, der beim Ausbruch einer Krise an der Spitze steht? Ein Verweis auf die USA von Trump, welche im Moment einer Katastrophe entgegentaumeln, ist hier unausweichlich. Eine der wenigen Frauen an der Spitze, Angela Merkel, scheint zu bestätigen, dass inspirierte und inspirierende Autorität im Höhepunkt der Krise tatsächlich eine wichtige Rolle spielt.
Werden sich Pikettys Rezepte durchsetzen?
Nach der Pandemie wird das ganze Ausmass der weltweiten, virusbedingten Wirtschaftskrise offensichtlich werden. Kein schöner Anblick; der Einschnitt wird tiefer sein als alles, was wir seit dem Zweiten Weltkrieg erlebt haben. Aber wird sich Natur und Ausprägung des gegenwärtigen, grundsätzlich kapitalistischen Wirtschaftssystems ändern, gar bleibend anders sein als vor der Krise? Der bekannte französische Wirtschaftsprofessor Thomas Piketty, der über soziale Ungleichheit und ihre Beseitigung forscht und publiziert („Kapital im 21. Jahrhundert“, „Kapital und Ideologie“) geht davon aus, dass nur ein katastrophales Ereignis eine einigermassen ausgeglichene Verteilung schaffen kann. Als Beispiel nennt er die hohen marginalen Steuersätze in Frankreich, aber auch in den erzkapitalistischen USA der unmittelbaren Nachkriegszeit, zur Abtragung der staatlichen Kriegsverschuldung.
Werden also Steuerpolitik und andere regulatorische Massnahmen des Staates, der ja im einhelligen Urteil von links bis rechts als einziger die sozialen und wirtschaftlichen Verwüstungen der Krise kurzfristig abwenden konnte und kann, bei der nachträglichen Krisenbewältigung ebenfalls im Vordergrund stehen? Ein Beginn davon datiert vor der Krise, so etwa die durch alle OECD-Staaten befürwortete Regel, dass Unternehmenssteuern dort geschuldet werden, wo der Betriebsgewinn anfällt. Und nicht auf einer Steuerinsel.
Auf jeden Fall werden die grossen Unternehmen über die Bücher, respektive ihre Produktionsplanung gehen müssen. „Just in time“-Produktion, ebenso wie weltweite Liefer- und Mehrwertketten, welche auf reibungslosem Transport beruhen, werden überprüft werden müssen. Ob das allein der unternehmerischen Selbstverantwortung zu überlassen sei, dürfte für hitzige Diskussionen sorgen. Nach der grossen Finanzkrise 2007/8 griff der Staat, basierend auf seinen umfangreichen Hilfspaketen für private Finanzinstitute, massiv in die Finanzwirtschaft ein, mit Mindestvorschriften und Strukturgeboten. Allenfalls könnte man sich ähnliches, diesmal wirtschaftsweit vorstellen, als unumgängliche Gegenleistung der aktuellen Milliardenpakte zur Nothilfe.
Welche Folgen für Entwicklungsländer?
„Der verantwortliche Kapitalismus auf dem Prüfstand“ titelt die „Financial Times“ einen der unzähligen jetzt zu lesenden Essays über die gesellschaftlichen Folgen der Krise. Oder pointierter formuliert: Gibt es auch moralische Konsequenzen der Krise, indem Notstände eben erst durch die Krise für alle offensichtlich und damit auch politisch durchsetzbar geworden sind? So etwa das Missverhältnis in der Bewertung und Belohnung verschiedener Wirtschaftszweige. Die Unterbewertung der Medizinalberufe, speziell des Pflegepersonals, ist lediglich das offensichtlichste Beispiel.
Neben diesen zentralen, auf den Einzelnen gerichteten Überlegungen werden wohl eine ganze Reihe von geopolitisch bedeutsamen Fragen der internationalen Zusammenarbeit aufgegriffen werden. Einige wurden von internationalen Organisationen, aber auch von verantwortlich handelnden nationalen Politikern bereits angesprochen. So etwa schlug Uno-Generalsekretär Antonio Guterres vor, Wirtschaftsboykotte, ja ganze Konflikte während der Covid-19-Krise zumindest einzufrieren.
Was geschieht mit den Entwicklungsländern, teilweise von der medizinischen Krise noch nicht stark betroffen, aber bereits schon im vollen Wirtschaftsabschwung begriffen in der Folge des Zusammenbruchs der Nachfrage in den alten Industriestaaten? Falls, oder doch eher wenn einmal die Seuche auch in Afrika grassiert, werden sich vorhandene Probleme dort noch vervielfachen. Und, wie die Erfahrung zeigt, auch exportiert, etwa in Form von Klima- und Hungerflüchtlingen. Dies ganz abgesehen vom moralischen Dilemma, welches Hunderttausende von Todkranken in Ländern ohne genügende Gesundheitsstruktur darstellen.
Im politischen Kurzzeitgedächnis nach Mustern für diese so tiefgehende Krisenbewältigung zu suchen, dürfte schwierig sein. Der Pessimist sieht eine national betonte, „right or wrong my country“-Mentalität dominierend in den künftigen Beziehungen innerhalb und zwischen Gesellschaften. Optimistischer ist ein Ausblick, welcher davon ausgeht, dass die Besinnungspause Corona-Virus auch schon vor der Krise vorhandene und debattierte Massnahmen nun näherbringt, weil sie politisch eher umsetzbar sind.
Wir brauchen eine Welt, in der das Gemeinwohl zählt und nicht das Gewinnstreben Einzelner. Wir brauchen Steuergerechtigkeit und ein garantiertes Grundeinkommen.
Eine Wirtschaft, die sozial und umweltverträglich ist und für das Gemeinwohl produziert, und wo die bisher schlecht oder gar nicht bezahlte Care-Arbeit, grösstenteils von Frauen geleistet, in der Oekonomie verankert ist.
Eine Wirtschaft, wo der Umweltschutz, der Schutz der Menschenrechte, die Armutbekämpfung, Solidarität usw. in ihrer Agenda steht und nicht das Gewinnstreben Einzelner.
Die jetzige Krise mit dem Corona-Virus zeigt, dass die seit Jahrzehnten geführte Liberalisierung ein Riesen-Problem ist, weil es an allem fehlt.
Die Steuergeschenke an Konzerne und Multis und ihre Privilegierung – die Gewinne sind jahrzehntelang nur an Einzelne geflossen - haben die Staaten zum sparen und Abbau von Stellen in allen Bereichen gezwungen. Schon lange zeigen sich die Folgen der Liberalisierung auf der Welt.
Wir brauchen keine Wirtschaft und Hochfinanz (Blackrock/Vanguard/Statestreet u.a. beherrschen die Welt), die Klimaverantwortung und Menschenrechte nicht wahrnimmt und verantwortlich ist für viel Klimaschädigung, Armut, Elend und Flüchtlinge in der Welt.