Man hat entschieden, dass etwas getan werden muss
Journal21.ch will die Jungen vermehrt zu Wort kommen lassen. In der Rubrik „Jugend schreibt“ nehmen Schülerinnen und Schüler des Zürcher Realgymnasiums Rämibühl regelmässig Stellung zu aktuellen Themen.
Sara Beeli ist sechzehnjährig und besucht die fünfte Klasse des Realgymnasiums Rämibühl. Sie ist Gewinnerin des regionalen „Jugend-debattiert“-Wettbewerbes 2017 und vertrat den Kanton Zürich am nationalen Finale in Bern.
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Tagtäglich erreichen uns Nachrichten, die entsetzlicher kaum sein könnten. Gewaltakte, Rassismus, Sexismus, die Zerstörung unseres Planeten – die Auswahl ist schier unendlich. Doch zum Glück herrscht Einigkeit, dass unverzüglich und mit aller Vehemenz etwas dagegen unternommen werden muss. Was geschieht nun folglich konkret? Die Antwort ist simpel: rein gar nichts.
Es ist kaum zwei Monate her, dass in Syrien ein Giftgasanschlag verübt wurde. Weltweit bekundeten Politiker, Prominente und Millionen von Menschen auf der ganzen Welt ihr Entsetzen und ihre Trauer. Ein Sondertreffen wurde eiligst einberufen, alles mit Rang und Namen strömte voller zur Schau gestellter Betroffenheit herbei, um gegen die entsetzliche Situation vorzugehen. Donald Trump kündigte eine „schlagkräftige“ Antwort an, einen militärischen Angriff seitens der USA.
Leere Drohung
Inzwischen kann getrost festgehalten werden, dass ein solcher weder geschehen ist noch geschehen wird, trotz weiterer dramatischen Handlungen des Präsidenten: Harsche Worte, die von zukünftigen Handlungen sprachen, welche nie stattfinden sollten. Wie so oft entpuppte sich die Drohung als leer, wie sonst auch zog die internationale Empörung keinerlei Konsequenzen nach sich.
Trumps Vorgehensweise widerspiegelt, was millionenfach geschieht. „Thoughts and prayers“, so lautet der wohl meistgenutzte Ausdruck von Mitgefühl, dem schon vor allzu langer Zeit jegliche Glaubwürdig- und Ernsthaftigkeit geraubt wurde, ehe er zu einer hohlen Floskel verkam. Ändert sich durch den Sprechakt denn irgend etwas für die Betroffenen? Wird irgendein Fortschritt erzielt, ein Handeln erzwungen? Nein.
Feige Taktik
„Es muss etwas getan werden!“ ist unser schützender Tarnanzug, der dafür sorgt, dass wir unbeschadet aus der schmutzigen Sache herauskommen. Es soll zeigen, dass ich mich einsetze und Verantwortung zeige, dass ich ein guter, tatkräftiger Mensch bin. In Wahrheit bedeutet „Es muss etwas getan werden“, dass ich nichts tue. Und so bleibt es bei leeren Drohungen, internationalen Treffen ohne oder mit scheinbaren Entscheidungen, medialer Empörung, kollektiver Betroffenheit. „Thoughts and prayers“ heisst, dass nichts geschieht.
Jede und jeder von uns trägt einen Teil dazu bei, dass diese feige Taktik aufgeht. Statt zu fragen, wie lange noch, haben wir längst akzeptiert, dass unsere Welt so funktioniert. Wir haben uns angepasst, spielen das Theater mit. Lese ich einen Artikel über eine Schiesserei in einer amerikanischen Schule, denke ich mir: „Ach nein, das ist furchtbar. Die armen Angehörigen der Ermordeten, die armen, traumatisierten Überlebenden. Da muss man doch was tun.“
Ich will nicht in einer Welt leben, die Gräueltaten ungesühnt über sich ergehen lässt. Und dennoch: Nach der Fertigstellung dieses Artikels werde ich je nach Wetter in den See springen oder einen Film schauen. Ich werde zu meinem Leben zurückkehren, als wüsste ich nicht, wie verabscheuungswürdig es teilweise ist. Und was tun Sie, nachdem Sie diesen Artikel zu Ende gelesen haben? Sehen Sie: Das ist ja das Fatale.
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Verantwortlich für die Betreuung der jungen Journalistinnen und Journalisten von „Jugend-schreibt“ ist der Deutsch- und Englischlehrer Remo Federer (r.federer@rgzh.ch)
Weitere Informationen zum Zürcher Realgymnasium Rämibühl unter www.rgzh.ch
Liebe Sara!,
Sie haben so recht. Genauso "ergeht es" mir. Das "erlebe ich" seid 50 Jahren so. Ich frage mich, was es gebracht hat, all die Jahre Nachrichtenjunkie gewesen zu sein. Das Geld für die Zeitungsabos etc. hätte ich wohl besser an Ärzte ohne Grenzen überwiesen. Roger Willemsen schreibt darüber in seinem Buch "Wer wir waren". Und immer noch sehe ich zu. "Man müßte" in die Politik gehen. Aber das ist ein andres Leben. Das wollte ich nicht geführt haben. Aber deshalb akzeptiere ich noch lange nicht, daß die Regierungen sich die Macht von den Konzernen aus der Hand nehmen ließen. Der Mittelweg müßte sich finden lassen: wenn die Politik nicht das ist, was man leben möchte, dann zumindest informiert sein und zivil-legal-zivilcouragiert aufbegehren. Andrerseits, was hab ich in meinem Leben nicht schon alles unterschrieben an Aufrufen und Aufbegehren. Was hat es gebracht? Sie sehen, als Rentner am andren Ende des Lebens sehe, verstehe und fühle ich genau so, wie Sie das schreiben. Trotzdem bin ich der Meinung, Rentner sollten ab 80 nicht mehr wählen ... aber das ist ein andres Thema. Herzliche Grüße, Ihr Thomas Esche (Biologe und Geograph)
Liebe Sara
da haben Sie nicht nur einen super Artikel geschrieben, sondern auch noch das Ergebnis des G7-Gipfels prophetisch vorausgesagt... Jetzt muss aber was geschehen in Europa: Darin sind sich Macron und Merkel einig. Lachhaft, wenn es nicht so tragisch wäre!
Liebe Sara,
Ich bin zwar schon 77, kann mich aber mit deiner jugendlichen Empörung wie dem schon recht erwachsenen Frust voll identifizieren. News über unmenschliche Verbrechen sind allgegenwärtig, auch wenn uns die wirklichen Fakten und Hintergründe oft undurchsichtig bleiben (auch im Beispiel Syriens).
Die lahme Reaktion der “Welt”, die grassierende Beschränktheit und Feigheit von Entscheidungsträgern wie auch die Scheinheiligkeit von "thoughts and prayers” sind auch mir ein Gräuel, und den zelebrierten Leerlauf internationaler Treffen kenne ich aus Erfahrung mehr als genug (ich war während vielen Jahren als Beobachter und, wie es heute heisst, “Influencer”, an unzähligen Konferenzen und Debatten präsent, inklusive sehr oft im UNO Sicherheitsrat).
Auch stimmt es dass die Möglichkeiten intelligent und effizient auf die unsägliche Misere zu reagieren für den Einzelnen ziemlich begrenzt sind.
Trotzdem gibt es unzählige Menschen die es versuchen: sie nehmen sich ganz generell in die Verantwortung, tragen zum Frieden zu Hause und zum Nachdenken im Bekannten- und Berufskreis bei, unterstützen die best möglichen Anwärter für politische Ämter und andere einflussreiche Positionen, arbeiten für’s IKRK oder engagieren sich für andere glaubwürdige NGOs, bekämpfen bigotte Ansinnen und fundamentalistische Avancen jeglicher Couleur, vergessen auch Freude und Humor nicht ganz und schreiben inspirierende Bücher oder – wie Du – anregende Artikel.
Brava, keep going, there is hope.
Peter Küng
... ich fühle mit, das Ganze ist unendlich zynisch, denn die Player könnten intervenieren, auch unser Parlament, unsere Regierung, unser System, inkl. dem Bildungssystem, denn irgentwoher kommt ja der Reflex selbst das Unsägliche gelten zu lassen. Es ist einfach zu erklären, es ist unser Gehirn, das sich die Arbeit einfach macht, dieses ist auf Optimierung eingestellt, nicht auf Ausgleich und Gerechtigkeit. Es wäre eine Kulturleistung hier dagegen anzutreten, aber die wenigsten Schulen, Organisationen üben das ein, Ihre Schule ist da eine Ausnahme, aber sie könnte noch besser machen, da ist noch viel Luft nach oben, aber wenn man an der Spitze ist, kommt wieder das Gehirn, das sich mit der Differenz zum Nächstschlechteren zufrieden gibt. Bitte weitermachen mit Schreiben.
Klare Worte einer jungen Frau, die recht hat. Sie ruft uns in Erinnerung, dass Leben mehr beinhaltet als Konsum und wegschauen. Es ist schon beängstigend, wie apathisch wir all die kleineren und grösseren Verheerungen abhaken, als sei alles, was ist, in Stein gemeisselt. Nein ist es nicht! Und das auch ich daran erinnert werde, verdanke ich dem obigen Artikel.
Liebe Frau Beeli
Ich danke Ihnen für Ihre gelungene Analyse der um sich greifenden Scheinheiligkeit! Früher sagte man, 'ein Wort ist ein Wort' und meinte, dass dem Wort eine Tat folgen wird. Heute ist ein Wort tatsächlich nur noch das, und es verhallt meist ohne jedes Echo, dafür mit umso mehr Brimborium. 'Gesagt, getan' hat ausgedient. Heute haben wir dafür 'gesagt, vergessen'.
Liebe Sara, hab Dank für Deinen so treffenden Artikel.
Tatsächlich ist die Spannung zwischen dem, was wir als 'Gut' erachten und dem was wir in der Welt sehen und auch selbst dazu beitragen, oft schwer auszuhalten.
Und für all das Ungute in der Welt sind ja nicht nur die 10% wirklich bösen Egomanen zuständig, sondern auch der grosse Anteil an Gleichgültigen.
Bedenken muss man allerdings auch die sehr verzerrte Darstellung der Welt durch die Medien. Diese sind an Skandalen, Sex und Crime interessiert (und deren Leser offensichtlich auch). Aber es gibt einen sehr grossen Teil des 'Guten' im Leben. Das sind Freundschaften, familiäre Beziehungen, Nachbarschaftshilfe, Pfarrer Sieber, die Heilsarmee, die Arche, das Sozialamt, die Sozialversicherungen, WWF, Amnesty International und vieles Weitere, das nicht den Weg in die Medien findet.
An all das soll man auch denken und sich nicht ob all den unguten Nachrichten depressiv und handlungsunfähig machen zu lassen.
Nein, trotzig und freudig im See baden gehen und mit Bekannten und Freunden sich am Leben freuen und sich gemeinsam einsetzen, dass eben dies für immer mehr Menschen auf dieser Erde möglich wird.