Overtourismus adé? Kyiv statt Kiew
Sprachpuristen, die sich seit langem über die Überflutung des deutschen Idioms mit angelsächsischem Wortgut ärgern, haben für einmal Grund zur Freude. Dank der Corona-Epidemie ist die Ausbreitung des Begriffs «Overtourism» schlagartig zum Stillstand gekommen. Das Virus hat, wie man weiss, den Tourismus überall zum Erliegen gebracht. Folglich klagt heute auch niemand mehr über Overtourismus.
Dieses seit einigen Jahren in Mode gekommene Wort bezeichnet laut Wikipedia «eine Entwicklung, die das Entstehen von offen zutage tretenden Konflikten zwischen Einheimischen und Besuchern an stark besuchten Ausflugszielen» fördert. Statt des englischen Overtourismus könnte man zwar auch das deutsche «Übertourismus» gebrauchen, aber das scheint kaum jemanden zu interessieren.
Noch vor zwei Jahren zählte das Wort Overtourism in der Redaktion des Oxford Dictionary als Kandidat unter den letzten zehn für das Wort des Jahres 2018. Mit solchen Spitzenplatz-Aussichten ist vorläufig Schluss.
Doch alles hat zwei Seiten und des Sprachpuristen und Naturschützers Freud ist der Tourismusbranche Leid. Wie gerne würden sich die Hoteliers in Luzern, die Betreiber der Jungfrau- und Rigi-Bahnen, die Uhrenläden in Zürich und die Schifffahrtsgesellschaften am Lac Léman mit der Lösung von Overtourismus-Problemen beschäftigen – anstatt das Gespenst eines möglichen Bankrotts wegen ausbleibender Touristenscharen am Horizont auftauchen zu sehen.
Wirtschaftlich weniger wichtig, aber politisch bedeutungsvoll ist die Sprachanpassung bei der Bezeichnung der ukrainischen Hauptstadt. Während vieler Generationen trug diese den Namen Kiew. Doch seitdem die Ukraine vor 31 Jahren offiziell die Unabhängigkeit von Russland und der Sowjetunion erlangte, setzen sich die ukrainische Regierung und viele Ukrainer für die ukrainische Bezeichnung Kyiv ein (Aussprache: Ki-iv). Das ist zwar für viele Ausländer eine sprachliche Herausforderung und gewöhnungsbedürftig.
Aber das Bedürfnis selbstbewusster Ukrainer ist verständlich, sich auf die eigenen Sprachwurzeln zu besinnen und gegenüber der lange Zeit gebräuchlichen russischen Bezeichnung ihrer Hauptstadt Distanz zu markieren. Dies umso mehr, als das Putin-Regime in Moskau die Eigenständigkeit der einstigen Sowjetrepublik weiterhin nicht vollumfänglich respektiert und sich trotz früherer vertraglicher Garantien für berechtigt hält, die Krim-Halbinsel zu annektieren und in der Ostukraine Krieg zu führen.
Im deutschsprachigen Raum ist die Schreibweise Kyiv für die ukrainische Hauptstadt noch wenig verbreitet. Aber mehrere einflussreiche angelsächsischen Medien wie die «New York Times», die «Washington Post», das «Wall Street Journal», der «Guardian» und die BBC haben die sprachliche Anpassung an das neue ukrainische Selbstverständnis schon vor einiger Zeit vollzogen.
Auch beim Namenswechsel der indischen Metropole Bombai zu Mumbai hat es ja länger gedauert, bis die Adaption an den einheimischen Sprachwandel allgemein akzeptiert war.
Mit derselben Begründung müsste man ab sofort Warszawa anstatt Warschau sagen und schreiben. Oder wie lange dauert es, bis besonders aufgeschlossene Weltbürger fordern, man müsse jetzt
東京 sagen und auch schreiben, statt das altbekannte Tokio zu nennen. Natürlich müsste man die sprachliche Anpassungsforderung auch in die andere Richtung stellen: Also ab sofort München (statt Munich), Wien (statt Vienna) und Genève (statt Genf/Geneva) für alle. Man sieht: So geht das doch nicht. Politische Korrektheit und Verständlichkeit sind nicht immer Freunde. Dort, wo etablierte deutsche Namen bestehen, sollte man diese auch weiter im Interesse der Verständlichkeit verwenden dürfen.