DB-002 (1) (Mein Vater)
Mein Vater betritt heftig atmend mein Zimmer, bleibt im Mantel, voller Ungeduld, von der er sich nur mühsam ablenken kann: Er nickt mir flüchtig zu, steuert zielstrebig ein bestimmtes Regal an und greift nach einem Buch, das sich als die Darstellung des Lebens in Gurs entpuppt, seines Lagers am Fuß der Pyrenäen. Während mich Stefan fragend anblickt (ob er den roten Koffer schon schließen kann), zugleich aber unruhig zum Telefon hinhorcht (ob nicht doch noch sein Freund Josef im letzten Moment anruft), wirft mein Vater seinen Kopf mit der Fuchspelzmütze herum, lacht schneidend: Lena - das mußt du hören! und zitiert einige Sätze. Er kommt in dem Buch nicht vor, obwohl er mit den Autorinnen in Gurs bis zu seiner Flucht im Sommer 1942 interniert gewesen ist. Er kann seine Verletzung nur mit blankem Hohn überspielen: Mit denen hab ich schon damals nichts geredet, die waren mir einfach zu blöd!
Zugleich ist ihm offensichtlich das rasend schnelle Vergehen der Zeit bewußt: jede halbe Minute schielt er von den Zeilen auf die Uhr und muß sich energisch beherrschen, seinen Drang, schon am Ort des Ereignisses (jetzt der Abreise) zu sein, wenn sich dieses doch erst als große, saugende Leere vorbereitet, wenn die mögliche Zeitvergeudung noch erträglich zu sein scheint.
Ich fühle mit ihm. Noch immer kann ich mich seinem Einfluß nicht entziehen. Du bist meine Zeugin: Ich sage so oft wir (und meine damit weder mich und meine Mutter noch meine Eltern und mich und schon gar nicht meinen Bruder, meine Eltern und mich). Wir heißt noch immer, nach all diesen verzweifelten Distanzierungsversuchen, diesen Fluchten durch die halbe Welt: ich und mein Vater, dieser äußerst verletzliche, eigensinnige, von früh bis spät durchritualisierte, von ständigen (verständlichen) Ängsten gepeinigte Mensch, der mich jetzt flüchtig anschaut und damit sofort eine Folge von Fragen bewirkt: Soll ich einen Vorwurf fürchten? Welchen? Oder blinzelt er mich nur an, weil er eine Genossin sucht? Wofür?
(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)
Zugleich ist ihm offensichtlich das rasend schnelle Vergehen der Zeit bewußt: jede halbe Minute schielt er von den Zeilen auf die Uhr und muß sich energisch beherrschen, seinen Drang, schon am Ort des Ereignisses (jetzt der Abreise) zu sein, wenn sich dieses doch erst als große, saugende Leere vorbereitet, wenn die mögliche Zeitvergeudung noch erträglich zu sein scheint.
Ich fühle mit ihm. Noch immer kann ich mich seinem Einfluß nicht entziehen. Du bist meine Zeugin: Ich sage so oft wir (und meine damit weder mich und meine Mutter noch meine Eltern und mich und schon gar nicht meinen Bruder, meine Eltern und mich). Wir heißt noch immer, nach all diesen verzweifelten Distanzierungsversuchen, diesen Fluchten durch die halbe Welt: ich und mein Vater, dieser äußerst verletzliche, eigensinnige, von früh bis spät durchritualisierte, von ständigen (verständlichen) Ängsten gepeinigte Mensch, der mich jetzt flüchtig anschaut und damit sofort eine Folge von Fragen bewirkt: Soll ich einen Vorwurf fürchten? Welchen? Oder blinzelt er mich nur an, weil er eine Genossin sucht? Wofür?
(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)
e.a.richter - 2012-10-20 13:00
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