«Shoot First, Ask Questions Later»
Gäbe es keine Handy-Kameras, es wäre in Zeiten der Corona-Pandemie wohl nie weiter bekannt geworden, was am 23. Februar 2020 in Brunswick (Georgia) im tiefen Süden Amerikas geschah. An jenem sonnigen Sonntagnachmittag joggte der schwarze 25-jährige Ahmaud Arbery durch das Vorortsquartier Satilla Shores und kam an einem Haus vorbei, dessen weisser Besitzer sich im Vorgarten aufhielt. Der 64-jährige Gregory McMichael, ein früherer Polizeidetektiv, rief seinem 34-jährigen Sohn Travis, die beiden Männer packten ihre Waffen, eine Schrotflinte sowie einen Revolver und nahmen mit ihrem Pick-up die Verfolgung des Joggers auf.
«Halt, halt», riefen sie dem verwackelten 36-sekündigen Video zufolge dem rennenden Ahmaud Arbery zu: «Wir wollen mit dir reden.» Travis stieg mit der Flinte aus dem Wagen, während Gregory mit dem Revolver auf der Ladefläche des Trucks stehen blieb. Zwischen Travis und Ahmaud entspann sich ein Gerangel um das Gewehr, es fielen drei Schüsse und der junge Schwarze sank tot zu Boden.
Blinde Justiz
Dem Polizeibericht zufolge sagte Gregory McMichael aus, er habe geglaubt, der Schwarze sehe aus wie ein Verdächtiger, der in der Nachbarschaft zwei Einbrüche verübt hatte. Zwischen dem 1. Januar und dem 23. Februar aber war der Polizei in Brunswick nur ein Einbruch gemeldet worden. Doch mehr als die beiden weissen Männer zu befragen, tat die lokale Justiz nicht. Zwei Staatsanwälte erklärten sich in der Folge wegen ihrer Nähe zu Gregory McMichael für befangen. Der Fall schien zu versanden.
Der eine Strafverfolger, George E. Barnhill, hatte in einem Brief an die Polizei geschrieben, die beiden Männer im Pick-up hätten sich seines Erachtens rechtskonform verhalten und Travis Michael habe aus Selbstverteidigung gehandelt. Im Übrigen sei Ahmaud Arbery vorbestraft wegen Ladendiebstahls und Verstosses gegen Bewährungsvorschriften: «Es scheint, als ob es die Absicht (von Gregory und Travis McMichael) war, diesen eines Verbrechens Verdächtigen zu stoppen, bis die Polizei eintraf. Dem Gesetz des Staates Georgia zufolge ist das vollkommen legal.»
Öffentliche Empörung
Doch zwei Monate nach dem tödlichen Rencontre in Georgia nahm der Fall vergangene Woche Fahrt auf, als auf Facebook ein Video der Verfolgungsjagd auftauchte, das ein Nachbar der McMichaels aufgenommen hatte. Auch wuchs in der weiteren Öffentlichkeit die Empörung über den Vorfall und das zögerliche Vorgehen der Justiz in Georgia. Proteste wurden angekündigt. Le Bron James, Amerikas derzeit wohl grösster Basketballstar, äusserte sich zornig über Twitter: «Wir werden buchstäblich gejagt jeden Tag/jedes Mal, wenn wir die Sicherhit unseres Heims verlassen. Kannst nicht einmal verdammt joggen gehen.»
Der demokratische Präsidentschaftskandidat Joe Biden sagte, Ahmaud Arbery sei praktisch kaltblütig «vor unser aller Augen gelyncht» worden. Selbst Donald Trump meldete sich aus dem Weissen Haus zu Wort: «Mein Mitgefühlt gilt den Eltern und der Freundin des jungen Gentlemans.» Er verlange, sagte der Präsident, «einen vollständigen Bericht».
Auf jeden Fall fühlte sich die Justiz in Georgia Mitte vergangener Woche endlich bemüssigt, Gregory und Travis McMichael zu verhaften und des Mordes anzuklagen. Doch dürfte es angesichts der Corona-Pandemie noch einige Zeit dauern, bis den beiden Männern der Prozess gemacht wird. Ob sie für ihre Tat auch verurteilt werden, ist eine offene Frage.
Schlechte Gesetze
«Manchmal wird schreckliche Gewalt nicht verfolgt, weil der Strafverfolger schlecht ist», weiss Dana Mulhauser, die unter Präsident Barack Obama im US-Justizministerium als Strafverfolgerin in Bürgerrechtsfragen tätig war: «Manchmal wird schreckliche Gewalt nicht verfolgt, weil das Gesetz schlecht ist. Manchmal trifft beides zu.» Genau das scheint in Georgia der Fall zu sein, dessen Gesetz es einer «Privatperson» erlaubt, jemanden zu verhaften, «falls in ihrer Gegenwart ein Delikt begangen wird oder sie von einem solchen Kenntnis hat».
Dana Mulhauser zufolge erinnern die Schüsse in Georgia an Jahrhunderte der Lynchmobs, in denen in Amerika Gruppen weisser Männer Schwarze ermordeten. Zwischen 1877 und 1950 hat es allein im Staat Georgia 594 dokumentierte Lynchings gegeben.
Der Fall Trayvon Martin
Der Fall Ahmaud Arbery erinnert die Staatsanwältin auch an die Ermordung des 17-jährigen Trayvon Martin in Florida, den George Zimmermann, Mitglied einer selbsternannten Nachbarschaftsmiliz am 26. Februar 2012 erschoss, weil der junge Schwarze dem Schützen zufolge «verdächtig» unterwegs war. Doch ein Geschworenengericht in Sanford sprach 2013 Zimmermann in allen Anklagepunkten frei. Die Geschworenen kamen zum Schluss, der 37-Jährige habe aus Selbstverteidigung und aufgrund des staatlichen Statuts «Stand Your Ground» rechtmässig gehandelt. Drei Jahre später fand das US-Justizministerium, es gebe nicht genügend Indizien, um den Fall in Florida als Hassverbrechen zu verfolgen.
Ahmaud Arbery und die Männer, die des Mordes an ihm angeklagt sind, hätten nur wenige Kilometer voneinander entfernt gelebt, schreibt im «Guardian» der amerikanische Autor Wes Moore: «Aber denke an die unterschiedlichen Versionen Amerikas, die sie erlebt haben.» Der eine habe in einem Land gelebt, wo seine Existenz als verbrecherisch wahrgenommen worden sei und sich eine Routinetätigkeit wie das Joggen durch ein Quartier als tödlich erwiesen habe: «Die andern Männer lebten in einem Amerika, wo sie sich ermächtigt genug fühlten, eine Schusswaffe zu ergreifen und einen Fremden zu verfolgen, der ihnen verdächtig vorkam, den sie aber kein Unrecht hatten begehen sehen.»
Eine glatte Lüge
Im Magazin «Rolling Stone» erinnert der schwarze Journalist Jamil Smith an den Lynchmord am 14-jährigen Emmet Till in Money (Mississippi) im Jahre 1955. Die 21-jährige Carolyn Bryant hatte den Jungen beschuldigt, sich ihr im Lebensmittelladen ihrer Familie aufdringlich genähert zu haben. In der Folge ermordeten Bryants Bruder und ihr Ehemann den jungen Schwarzen auf brutalste Weise, wobei die Leiche bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt wurde und die Identität des Opfers lediglich noch an einem Ring mit seinen Initialen festzustellen war. Emmet Till wurde in der Folge zu einer Ikone der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Carolyn Bryant indes hat vor drei Jahren gegenüber einem Historiker der Duke University gestanden, sie habe damals gelogen.
«Wir hätten keine Pandemie gebraucht, um uns daran zu erinnern, wie schmutzig sich Amerika seine Hände gemacht hat durch Rassismus und die Gesetze, die diesen stützen», schliesst Jamil Smith: «Doch können wir uns nicht im Blut der Ermordeten taufen und uns danach sauber fühlen. Wir können nicht länger Faksimiles akzeptieren. Wir müssen greifbare Gerechtigkeit erfahren.»
Weiss statt schwarz
Ein Leitartikel der «Washington Post» vom Wochenende bringt den Fall auf den Punkt: «Was, wenn Ahmaud Arbery weiss gewesen wäre? Was, wenn die zwei Männer, die sich Mr. Arbery entgegenstellten, bevor einer ihn erschoss, schwarz gewesen wären? Was, wenn das Video nicht von jemandem anonym im Internet gepostet worden, sondern verborgen geblieben wäre, ein Video, das zeigt, wie ein junger Mann grundlos erschossen wird, während er an einem Sonntagnachmittag joggen geht? Wir alle kennen die erschreckende Antwort. Wäre Mr. Arbery nicht schwarz gewesen, hätten die Justizbehörden in Georgia nicht mehr als zwei Monate gebraucht, bis sie sich beschämt dazu durchrangen, in seinem Tod zumindest einen Anschein von Gerechtigkeit walten zu lassen.»