Welches Deutschland meint Lukas Bärfuss?

Reinhard Meier's picture

Welches Deutschland meint Lukas Bärfuss?

Von Reinhard Meier, 05.11.2019

In seiner Dankesrede zum Büchnerpreis behauptet Lukas Bärfuss, in Deutschland habe es nie eine Entnazifizierung gegeben. Meint er Westdeutschland oder die frühere DDR?

Es gibt gute Gründe, sich darüber zu freuen, dass dem Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss am vergangenen Wochenende in Darmstadt der prestigeträchtige Georg-Büchner-Literaturpreis überreicht wurde. Bärfuss hat diese Auszeichnung durchaus verdient, nicht nur wegen der Substanz und Eindringlichkeit einiger seiner Romane wie «Hundert Tage» über den Völkermord in Ruanda oder «Koala» über den Selbstmord seines Bruders, sondern auch wegen seines intellektuellen und künstlerischen Aufstiegs aus niederdrückenden Familienverhältnissen.

Ernsthafte Fragen

In seiner Dankesrede in Darmstadt, die in der «Süddeutschen Zeitung» als «furios» bezeichnet wird, findet man denn auch einige Bezüge, die betroffen machen und zur Nachdenklichkeit anregen. Er stellt selbstkritisch die Frage, warum er wohl einen grösseren Teil seiner Schriftsteller-Existenz «mit, durch und auf dem Leid, auf Mord und Totschlag, Folter und Vergewaltigung» errichtet habe. Wie er das eigentlich seinen Kindern, die in Darmstadt anwesend waren, erklären solle? Das sind ernsthafte, den Autor offenbar beunruhigende Fragen, auf die er noch keine Antwort weiss.

Bärfuss erwähnt Büchners Danton-Drama und nennt den französischen Revolutionsführer einen «Schlächter, der nach Rechtfertigung für seine Taten sucht» und sich dabei «auf  die Notwehr beruft». Und er stellt die Frage, weshalb es nach dem befreienden Berliner Mauerfall und der Lösung Osteuropas aus dem Klammergriff des Sowjetimperiums möglich gewesen sei, dass nur wenige  Jahre später in Sarajewo und auf dem Balkan mordende Heckenschützen unschuldige Menschen zu Tausenden hätten umbringen können.

Dröhnende Hammersätze

Dann aber kommt Bärfuss in seiner Rede auf die Verhältnisse in seinem Gastgeberland Deutschland zu sprechen. Hier stellt er kaum noch Fragen, sondern weiss genau und sehr pauschal, weshalb man sich über bestimmte politische Entwicklungen – gemeint ist unüberhörbar der schnelle Aufstieg der rechtsradikalen AfD – so tiefe Sorgen machen müsse. Es liegt daran, behauptet der Autor, dass in Deutschland «die Nazis und ihr Gedankengut überhaupt nie weggewesen» seien und «dass es so etwas wie eine Entnazifizierung nicht gegeben hat».

Solche dröhnenden Hammersätze mögen in bestimmten Nischen der Öffentlichkeit – von einäugigen Linksideologen bis zu späten Nachbetern der RAF-Terroristen – ungeteilten Applaus finden. Dort wurde und wird die alte Bundesrepublik schon immer als total naziverseucht angeprangert. Und natürlich lässt sich nicht bestreiten, dass es im Nachkriegsdeutschland auch Lücken, Pannen und Versäumnisse bei der sogenannten Vergangenheitsbewältigung gegeben hat.

Aber Bärfuss unterstellt in seiner Rede, dass es eine ernsthafte Aufarbeitung der Verbrechen während des Nazi-Regimes gar nie gegeben habe. Hat der Autor, der in Darmstadt so engagiert gegen das Vergessen anredete, selber vergessen, welche Bemühungen in der westdeutschen Öffentlichkeit während Jahrzehnten unternommen wurden, um das Wissen, die Erinnerung die Schuld und die Lehren aus der Nazi-Epoche wachzuhalten? Hat Bärfuss die Debatten um Mitscherlichs Buch «Die Unfähigkeit zu trauern», um den aufwühlenden Historikerstreit, den Frankfurter Auschwitz-Prozess, die uferlose Publikationsflut über den Holocaust vergessen oder nicht mitbekommen?

Zuspitzung und Glaubwürdigkeit

In einer Diskussion auf SRF 2 über die Bärfuss-Rede hat die Literaturkritikerin Sieglinde Geisel, die sonst kein kritisches Wort über diesen Auftritt gelten liess, selber darauf hingewiesen, dass ihre eigenen Kinder, die in Deutschland zur Schule gingen, gegen die Überfütterung mit Stoffen zur Vergangenheitsaufarbeitung protestiert oder rebelliert hätten. Andere Eltern haben ähnliche Erfahrungen gemacht. Aber soll das ein Argument für geschichtsloses Vergessen in Deutschland sein?

Und schliesslich: Hat Lukas Bärfuss vergessen, dass nach der Hitler-Katastrophe vierzig Jahre lang zwei sehr verschiedene deutsche Nachfolgestaaten exisierten? Weiss er nicht, dass die kommunistisch beherrschte DDR im Unterschied zur westdeutschen Bundesrepublik sich von jeder Verantwortung für die Nazi-Verbrechen komplett absolvierte? Ulbricht und Honecker gerierten sich und ihren Mauer-Staat als blütenweisses Antifa-Bollwerk, verloren aber über ihre eigenen Verstrickungen mit dem stalinistischen Terror nie ein selbstkritisches Wort.

Warum geht Bärfuss in seiner Büchnerpreis-Rede auf solche entscheidenden Differenzierungen nicht ein? Warum erwähnt er nicht, dass es hauptsächlich die ostdeutschen Bundesländer sind, in denen die rechtsnationale AfD und offenbar auch die von ihm beklagte Geschichtsvergessenheit Triumphe feiert? Müsste man das nicht erklären? Hat er die Bücher der in der DDR aufgewachsenen Autoren Ines Geipel (jüngster Titel: «Umkämpfte Zone») oder Eugen Ruge («Hotel Metropol», «In Zeiten des abnehmenden Lichts») über die blinden Flecken im ostdeutschen Geschichtsbewusstsein nicht gelesen?

Schriftsteller und andere im Rampenlicht stehende Figuren arbeiten, besonders wenn es um moralische Appelle geht, gern mit rhetorischen Zuspitzungen. Aber man kann solche Zuspitzungen oder Pauschalisierungen auch überdehnen. Das schadet der Glaubwürdigkeit der moralisch gemeinten Botschaft.

Ähnliche Artikel

Georg-Büchner-Preis für Lukas Bärfuss

Politische Äusserungen von Politiker*innen werden regelmässig von politischen Gegner*innen korrigiert oder relativiert. Politische Meinungen von Kulturgrössen wie jene von Lukas Bärfuss hingegen scheinen erhaben über dem gesamten Meinungsspektrum zu schweben und unangreifbar zu sein; dabei zielen sie direkt auf unser Bauchgefühl. Das ist das Ungeeignetste für politische Entscheide. Das Schüren von Emotionen, falsche Bilder, undifferenzierte Darstellungen von politischen Konflikten und das einseitige Partei ergreifen tragen leider nichts dazu bei, politische Probleme zu lösen. Dazu braucht es Nüchternheit, sachliches Abwägen der Positionen und eine unaufgeregte Diskussion. Alles langweiliges Zeug, also nichts für Kulturschaffende.
Selbstverständlich dürfen die Kulturschaffenden eine eigene politische Meinung haben. Das Problem ist, dass den Kulturschaffenden in den Medien eine riesige Plattform geboten wird, auf der sie sich ungestraft über Fakten hinwegsetzen und mit Vereinfachungen den denkfaulen Stimmbürger*innen das Studieren der Wahl- und Abstimmungsvorlagen ersparen wollen.

Da ich in dem Beitrag namentlich erwähnt werde, möchte ich mich dazu äußern. Die Frage, ob mit der AfD alte Geister wiederkehren, ist legitim. Die Entnazifizierung, die die Alliierten nach dem Krieg anstrebten, hat in der unmittelbaren Nachkriegsgesellschaft erstaunlich wenige überzeugte Nationalsozialisten daran gehindert, wieder Schlüsselpositionen in der BRD einzunehmen, im Gegenteil, das kann man in Ernst Klees "Personenlexikon des Dritten Reichs" nachlesen, emblematisch dafür ist die öffentliche Ohrfeige, die Beate Klarsfeld Kurt Georg Kiesinger verpasste. Die NS-Täter hatten genauso reagiert, wie Bärfuss es beschreibt: Sie machten Befehlsnotstand geltend und hatten sich nichts vorzuwerfen. So versuchte etwa Fritz Bauer die NS-Täter, die er als Generalstaatsanwalt von Hessen in den 60erjahren verfolgte, zu einem Eingeständnis von Reue zu bewegen - es ist ihm bei keinem einzigen gelungen.
Natürlich hätte Lukas Bärfuss die Bemühungen um Aufarbeitung würdigen können - Deutschland ist dabei weltweit einzigartig. Doch hätte es seiner Rede etwas hinzugefügt? Es wäre nichts weiter als ein symbolischer Akt des Wohlverhaltens gewesen, er hätte sich der Erwartung gebeugt, und das ist etwas, was wir bei ihm hoffentlich nie erleben werden.
Ihm ging es, wenn ich seine Rede richtig verstehe, um etwas anderes: Er spricht von jenen Schichten (des Bewusstseins und der Bevölkerung), die von diesen Debatten nicht erreicht wurden, an denen die Entnazifizierung scheiterte. Wenn deutsche Jugendliche die Augen verdrehen, wenn man ihnen nach allem, was sie in der Schule gelernt haben, schon wieder mit dem Dritten Reich kommt, dann heißt das, dass diese Fakten sie nicht erreicht haben, auch wenn sie Bescheid wissen. (Lektüretipp: Yishai Sarid, "Monster", dieser Roman erzählt davon)
Die emotionale Aufarbeitung ist noch lange nicht geleistet, und ich denke, auch davon spricht Bärfuss in seiner Rede. Die Debatten hatten den Familientisch nicht erreicht, dort wurde eisern geschwiegen. Wie viel hier noch unbewältigt ist, kann man in Sabine Bodes Büchern über die Generationen der Kriegskinder und der Kriegsenkel nachlesen.
Wenn Lukas Bärfuss sagt, er sei immer noch an dem Punkt, wo er sich in Auschwitz gefragt habe, wie es zum Holocaust kommen konnte, dann meint er damit, dass wir noch lange nicht verstanden haben, was damals geschehen ist. Und das steht nicht im Widerspruch zu den Aufarbeitungsbemühungen.

Man stellt sich immer die Frage, wie es möglich war, dass ein Volk, in einer richtigen ergreifenden Bewegung, sich vom Naziregime so mit Überzeugung getragen gelassen hat. Gleich was die geschichtlichen Ursachen sein mögen. Auch viele humanistisch gebildete Intellektuelle haben dieser Welle nicht widerstehen können. Ich frage mich, ob Bärfuss nicht darin eher ein kulturelles Wesen der Deutschen ansprechen will, das dort etwas möglich gemacht hat, was anderswo nicht möglich gewesen wäre. Ein Geheimnis. Es ginge also nicht um mangelnde Entnazifizierung, sondern eher der Ausdruck einer Mühe mit einem anderen Wesen und einer anderen Mentalität, die das Schlimmste nicht verhindern konnten. Eine um so grosse Mühe, dass es sich um ein Land der germanophonen Kultur handelt, zu welcher Bärfuss gehört.

Er bestätigt mir, das Bärfuss nichts anderes als ein Intellektueller ist, der nichts anderes erheischen will als Aufmerksamkeit. Wenn man den Umgang der BRD mit der NS-Vergangenheit kritisieren will, gibt es Ansatzpunkte, aber da muss man etwas von der Vergangenheit wissen und dieses Wissen hat er nicht oder blendet es aus PR-Gründen aus!

Ein wesentlicher Faktor warum im Osten Deutschlands das Nazi Überbleibsel AFD grassiert, sind die fehlenden 60+ Jahre Demokratie Erfahrung der BRD. Das DDR Regime führte doch die Diktatur als Staatsform weiter, wenn auch mit anderen Vorzeichen.
Diesbezüglich stimmt das Argument Bärfuss’ der fehlenden Entnazifizierung im Osten.

Ja, die seit 1968 modische reductio ad hitlerum war und ist immer noch publikumswirksam.

Vielleicht kommt das daher, dass die Deutschen immer noch versuchen, auch dieses düsterste Kapitel ihrer jüngeren Geschichte in ihre Kollektiv-Psyche zu integrieren und dazu zu stehen, dass sie halt auch alle Nazis waren. Das können sie ja nicht einfach unter den Teppich kehren, weil auch sie, wie jede jüdische Familie Angehörige im Holocaust verloren hatte, auch in jeder Familie einen "gefallen bei", "vermisst seit" oder "verwundet durch" Verwandten kennen. Und zwei Mal einen Weltkrieg zu führen, konnte bis auf die heutige Zeit auch nie jemand. Die letzten Überlebenden sterben ja erst jetzt langsam alle aus. Erst in zwei Generationen werden die demokratischen Menschenrechts-Deutschen von heute ein anderes Deutschland geschrieben haben. Wobei Deutschland und seine historischen Erfahrungen und ihre Forschungen angewandt im globalen Krieg um Märkte und Absätze immer beiben wird, wo es ist, rücksichtslos.

Das oberflächliche Schlagwort „alle waren Nazis“
stimmt so nicht und zeugt von undifferenziertem Denken historisch gesehen.

Ja, stimmt,, das war der Kommentar-Kürze geschuldet; Weisse Rose und Stauffenberg und so und an die Macht kamen sie ja mit einem Stimmenanteil von auch nur etwa wie die SVP zu besten Zeiten und nachher sind die Portraits in der Stube schnell verräumt und ersetzt worden und niemand wills mehr gewesen sein. Das sei immer so. Das würd' ich auch nicht zugeben.

SRF Archiv

Newsletter kostenlos abonnieren