Archipel Jugoslawien

VON 1991 BIS HEUTE

„Common Ground. Literatur aus Südosteuropa“ goes digital!

Hier präsentieren wir Ihnen in zahlreichen Gesprächen und anderen Formaten unser diesjähriges Programm, das auch im Rahmen von Leipzig liest extra – einer Veranstaltung der Leipziger Buchmesse, stattfindet.

In zahlreichen digitalen Gesprächen, Diskussionen, Buchpräsentationen, Spiel- und Dokumentarfilmen werden Autor*innen und weitere Akteur*innen zur Sprache kommen.

1991 zerfiel die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien. Dieser Zerfall hat eine ganze Generation von Autor*innen geprägt. Genau 30 Jahre später nimmt der Common Ground den Archipel Jugoslawien – Von 1991 bis heute in den Blick und präsentiert neue Bücher, Hintergründe und Schicksale. Dabei geht es nicht nur um Krieg und Hass, sondern auch um Hoffnung und neue Identitäten, und die bleibende Identifikation mit einem Staat, den es nicht mehr gibt. Um Menschen, die entwurzelt wurden, und solche, die ausharrten. Und um die Frage, wie ein Leben und Miteinander in der Gegenwart trotz allem möglich ist.

#CommonGroundReads #CommonGroundLeipzig #Traduki

FLYER HERUNTERLADEN

BIS ZUM 27. MAI

27.05.2021

28.05.2021

29.05.2021

30.05.2021

Countdown

  • ab 25. Mai
    Balkan Film Week
    Online

    6 südosteuropäische Filme
    Plus Q&A mit der Kuratorin Marija Katalinić

    Die Balkan Film Week ist wesentlicher Teil des Projektes Common Ground: Literatur aus Südosteuropa, das 2020-2022 auf den Leipziger Buchmessen den Westbalkan als Schwerpunktregion vorstellt. Das übergreifende Thema für 2021 lautet Archipel Jugoslawien – Von 1991 bis heute. Und so geht es auch in den Filmen, die bei der 3. Balkan Film Week vorgestellt werden, um den Zerfall Jugoslawiens vor 30 Jahren.

    Balkan Film Week

  • Musik für eure Ohren
    Online

    Archipel Jugoslawien & Balkannacht

    Leider fällt, zusammen mit vielen anderen live Veranstaltungen unsere berühmt-berüchtigte Balkannacht im UT Connewitz auch dieses Jahr wieder aus. Aber wir tanzen trotzdem weiter! Wir haben eine Playlist mit Songs aller Bands, die bis dato bei der Balkannacht aufgetreten sind, zusammengestellt, und sagen der Schwermut so den Kampf an. Außerdem wurden unsere Archipel Jugoslawien Mitwirkenden gebeten, uns Songs zum Jahresthema zukommen zu lassen. Et voilà: Von Jugoton Funk bis Bosnian New Wave findet sich auf unserer Archipel Jugoslawien Playlist fast alles.

  • 25. März
    Schriftsteller Ilija Trojanow über den Balkan
    Online

    Einführung zum Jahresthema

    Einen kritischen Blick auf das Verhältnis zwischen Deutschland und dem Balkan warf der in Bulgarien geborene Schriftsteller Ilija Trojanow in seiner Einführung zum virtuellen Pressegespräch am 25. März.

    Zur Videoaufnahme.

  • Ab März
    Archipel Jugoslawien Essays auf faz.net & hier
    traduki.eu/archipel-jugoslawien faz.net

    Ihre persönlichen Erlebnisse und Erfahrungen rund um den Zerfall Jugoslawiens, der vor 30 Jahren begann, haben 15 Autorinnen und Autoren aus Südosteuropa in eindringlichen Essays literarisch verarbeitet.

    Sechs dieser bisher unveröffentlichten Texte sind seit Anfang März, inklusive eines Beitrags des FAZ-Redakteurs Tilman Spreckelsen, auf faz.net zu lesen.

    Die Essays:

    Ab dem 30. März werden wöchentlich weitere Essays bis Ende Mai auf dieser Seite eingestellt.

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Donnerstag, 27.05.2021

  • 19:00
    Lana Bastašić: Fang den Hasen
    Online

    Illustriert von Aleksandra Nina Knežević
    Buchpräsentation, 15 Minuten

    Eine Kindheit in Bosnien in den 1990er Jahren, zwei Freundinnen Sara und Lejla, die sich nach zwölf Jahren wieder begegnen, und ein Roadtrip, begleitet von unendlicher Hoffnung.

    Lana Bastašić ist zweifelsohne ein Name, den Sie sich merken sollten, denn bereits jetzt schon gilt sie als Shootingstar der europäischen Literaturszene. Der Roman Fang den Hasen (S. Fischer, 2021) wird in 13 europäischen Sprachen erscheinen, und ist Dank der Übersetzerin Rebekka Zeinzinger nun auch auf Deutsch erhältlich.

    Ein Buch über das Erwachsenwerden, über den Weg vom Kind zur Frau, aber auch über das Träumen und darüber, welchen Preis wir bezahlen müssen, um darauf verzichten zu können.

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  • 19:30
    Leben am Tatort
    Drei SchriftstellerInnen der jungen Generation erzählen
    Online

    Mit: Blerina Rogova Gaxha, Faruk Šehić, Tomislav Marković
    Moderation: Hana Stojić
    Gespräch, 55 Minuten

    Wie lebt man heute am Tatort? Wie ticken die Uhren nach der Apokalypse? Wem galt das leichte Leben in Jugoslawien und wem nicht?

    Anlässlich des dreißigsten Jahrestags des Endes von Jugoslawien hat Traduki bei insgesamt 15 AutorInnen aus den Nachfolgestaaten Essays in Auftrag gegeben. AutorInnen verschiedener Generationen wurden gebeten zurückzublicken und ihre unterschiedlichen Erfahrungen in Worte zu fassen. Im ersten Gespräch zur entstandenen Essaysammlung sprechen drei von ihnen, die zwischen 1970 und 1982 geboren wurden, über die Kriegs- und Nachkriegserfahrungen in jenen drei Ländern, die heute noch vor besonders großen Aufgaben und Herausforderungen stehen: Serbien, Bosnien und Herzegowina und Kosovo.

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Freitag, 28.05.2021

  • 20:00
    Die guten Tage
    Haus des Buches Leipzig & Stream

    Mit: Sandra Gugić, Shpëtim Selmani, Tijan Sila
    Moderation: Arno Frank, Jörg Plath, Anila Wilms
    3 Buchvorstellungen mit Lesungen

    Die einzige Präsenzveranstaltung des Common Ground, die während der Leipziger Buchmesse auch tatsächlich in Leipzig stattfinden wird, gewährt den LeserInnen einen Einblick in das Werk von drei AutorInnen, die jeweils ganz unterschiedliche Beziehungen zu Südosteuropa haben. Sandra Gugić erzählt in Zorn und Stille von der Familie. Und von Billy Bana, die die Gastarbeitererfahrung der Eltern, die Jugoslawien verließen, in ihr eigenes Leben zu integrieren versucht. Shpëtim Selmani schildert im Büchlein der Liebe poetische Eindrücke von Literatur und Nationalismus und vom  Vater werden. Sein Text berührt durch Wut und Sensibilität. Tijan Sila entwirft die Figur eines jungen Punks in der pfälzischen Provinz, der einen unaussprechlichen Namen trägt, und in der Musik und der Liebe seine Zugehörigkeit findet. Witzig und in rasendem Tempo.

    Link zur FB Veranstaltung & Streaming-Link

Samstag, 29.05.2021

  • 14:00
    Jugoslawien ist tot. Der Jugoslawismus auch?
    Online

    Mit: Dragan Markovina, Dubravka Stojanović
    Moderation: Dirk Auer
    Gespräch, 55 Minuten

    Was ist noch übriggeblieben von Jugoslawien in der Erinnerung seiner ehemaligen Bewohner, und wie lauten die offiziellen nationalen Narrative zu diesem ehemaligen Staat? Was ist der Jugoslawismus, und hat er die Kriege der 1990er Jahre überlebt? Gibt es einen postjugoslawischen Raum, und wie sieht dieser aus? Was sind die großen nationalen Lügen und Mythen, die aufrecht erhalten werden, und muss man zu ihnen schweigen? Was sind die größten gesellschaftspolitischen Aufgaben, vor denen die Länder (immer) noch stehen?

    Die HistorikerInnen aus Belgrad und Split wagen einen schmerzvollen Blick in die Vergangenheit, kommentieren aktuelle politische und gesellschaftliche Ereignisse und denken über mögliche Zukunftsperspektiven der Staaten des Westlichen Balkan nach.

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  • 19:00
    Rumena Bužarovska: Mein Mann
    Online

    Illustriert von Samira Kentrić
    Buchpräsentation, 15 Minuten

    Elf Frauen erzählen von ihren Männern – Dichtern, Gynäkologen, Botschaftern und Polizisten. In den Beziehungen, die sie führen, sind sie nicht mehr, als es ihr Beziehungsstatus ist, also Frauen ihrer Männer. Fast jeder Versuch von Emanzipation oder Selbstverwirklichung scheitert.

    Rumena Bužarovska beschreibt in ihrem Erzählband Mein Mann (Suhrkamp, 2021) die Machtverhältnisse in patriarchalen Beziehungen. Und sie tut dies erbarmungslos. Doch schafft sie es immer wieder, uns auch zum Lachen zu bringen. Vielleicht gerade weil sie nichts beschönigt.

    Spätestens seit diesem Buch gehört sie zu den am meisten gelesenen AutorInnen in Südosteuropa.

    Dank der Übersetzung von Benjamin Langer können wir die Texte nun auch in deutscher Sprache lesen.

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  • 19:30
    Der geliebte Diktator: Tito
    Online

    Mit: Marie-Janine Calic, Ivo Goldstein
    Moderation : Doris Akrap
    Gespräch, 55 Minuten

    Die politische Figur Tito war ein Partisan, Kommunist, Befreier, Reformator und Visionär, der den jugoslawischen Raum wie kein anderer geprägt hat. Er war aber auch ein undemokratischer alleiniger Herrscher Jugoslawiens, verantwortlich für das Straflager nach stalinistischem Modell, Goli otok. Die Person Josip Broz war ein Schlosser, und ein Lebemann, der Luxus genoss und mit Hollywood Schauspielern befreundet war.

    Er war ein Held, jubeln seine Fans. Verbrecher! Massenmörder! – schreien die anderen.

    Was sind Titos größte politische und gesellschaftliche Errungenschaften? Was war seine Rolle bei der Gründung der Blockfreien Staaten? Was bedeuteten Verfassungsreformen für den diversen Staat Jugoslawien? Woran ist er gescheitert? Wie war sein Verhältnis zu den beiden Teilen Deutschlands? Können sich EU-Politiker heute etwas von Tito abschauen?

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Sonntag, 30.05.2021

  • 14:00
    Das Jahr 1991 und seine Folgen für Albanien, Jugoslawien und für die Sowjetunion
    Online

    Mit: Sergej Lebedew, Arian Leka, Andrej Nikolaidis
    Moderation: Doris Akrap
    Gespräch, 55 Minuten

    Das Jahr 1991 war für mehrere Länder in Europa von großer Bedeutung. Jugoslawien ist in Gewalt auseinandergefallen. In Albanien wurde das kommunistische Regime von Enver Hoxha gestürzt. Die große Sowjetunion zerfiel, und aus diesem Vielvölkerstaat entstanden insgesamt 15 Nachfolgestaaten.

    Welche Auswirkung haben der Stalinismus und das verordnete Verdrängen des Gulag-Systems auf die heutige Gesellschaft in Russland? Was ist von der Euphorie nach der Ablösung des Kommunismus in Albanien geblieben? Wie funktionieren die postjugoslawischen Gesellschaften zwischen Jugo-Nostalgie und Hypernationalismus?

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  • 19:00
    Tijan Sila: Krach
    Vom Aufwachsen eines Bosniers in Deutschland
    Online

    Mit: Tijan Sila
    Moderation: Hana Stojić
    Gespräch, 39 Minuten

    In seinem dritten Roman Krach (Kiepenheuer & Witsch, 2021) kreiert der 1981 in Sarajevo geborene Tijan Sila die Figur eines Deutsch-Bosniers mit dem unaussprechlichen Namen: Sabahudin Hadžijalijagić. Aber Gott sei Dank gibt es Spitznamen! Gansi lebt in den 1990er Jahren in der pfälzischen Provinz, will sein Abi bestehen, prügelt sich mit Nazis und erfährt die erste große Liebe. Nebenbei will er mit seiner Punkband Pur Jus die Bühnen der Republik rocken.

    Dieser Roman bietet uns die Möglichkeit, die Frage der Identität nicht allein aus der Perspektive des Mangels zu diskutieren, sondern er zeigt einen ganz anderen, eher unerwarteten Weg auf, wie man Zugehörigkeit finden kann.

  • 20:00
    Nostalgie und ihre Fallstricke
    Drei hommes de lettres erinnern sich
    Online

    Mit: Drago Jančar, Slobodan Šnajder, László Végel
    Moderation: Jörg Plath
    Gespräch, 55 Minuten

    Seit genau 30 Jahren gibt es den Vielvölkerstaat Jugoslawien nicht mehr. Ein gebotener Anlass für einen Rückblick. Ist das Jubiläum nur außerhalb Ex-Jugoslawiens interessant, oder auch in seinen ehemaligen Teilrepubliken?  Was bedeutet der Begriff Jugonostalgiker? Reicht es allein, sich mit Jugoslawien zu beschäftigen, um ein Nostalgiker zu sein? Gibt es Ähnlichkeiten zwischen Jugoslawien und der Europäischen Union? Kann man aus dem Scheitern Jugoslawiens lernen?

    Das Ende Jugoslawiens jährt sich 2021 zum dreißigsten Mal. Traduki hat dies zum Anlass genommen, bei insgesamt 15 AutorInnen aus den Nachfolgestaaten Essays in Auftrag gegeben. AutorInnen verschiedener Generationen wurden gebeten zurückzublicken und ihre unterschiedlichen Erfahrungen in Worte zu fassen. Drago Jančar, Slobodan Šnajder und László Végel, große Schriftsteller des früheren Jugoslawien, sind drei davon.

Videos

Donnerstag, 27. Mai 2021

Ankündigung - 10:00 Uhr

19:00 Uhr

19:30 Uhr

Samstag, 29. Mai 2021

Ankündigung - 10:00 Uhr

14:00 Uhr

19:00 Uhr

19:30 Uhr

Sonntag, 30. Mai 2021

Ankündigung - 10:00 Uhr

14:00 Uhr

19:00 Uhr

20:00 Uhr

Mitwirkende

Doris Akrap
Dirk Auer
Xhevdet Bajraj
Lana Bastašić
Aleksandar Bečanović
Rumena Bužarovska
Marie-Janine Calic
Darko Cvijetić
Lidija Dimkovska
Arno Frank
Ivo Goldstein
Sandra Gugić
Drago Jančar
Samira Kentrić
Aleksandra Nina Knežević
Sergej Lebedew
Arian Leka
Tomislav Marković
Dragan Markovina
Andrej Nikolaidis
Jörg Plath
Blerina Rogova Gaxha
Faruk Šehić
Shpëtim Selmani
Tijan Sila
Slobodan Šnajder
Dubravka Stojanović
Hana Stojić
Mile Stojić
László Végel
Goran Vojnović
Anila Wilms
Zoran Žmirić
Team

Archipel Jugoslawien
Von 1991 bis heute

Hana StojićKuratorin des Common Ground Programms

Was tun nach dem Ende der Welt? Wie weiterleben nach  der Apokalypse? Heilt die Zeit alle Wunden? Wohin mit der eigenen (und fremden) Nostalgie? Wo stehen die Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens heute? Sind die postjugoslawischen Gesellschaften bereit, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen? Ist mit dem Ende Jugoslawiens auch die Idee des Jugoslawismus verschwunden? Waren die Fundamente dieses Staates nicht gut ausgegossen oder genügte wirklich nur ein falscher Mann an seiner Spitze, um das Haus zum Einsturz zu bringen? (Was) kann Europa aus Jugoslawiens Fehlern lernen?

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Essays

Ihre persönlichen Erlebnisse und Erfahrungen rund um den Zerfall Jugoslawiens, der vor 30 Jahren begann, haben 15 Autorinnen und Autoren aus Südosteuropa in eindringlichen Essays literarisch verarbeitet. Sechs dieser bisher unveröffentlichten Texte sind seit Anfang März, inklusive eines Beitrags des FAZ-Redakteurs Tilman Spreckelsen, auf faz.net zu lesen:

Die Essays sind Drohnenflug von Darko Cvijetić, Brüderlichkeit und Einigkeit von Rumena Bužarovska, Das steinerne Floß von Drago Jančar, Das leichte Leben von Blerina Rogova Gaxha, Leben am Tatort von Tomislav Marković sowie Von der Namenlosigkeit von Goran Vojnović.

Ab dem 30. März werden wöchentlich weitere Essays bis Ende Mai hier auf der Archipel Jugoslawien-Seite veröffentlicht.


Archipel Jugoslawien 1991-2021

von Xhevdet Bajraj

Das verräterische Herz

von Slobodan Šnajder

Spuckt nicht auf unsere Existenzen

von Mile Stojić

Die Waisen Europas

von László Végel

Jugoslawien in meinem Leben, mein Leben in Jugoslawien in zehn Abschnitten

von Lidija Dimkovska

Die apokalyptische Uhr

von Faruk Šehić

Nostalgie: die Melancholie der Rechten

von Andrej Nikolaidis

Das letzte jugoslawische Pop-Lied

von Aleksandar Bečanović

Archipel Jugoslawien

von Zoran Žmirić

Credits: Carmela Žmirić

Ich sitze bei einem Kaffee mit Liam, der geschickt eine Zigarette rollt, das Papier mit Speichel befeuchtet, den Rauch ausbläst und dann sagt: „Ich habe ein Kapitel aus deinem Roman gelesen. Hervorragend übersetzt. Schreibst du sonst auch immer Horror?“ Galway und Rijeka sind Kulturhauptstädte 2020, und es lief darauf hinaus, dass ich früher oder später einem aktiveren Mitglied der irischen Kunstszene über den Weg laufen würde. Liam ist fingerstyle Gitarrist, Maler und Dichter, und während meines kurzen Aufenthalts in Galway ist er darüber hinaus mein Gastgeber und Stadtführer. Ich habe keine andere Wahl, ich werde hier mein Bestes geben müssen, obwohl ich sehe, dass hier nichts dabei herauskommen wird. Alters- und interessensmäßig stehen wir uns nahe, dennoch steht für mich fest, wir werden einander nicht verstehen, und das liegt weder an meinen bescheidenen Englischkenntnissen noch an Liams starkem gälischen Akzent. „Das ist kein Horror“, sage ich zu Liam. „Das ist die Realität am Balkan.“ In Liams Blick sehe ich Staunen und Traurigkeit, aber hinter dieser oberen Schicht erahne ich ein Strichcode-Lesegerät, mit welchem er versucht, zumindest Spuren von meinem Sarkasmus einzufangen. Er kann jedoch keinen Sarkasmus finden, also presst er hervor, als würde er nur zu sich selbst sprechen: „For fock sake.“ Liams aufrichtiger, zufällig entwischter Kraftausruck gibt mir zu verstehen, dass das Trauma des Balkans sich ins Unendliche perpetuieren wird und dass wir einen Trost dafür niemals außerhalb dieser geschlossenen Gegend finden werden. Er ist sich nicht einmal dessen bewusst, dass er meine These bestätigt, als er selbst sagt: „Ja, ein Kriegstrauma ist etwas Entsetzliches.“ Wir verstehen einander nicht, wir können einander nicht verstehen, und dennoch nehme ich mir vor, ihm die ganze Sache zu erklären. Nicht etwa um seiner selbst willen, sondern aus rein egoistischen Gründen, denn es bringt mir Erleichterung, es noch einmal auszusprechen.

Ich kann mich genau erinnern, wann das Trauma seinen Anfang genommen hat. Keineswegs zu einem Zeitpunkt, den jemand von außen, jemand wie Liam, automatisch annehmen würde. Die Rede ist nicht von dem Trauma, das einem die Kriegserfahrung selbst verpasst. Die Rede ist von dem Trauma, das einem Menschen, der nach dem Krieg versucht, wieder normal zu leben, von seiner eigenen Umgebung beschert wird. Ich erinnere mich allerdings auch an den Moment, als ich in den Krieg gezogen bin. Wir saßen im Klub Palach, tranken Bier und hörten Rockmusik. Im Fernsehen liefen Nachrichten, protestierende Serben hätten in einem psychiatrischen Krankenhaus in Vrlica das Trinkwasser abgedreht. Wir schauten alle gemeinsam fern, und jemand sagte: „Die spinnen ja, die werden erst dann Ruhe geben, wenn sie alles, was sie vorhatten, umgesetzt haben.“ Was genau sie vorhatten, war mir nicht ganz klar, aber ich wusste, jemand musste sich ihnen widersetzen. Jemand, der sich auch sonst gut darauf verstand, sich bei jeder Gelegenheit zu widersetzen, ob passend oder unpassend. Jemand, der sich darauf verstand, sich in eine Schlägerei einzumischen und die Streithähne auseinanderzubringen, ohne zu wissen, wer die Schlägerei vom Zaun gebrochen hatte und warum, jemand der mit seinen Mitschülern stritt, wenn diese Roma-Kinder oder Albaner in der Klasse hänselten. Jemand wie ich.

Das erste Anzeichen für das Trauma war die Frustration. Wir kamen zum Kampfgebiet, wo der Befehlshaber uns wissen ließ, wir sollten die letzte Patrone für uns selbst aufheben. Ich fand das alles urkomisch, geradezu auf der Ebene eines Filmklischees angesiedelt. Dann ging es aber los, es ging um etwas, das ich schon kannte und das keineswegs harmlos war. Man erklärte uns, wir seien da, um die Staatsgrenzen, die Demokratie, die Existenz, den jahrhundertealten Traum und noch einiges mehr zu verteidigen, wobei ich bei einigen der genannten Dinge nicht gerade bewandert war. Der Staat, der ehemalige wie der soeben formierte, war mir ebenso gleichgültig wie mir auch ein dritter Staat egal wäre, sollte uns schon morgen jemand dazu zwingen, in ihm zu leben. Schließlich stamme ich ja aus Rijeka, einer Stadt, die innerhalb von etwas weniger als hundert Jahren neun Staatszugehörigkeiten gewechselt hatte. Begeisterung zu empfinden ob der Erkenntnis, dass du in einem von diesen durch Politiker und ihre Abmachungen etablierten Staaten lebst, ist ein Konzept, das ich beim besten Willen nicht nachvollziehen kann, so leid es mir auch tut. Für mich sind Grenzen nichts anderes als Kurven im Atlas – heute so, und morgen wer weiß wie.

Die Willkommensansprache des Befehlshabers erinnerte mich an meinen Onkel Ivan, der 1942 als Vierzehnjähriger in den Krieg gezogen war. Die italienischen Soldaten zündeten damals Dörfer an, wahllos der Reihe nach, und als sie schon zu dem Dorf meines Onkels herangerückt waren, schnappte sich mein Onkel eine Mistgabel und attackierte die Italiener, gemeinsam mit Gleichaltrigen und etwas Älteren. Nach der erfolgreichen Aktion teilten die Partisanen ihn und die anderen Männer aus seinem Dorf bald in Gruppen ein und führten Disziplin ein, und erklärten ihnen anschließend, ihr Kampf um das nackte Überleben sei in Wirklichkeit vom Ansinnen motiviert gewesen, das bestehende System zum Einsturz zu bringen, und ihr Ziel sei es doch, eine bessere Welt aufzubauen. Mein Onkel wusste nicht einmal, was Klassenkampf und Weltrevolution bedeuteten, er hatte noch nie von Marx und Lenin gehört, und noch weniger vom Sozialismus. Ihn interessierte es nur, die Faschisten wieder dorthin zurückzuschicken, wo sie hergekommen waren, um anschließend wieder zu seiner eigenen Routine zurückkehren zu können. Ich dachte darüber nach, während der Offizier vor uns selbstbewusst mit Phrasen um sich warf und sich auf eine krankhafte Weise an seiner eigenen Rhetorik berauschte, die allerdings spurlos verschwunden war, als ich ihn ein Jahrzehnt später im Fernsehen sah, wie er vor dem Haager Tribunal lauthals schwieg. Zu dem besagten Zeitpunkt jedoch, als ich vor ihm stand, verknüpfte ich meine Erfahrung mit der Erfahrung meines Onkels Ivan, verband die beiden Punkte auf der Zeitachse, fast im selben Raum, und spürte deutlich, dass da etwas nicht stimmen konnte.

Ich hatte nicht für ein Land gekämpft, das ich nicht liebe, sondern ich liebe das Land nicht, für das ich gekämpft hatte.

Mein Eindruck, dass hier etwas nicht stimmen konnte, verstärkte sich noch zusätzlich, als der Nebel sich lichtete. Nach einem Klinikaufenthalt verließ ich ein Jahr lang meine Wohnung nicht. In dieser Zeit kam immer wieder jemand aus meiner Kampfeinheit vorbei und ließ mich wissen, dass ich mir keine Sorgen machen solle, man werde alles dafür tun, um mir eine bessere Rente zu verschaffen. Ich machte mir aber gar keine Sorgen, denn die Rente wollte ich gar nicht haben. Ich wollte nur meine Routine wieder haben, mein Leben. Aber diese Leute dachten, sie würden mir einen Gefallen tun, und sprachen weiter darüber, wie sie zu meiner bestehenden Invalidität noch etwas hinzufügen könnten, wie sie nachträglich festhalten würden, dass ich in einer Militäraktion verwundet wurde, die nach meiner Entlassung aus der Armee stattgefunden hatte, denn sie würden die richtigen Leute kennen, und einen Freund lasse man nicht im Stich. Ich dachte, man müsse mich offenbar sehr schätzen, war man doch bereit zu lügen, nur um mir das Leben nach meiner Rückkehr aus dem Krieg leichter zu machen. Aber je stärker ich mich widersetzte, desto vehementer insistierten sie, und schließlich ging ihr Insistieren in Aggression über. Da endlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Sie taten das nicht für mich, sondern für sich. Eine neue Gruppe von Anspruchsberechtigten hatte sich formiert, und die Anzahl ihrer Mitglieder war ein wichtiger Faktor. Sie verlangten nach Privilegien und Heldenstatus und nach allem anderen, was eben damit einherging. Sobald ich das begriffen hatte, nahm ich für immer Abschied von diesen Leuten, und in ihren Augen war ich nicht länger der langhaarige junge Typ in punkiger Lederjacke, der ums nackte Überleben gekämpft hatte, sondern ich war jemand geworden, der sein Land hasste. Aber die Wahrheit ist eine andere; ich hatte nicht für ein Land gekämpft, das ich nicht liebe, sondern ich liebe das Land nicht, für das ich gekämpft hatte. Diesen Sprung in meinem Denken habe ich ausschließlich den Abweichlern zu verdanken, die den Krieg als eine Start-up-Plattform für ihr eigenes Vorankommen ausnützen wollten; der Clique, die in erster Linie sich selbst und später auch alle um sich herum davon überzeugen konnte, dass sie auf Grund ihrer Kriegsbeteiligung etwas Besonderes sei; dass man noch zu ihren Lebzeiten Denkmäler für sie errichten und ihnen Privilegien gewähren müsse. Unter ihnen bilden jene Leute eine besondere Kaste, die das Chaos ja geradezu herbeigesehnt hatten, die den Ausbruch von Gewalt genossen und sich am Leid der anderen bereichert hatten. Gerade wegen dieser Leute ist es heutzutage für jeden, der im Krieg gekämpft und dennoch seine Menschlichkeit bewahrt hat, eine Schande, überhaupt zu erwähnen, dass er im Krieg gewesen ist. Diese Leute sind für normale Menschen ein größeres Trauma als der Krieg selbst. Jeder, der das nicht versteht, tut mir aufrichtig leid.

Aber diese Leute sind noch gar nicht das Schlimmste, das es in unserem Balkanhorrorbilderbuch zu finden gibt. Das Schlimmste ist, dass sie sich perfekt in unser heutiges System einfügen. In diesem Staat wird Kompetenz nicht geschätzt, stattdessen werden politischer Aktivismus mit nationalem Vorzeichen bevorzugt, und zwar auf sämtlichen Ebenen. Wäre dies nur in der Spitzenpolitik der Fall, dann wäre das wunderbar, denn es würde bedeuten, dass die Pyramide auf den unteren Ebenen gut funktioniert. Aber das Gegenteil ist der Fall. Sämtliche staatlichen Elemente von vitaler Bedeutung so wie auch jene auf unteren Ebenen werden von völlig unfähigen, aber gefälligen Personen geführt. Bei uns werden Vereine und Sportklubs ernsthafter gemanagt als der Staat selbst. Vereine und Klubs verfolgen klar formulierte Ziele, die das Kollektiv erreichen möchte, während die Politiker den Staat wie einen Bankomaten erleben, von dem sie unbegrenzt viel Geld abheben können, während die kleinen Leute sich anstellen und darauf warten, dass einer von den Politikern versehentlich eine Münze fallen lässt. Für sie, für die arbeitsamen und anständigen Leute, gibt es keinen Gewinn an diesem Bankomaten. Außerdem ist die Arroganz der Politiker unverschämt. Jede Handlung, jede Aussage macht den Eindruck einer Verhöhnung der Menschen, als würde man einen Sterbenden zusätzlich noch verprügeln oder sich über Behinderte lustig machen. Ich reagiere schon lange allergisch darauf, wenn man sich über andere lustig macht. In meinen Augen liegen die Dinge ganz einfach: Ich denke, die Mehrheit hat die Pflicht, die Minderheit zu schützen, ganz gleich ob diese Minderheit sich über die nationale, soziale oder sexuelle Orientierung konstituiert. Bei uns aber geschieht genau das Gegenteil, und das ist ein Trauma, das in Kroatien schon viel länger andauert als der Krieg.

Ich konnte zehn Jahre lang nicht schlafen

All das hört sich Liam in einem Pub in Galway an, nickt eifrig dazu und fragt sich wohl, ob ich ihn womöglich als eine Spielfigur missbrauche, um meine eigene Phantasie anzustacheln und einen künftigen Dialog in einem künftigen Roman auszuprobieren, oder ob in Europa, nicht weit weg von seinem eigenen Land, tatsächlich etwas passiert ist und weiterhin passiert, was sich seinem Verstand nicht erschließt.

„Hast du getötet?“, fragt er mich, beißt sich dann aber sogleich auf die Unterlippe und fügt entschuldigend hinzu, dass man ehemaligen Soldaten eine solche Frage nicht stellt, und ich schaue ihn an und denke an meine Freunde, die sich das Leben genommen haben, obwohl sie im Krieg keinen einzigen Schuss abgegeben haben. Ich erzähle ihm davon. Diejenigen, die sich nicht umgebracht haben, nahmen Medikamente mit Alkohol ein und konnten auf diese Weise zumindest eine Zeitlang in einer temporären Comfort-Zone Zuflucht finden, wo sie jedoch bald darauf verwelkten. Ich habe aus nächster Nähe gesehen, wo das hinführt, und habe beschlossen, aus ihren Fehlern zu lernen. Nach dem Krieg habe ich keinen Tropfen Alkohol getrunken, auf der Suche nach einem Weg, mich wieder zu sortieren. Leicht war es nicht, vor allem nachts. Ich konnte zehn Jahre lang nicht schlafen. Und es ist nicht so, dass ich es nicht wollte. Jeden Abend zog ich mir meinen Pyjama an und legte mich mit der entsprechenden Absicht ins Bett, aber dort erhitzte sich mein Hirn, bis zur Sinnlosigkeit. Ich las langweilige Texte und schaute das Nachtprogramm im Fernsehen an, ich tat alles, um mich zu erschöpfen, aber die Erschöpfung allein reichte nicht aus. Etwa zehn Minuten Schlaf pro zwei Stunden war mein Maximum. Dann fing ich an zu schreiben. Geschichten gewöhnlicher Menschen mit gewöhnlichem Leben, nichts Aufregendes, aber mir genügte es, um zur Ruhe zu kommen. Über den Krieg zu schreiben fiel mir nicht einmal im Traum ein. Mit dem Krieg hatte ich schon Schluss gemacht, darüber hatte ich nichts mehr zu sagen. Aber jedes Mal, wenn ich dachte, ich hätte meinen Frieden gefunden, hob ich den Kopf, schaute mich um und sah eine Schlammgrube. Eine moralische, eine geistige und jegliche andere Schlammgrube. Hinter meinem Rücken spielte sich eine verzerrte Wirklichkeit ab. Der Krieg war weiterhin ein Thema, zumeist als eine Rechtfertigung für kriminelle Machenschaften. Um die Sinnlosigkeit der Rückkehr in die Vergangenheit zu begreifen, muss man nur daran denken, dass das Jahr 1990 gleich weit weg vom heutigen Datum ist wie das Jahr 2050 in der Zukunft, und es stellt sich immer mehr heraus, dass dieses Land nicht kreiert wurde, um eine Zukunft zu haben, sondern damit die Zukunft den Dieben und ihren jeweiligen Familien gehören möge. Meine Frustration wuchs an, so lange, bis sie unerträglich wurde, so lange, bis mir klar wurde, es war nun an der Zeit, dass auch ich meine Version über das Kriegsgeschehen erzählte. Erzählte oder niederschrieb.

Schließlich schrieb ich zwei Romane über den Krieg. Oder besser gesagt, gegen ihn. Ich schenkte ihm auch einen Gedichtband, in dem jedes Gedicht mit dem Symbol des dreifachen Kreuzes beginnt, mit dem Gläubige vor der Lesung des Evangeliums gesegnet werden, wenn sie ihre Gedanken, ihre Worte und ihr Herz ins Gleichgewicht bringen wollen. Allerdings verkündet dieses Evangelium nach der Gewehrkugel keine frohen Botschaften, und kein Satz beginnt mit einem Großbuchstaben, denn im Krieg gibt es nichts, dass es wert wäre, vergrößert und glorifiziert zu werden. Haute erkennt man mich als Autor gerade an dieser Kriegsschrift. Auch wenn mein Name jemandem nicht viel sagt, kommt bei der Erwähnung meiner Romantitel meist die Reaktion: „Aha, kenn ich.“ Der Name des Werks hat den Namen des Autors überholt, und das ist es doch, was jeder Autor anstrebt. Naturgemäß ist das so, du bist ein Diener des Worts, du denkst, das Wort ist besser als du selbst, mit Demut näherst du dich dem Wort, und bevor du es niederschreibst, dankst du ihm. Du küsst ihm die Hand und sagst „Danke, dass du mich erwählt hast“. Und dennoch macht mich mein Erfolg nicht froh. Ich wollte das nie. Ja schon, schreiben wollte ich, das Schreiben wird bei mir wie bei so vielen anderen immer irgendwo tief drinnen geschlummert und darauf gewartet haben, von einem Aktivierungscode zum Leben erweckt zu werden. In meinem Fall geht es zurück zur vierten Schulklasse, als ich auf die Frage hin, was ich werden möchte, wenn ich groß bin, notierte: Schriftsteller. Und es ist auch passiert, ich bin ein Schriftsteller geworden, mit Wiedererkennungswert, allerdings durch die Schuld anderer und nicht durch eigenen Verdienst. Man hat es mir aufgedrängt, über den Krieg zu schreiben, weil man sich hierzulande schon seit dreißig Jahren unaufhörlich damit beschäftigt und somit immer wieder die Knochen all jener umgräbt, die ich in meinem Inneren schon längst begraben habe. Dabei würde ich so gerne über anderes schreiben, über Reisen, über die Suche, darüber, wo es die Seele hinzieht. Aber es geht nicht. Immer wenn ich mich daranmache zu schreiben, tauchen sie auf, wie Raubtiere, die sich zum Wasser begeben, sie kommen mit ihren immergleichen knurrenden Mantras – Krieg, Nachkriegszeit, Krise. Sie halten uns Reden aus ihren goldenen Höfen heraus, proklamieren, wie schwer es sei und wie sehr man doch sparen müsse, denn wir hatten ja den Krieg … Als hätten sie sich bewusst dafür entschieden, mich so zu quälen. Die Militärjunta in Südamerika wandte ähnliche Methoden an. Den Gefangenen wurde monatelang täglich die gleiche politische Rede vorgespielt. Die Gefangenen schlugen schließlich mit dem Kopf gegen die Wand oder bissen sich in die Handgelenke, um die Folter zu stoppen. Ich habe den Eindruck, dass die heutigen Politiker die normal gebliebene Minderheit auf diese Weise einer Folter unterziehen. Sie hören nicht auf, über den Krieg zu sprechen, und ich, nachdem ich ihnen Jahre und Jahre lang zugehört habe, treffe die Entscheidung, anstatt meinen Kopf gegen die Wand zu schlagen, zur Feder zu greifen. Anstatt mir selbst die Adern durchzubeißen, verpasse ich mir einen Schlag in den Solarplexus, gehe in mich, und wenn ich dann soweit bin, dass mir dort vor mir selbst übel wird, komme ich an meiner eigenen Kehle wieder heraus. Aber diesmal, anstatt vom Balkon hinunterzuschauen und mich zu fragen, ob es hoch genug ist, wie ich es schon zwei Mal getan habe, beschließe ich, Papier und Bleistift zu suchen, um anschließend meine Eingeweide aufs Papier zu kippen. Ich schreibe nicht über den Krieg, weil ich es will, sondern weil ich einfach keine andere Wahl habe, und wenn ich schon dabei bin, dann tu ich es ohne Bremse.

Ich verstehe und ich akzeptiere, dass vielen Menschen in ihrem Leben nichts Aufregenderes zugestoßen ist als der Krieg. Vor diesen Menschen ist es mir geradezu peinlich, es zuzugeben, aber auf mich trifft das nun einmal nicht zu. Sie, die immerzu wartet, hat „Ja“ gesagt. Nichts anderes lässt sich damit vergleichen. Niemand konnte jemals so warten wie sie. Sie hat auf meine Rückkehr aus der Jugoslawischen Volksarmee JNA gewartet. Dann hat sie auf meine Rückkehr aus dem Krieg gewartet. Dann hat sie auf meine Rückkehr aus der Klinik gewartet. Sie hat darauf gewartet, dass ich meine Rehabilitation abschließe. Dann darauf, dass ich wieder zu mir kam und wieder der gleiche Mann wurde, bei dessen Anblick ihr, wie sie sagt, bei einer Party die Knie weich geworden wären. Auf das Letztere hat sie zwar gewartet, sie hat es jedoch nicht bekommen. Dieser Mann ist irgendwo hängen geblieben, in der späten Pubertät, irgendwo gegen Ende eines Sommers, der ewig dauern sollte. An seiner Stelle ist ein anderer zurückgekommen, und anstelle des endlosen Sommers, der uns nicht beschieden war, dauert das hier nun ewig an. Aber … möge es andauern. Ich fühle mich trotzdem siegreich. Ganz oben auf meiner Prioritätenliste stehen weiterhin Wahrheit, Friede, Gewaltlosigkeit und Gerechtigkeit. Dass ich mich hier, wo ich lebe, vom kollektiven Primitivismus überwältigt fühle, ist kein guter Grund zum Jammern. Das sage ich allerdings nicht zu Liam, denn manche Gedanken sollte man besser für sich behalten. Ich weiß ohnehin, was er sagen würde, aber ich bin nicht sicher, ob ich ein weiteres Mal aushalten könnte, es zu hören: „For fock sake.“

 

Deutsch von Mascha Dabić

 

Archipel Jugoslawien 1991-2021

von Xhevdet Bajraj

Credits: Edgar García Marquéz

Die ersten Noten des Beerdigungs-Blues für Jugoslawien erklangen ein Jahr nach Titos Ableben. Zehn Jahre lang spielte diese Musik, ehe der Totentanz der jugoslawischen Auflösung begann, der ebenfalls knapp zehn Jahre dauerte.

Jugoslawien stellte ein sozialistisches System mit “menschlichem Antlitz” dar – zu einem solchen wurde es zumindest von den Ideologen der Zeit verklärt. Ob dieses Antlitz schön oder hässlich war, bleibe dahingestellt; doch kennt die Geschichte keinen (ex-)sozialistischen Staat, in dem es sich besser leben ließe. Ich habe nach wie vor Mühe zu begreifen, wie es sich die Südslawen erlauben konnten, diesen Staat zu zerstören. Zumal angesichts der Angebote zur Angliederung an den Westen, die er erhielt. Es war nicht das erste Mal, dass das sozialistische Jugoslawien so deutlich Nein sagte; davor hatte es der Sowjetunion schon eine Abfuhr erteilt.

Die Jugoslawen hätten wissen müssen, dass Geopolitik tötet. Der Machtkampf ist zerstörerisch, noch viel mehr als die spätere Machtausübung. Doch diese Macht brauchen die Hauptakteure in den neu entstandenen Staaten, denn sie beschert ihnen einen Sessel, einen Thron, der sie vor der Verfolgung der Verbrechen schützt, die sie im Krieg begangen haben und auch danach begehen werden.

Ich hörte die Nachrichten aus den Kriegen in Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina und versuchte die Hölle zu erahnen, die sich mit sicherem Schritt auf Kosova zubewegte. Die Hölle kam wirklich und überstieg bei Weitem meine Vorstellungskraft. Jemand eröffnete die Jagdsaison gegen ein ganzes Volk und nannte es Krieg.

Es ist erwiesen, dass der Evolutionsweg eines balkanischen Menschen vom Affen direkt zum Politiker führt. In besonderen Fällen zu einem nationalen Anführer. In den meisten Fällen zu einem Historiker oder Akademiker. Also sind alle Balkanvölker sehr stolz auf ihre Geschichte, wie denn auch sonst, lässt sie sich doch nach Belieben schreiben, das Word-Programm haben alle in ihren Computern installiert. So kommt es, dass in ein und demselben Staat verschiedene Versionen der Geschichte gelehrt werden, je nach ethnischer Zugehörigkeit der Schüler. Die Geschichte wird zu einem Sammellager für Lügen. Und dann kommt ein junger Mann aus England namens Noel Malcolm und schreibt für jede dieser Nationen eine Kurzgeschichte, der die einheimischen Historiker nichts entgegenzusetzen haben. Er könnte auch aus der Schweiz sein und sich Oliver Jens Schmitt nennen. Aber auf dem Balkan vermischen sich Ignoranz und Einzelinteressen und beides zusammen führt zur Verringerung des Unterschieds zwischen Mensch und Esel. Die Ignoranz scheint sich mitten im blutigen Balkantheater bester Gesundheit zu erfreuen und wird uns noch eine ganze Weile treu zur Seite stehen.

Der Krieg. Ich habe die Schlachten und die Epen miterlebt, mir hat das Kalaschnikow-Rohr ins Gesicht gesehen und mich hat der Milizen-Stiefel am Leib getroffen. Ich kenne die okkupierte und die befreite Zone, ich wurde festgenommen, vertrieben und meine Identitätskarte los … Ich habe Helden gesehen, die sich in quengelnde Kinder verwandelten, und Kinder in Helden. Kämpfe, Ruinen und Himmel voller Krähen – davon hatte ich zur Genüge. Ich bin es satt, mich von meiner Frau und zwei Kindern zu verabschieden, oft genug „für immer“. Der Krieg verfolgt mich auch hier in Mexiko, seit einundzwanzig Jahren lässt er mich nicht los. Deshalb werde ich kein Wort mehr darüber verlieren.

Der Fluss der Erinnerung drängt die Überlebenden eines Krieges an den Rand des Abgrunds; dieser ist fühlbar, sichtbar, tastbar. Manche laufen darüber und schaffen es sogar auf die andere Uferseite – und doch bleiben sie für immer gebrochen. Der Wurm der Erinnerung nagt an der menschlichen Seele und der Tod wird zum Vertrauten. Die Erinnerung ist das Metier eines Poeten und der Poet hat nicht den Luxus, seinen Blick von dort abzuwenden. Der Poet wurde auch nicht in den Abgrund gestoßen – er befand sich schon darin. Seit Jahrhunderten sitzt er dort, weil die Geschichte in jeder Generation ihre Zyklen wiederholt. Seine Zähne werden taub von den sauren Früchten der Kriegserinnerung, die es in seiner Seele niemals zu süßer Reife bringen. Es bleibt ihm nichts übrig, als in den Weiten der Sehnsucht und der bezwungenen Freiheit zu wandern. Das Leben kann so furchterregend sein, ein Poem endloser Traurigkeit.

Ich kam nach Mexiko mit einem Stipendium des Internationalen Schriftsteller-Parlaments mit Sitz in Paris. Ich trug eine Reisetasche und eine Plastiktüte, meine Frau ihre Reisetasche und die Kinder gar nichts. Das Wetter, das Essen, die Farben der Häuser, die tropischen Pflanzen und vor allem die Ruhe machten mir zu schaffen; ich musste mich daran gewöhnen, dass mich niemand verfolgte, niemand würde meine Tür eintreten und mich töten kommen. Oft schreckte ich nachts auf, schaute nach meiner Frau und den Kindern in ihren Zimmern, beobachtete sie eine ganze Weile und fragte mich, ob sie uns schon getötet hatten und wir uns im Elysium befanden. Allein die mir unverständliche spanische Sprache in Mexiko City deutete darauf hin, dass ich noch lebte, denn es war mir nicht bekannt, dass man im Paradies Spanisch spricht. Bald fand ich meine bevorzugte Zigarettenmarke, meinen Tequila und mein Bier. Zwei Monate lang schrieb ich keine einzige Zeile. Dann ging es los und ich hörte nicht mehr auf, bis El tamaño del dolor (Das Ausmaß des Schmerzes) entstanden war.

Seit zwanzig Jahren tötet Mexiko mich mit seiner Schönheit. Seit zwanzig Jahren sehne ich mich nach Kosova und genauso lange tötet mich die dortige Wirklichkeit. Jedes Mal gehe ich als Kind hin und komme gealtert zurück.

Das südslawische Wort für Leben lautet život. Davon leitet sich životinja ab, das Wort für Tier/Bestie. Aber auch das Wort životariti, das „schlecht leben“ bedeutet. Das letztere wird gesteigert zu životinjariti, und das bedeutet „noch schlechter, wie ein Tier, leben“. So pendelt das Wort život zwischen zwei Enden und verkürzt deren Abstand zueinander. Irgendwo da oben sitzt Gott, oder – frei nach Spinoza und Nikos Kazantzakis – er ist überall um uns herum. Gott in die Augen zu sehen, demütig, und zu begreifen, dass auch Er (oder er) ein Sünder ist, oder verschlafen kann, oder krank sein kann, bedeutet, einen ungeeigneten Tag zum Menschlich-Sein erwischt zu haben. Homo sum, humani nihil a me alienum puto (Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches, glaube ich, ist mir fremd), sagt Terenz, der Demütige. Spinoza würde das so umschreiben: Ich bin ein/e Tier/Bestie, nichts Tierisches/Bestialisches, glaube ich, ist mir fremd. Welch erbarmungslose Kritik gegen die Kapitulation der Menschlichkeit!

Zum Gedächtnis meiner Generation und einiger Generationen vor mir gehört der Name Marigo. Dies ist laut Überlieferung das Mädchen, das die Flagge bestickt hat, welche Ismail Qemali bei der Ausrufung der nationalen Unabhängigkeit in Vlora am 28. November 1912 hissen ließ. Nach dem Kosovakrieg griff die neue politische und „intellektuelle“ Elite auf diesen Namen zurück und nannte ihr Eliteviertel Marigona. Wenn Verbrecher Scherze machen, lachen die Menschen aus Schmerz; besser, sie schicken ihren Schmerzgrimassen ein donnerndes Lachen hinterher, manchmal mit Tränen, sie lachen und weinen wie die Verrückten, wie die Elenden.

Die Menschen verlassen Kosova jeden Tag, so wie auch Serbien, Bosnien-Herzegowina, Nordmazedonien, Montenegro. Mittlerweile gibt es ganze Viertel mit neuen Häusern ohne Menschen darin. Die Landbevölkerung schwindet, die nichtbestellten Ackerfelder lachen, weinen und stöhnen. Befreiungskriege wie Revolutionen fressen ihre eigenen Kinder. Doch manche von diesen sind dem Tod entkommen und kehren nun zurück, um die Früchte des Krieges zu fressen. Es sind meistens die Kinder der Besiegten aus früheren Wendemomenten der Geschichte: Balli, Tschetniks, Ustascha, Kommunisten. Oder die Religion, die gerade einen fulminanten Wiedereinzug in die neuen, offiziell laizistischen Staaten hält, mit politischen Minaretten und Kirchtürmen, die wie Pilze aus dem Boden schießen. Paradoxerweise scheinen sich die Menschen umso mehr von Gott zu entfernen, je näher die Kirchen und Moscheen an sie heranrücken.

Wie wäre es mal mit einem bürgerlichen Wertesystem, wo Bildung, Gesundheitswesen und Kultur die wichtigste Rolle spielen? Doch die jüngere Geschichte hat uns gezeigt, dass es in der Natur mancher Tiere liegt, menschliche Schlachtfelder aufzusuchen, um sich von den Kadavern zu ernähren. Die Geschichte beweist uns, dass das Ende eines Krieges den Anfang der Korruption markiert. Einige wenige zerstören alte Mythen, nur um auf deren Ruinen neue Mythen zu ihrer eigenen Beweihräucherung zu gründen. Die Menschen, die das Land verlassen, sollen mit Denkmälern für die Gefallenen und Märtyrer getröstet werden, bei deren Bau die Korrupten Gelder unterschlagen haben. Während der Planet mit der Klimakrise konfrontiert wird, spielen sie Helden, schießen mit Waffen in die Decke und stopfen sich voll, solange sie mit am gedeckten Tisch sitzen dürfen. Ohne zu merken, dass sie die schnellste Einbahnstraße in den Untergang genommen haben.

Die einstige serbische Politik hielt in der Hand den Schlüssel zu einer Tür, die nicht existierte. Eine ganze Region mit mehreren Völkern wurde zu ihrer Geisel und alle zusammen versuchten sie dann mit dem Kopf durch die Wand zu gehen, wobei alle schwer bluten mussten. Der heutige Präsident Serbiens hat wieder eine Tür auf dieselbe Wand gezeichnet und hält sie für real. Das Schlimme ist, dass er wieder zwei bis drei Völker auf diesen Weg mitzunehmen versucht. Selbst wenn er es durch diese Wand schaffen würde, sein Ziel liegt nicht vorne, in einer besseren Zukunft, sondern zurück in der Vergangenheit. Nun, die Zeit ist ein wichtiger Faktor – das Leben selbst besteht aus Zeit –, und wenn sie vergeht, ist sie unwiederbringlich weg. Sollte es irgendwann doch in der Region besser werden, so werden die meisten von uns das nicht mehr erleben. Jemand sagte einmal, „wäre ich blind, befände ich mich in meiner eigenen Dunkelheit; da ich es aber nicht bin, bin ich dazu verdammt, in der Dunkelheit der anderen zu leben“. Wir leben gerade in der Dunkelheit der Mächtigen, die uns weismachen wollen, dass wir uns von der Freiheit ernähren sollen, die auf eine imaginierte Brotscheibe geschmiert wird.

Eine ganze Reihe von Staaten, die infolge des Zerfalls Jugoslawiens entstanden sind, haben sich noch nicht vom tribalen Nationalismus befreit. Dort lebt man noch in einer voraufklärerischen Zeit, in der wichtige bis sehr wichtige Primitive den Ton angeben.

Nikos Kazantzakis sagte einst: „Was für eine eigenartige Maschine der Mensch doch ist! Du füllst ihn mit Brot, Wein, Fisch und Radieschen und es kommen Seufzer, Lachen und Träume heraus.” Manchmal nimmt dieser Mensch eine Kalaschnikow und schießt auf andere, oder er nimmt ein Messer und köpft einen anderen. Dieser Umstand macht aus dem Leben einen erkalteten Kaffee, den der Einzelne ganz alleine trinkt, bestenfalls in digitaler Gesellschaft. Und doch träumt er weiter von Rache. Die Dunkelheit, die schon länger in dieser Ecke der Welt herrscht, macht die Menschen stumm; sie schweigen schändlich für ein bisschen Frieden, für drei- bis vierhundert Euro im Monat. Den einzigen, jedoch fundamentalen Unterschied macht die Frage, wer sie waren, bevor sie der Dunkelheit anheimfielen. 

Nachdem wir uns gehasst haben, nachdem wir weiterhin einander hassen, kamen Leute aus aller Welt zu uns, um uns wie wilde Tiere zu domestizieren, um uns beizubringen, wie wir zusammenleben sollten – uns, die wir so viele Jahrzehnte zusammen oder nebeneinander gelebt haben.

Im Kosovakrieg gab es ca. 1300 Kinder, Frauen, alte Leute, die sich anscheinend „selbstgetötet“ haben. Ihre Gräber findet man nicht – offenbar haben sie sich selbst mehrmals umbegraben bzw. sind auf geheimnisvollen Wegen nach Serbien gelangt und haben sich dort so genial versteckt, dass sie niemand mehr finden kann. Andere waren dann doch nicht so erfolgreich und wurden doch gefunden, in Massengräbern im serbischen Batajnica oder im Perućac-See. Offenbar war das böse Absicht, um dem heutigen serbischen Anführer die Suppe zu versalzen. Dieser arbeitete einst für einen Schurken, der ganzen Völkern damit drohte, sie mit einem verrosteten Löffel abzustechen. Dann arbeitete er als Sprecher von Slobodan Milošević, dann als Ministerpräsident und dann als Staatschef. Immer in Begleitung seines gleichaltrigen Kumpanen, eines ehemaligen Kriegskameraden, der für das musikalische Entertainment der seltenen Staatsbesucher zuständig ist, die sich dorthin verirren – Spitzname Koffer oder Žitorađa. Koffer, weil er einmal mit einem Koffer voll Schmiergelder erwischt wurde. In seinen Fernsehshows, zwischen den Liedern, droht er den Serben, sollten sie der Welt zeigen, wo sich die Gräber der Albaner in Serbien befinden, oder die Kriegsverbrecher verraten. So tötet Herr Koffer die Opfer nach einundzwanzig Jahren noch einmal, um sich deren Tod ganz sicher zu sein.

Dieser war kein Überlebenskrieg, sondern ein Expansionskrieg, in dem einige mit unerhörtem Fleiß das geeignete Klima für die Tötung von Frauen, Kindern und alten Menschen schufen, für Vergewaltigung, Folter, Plünderung von Geld, Gold, Autos, Fernsehern, Kühlschränken und Waschmaschinen. So ist das Leben – ein lebendiges Buch des Todes, das niemals aus der Tagesordnung verschwindet. Die Schockwellen, die es in der menschlichen Psyche verursacht, schaffen es nicht, diese aus der Lethargie der Ignoranz zu wecken. Darauf sind die Menschen trainiert: nicht zu hören, nicht zu sehen, nicht zu fühlen. Und doch entlässt sie das nicht aus der Verantwortung, erst recht nicht jene, die aktiv zu diesen Verhältnissen beigetragen haben. Und die übrigen? Die übrigen sind gezwungen, den nächsten Schritt unter dem Druck der Angst zu planen. Den Schritt, der sie aus dieser Wirklichkeit herausführen soll.

In Kosova, dem einzigen Staat in Europa, dessen Bürger noch ein Einreisevisum für die EU brauchen, träumt die Jugend davon, das Land zu verlassen, weil sie nicht mehr daran glaubt, diese Wirklichkeit ändern zu können. In einundzwanzig Jahren haben unsere Politiker es geschafft, das Bildungs- und Gesundheitswesen, die Kunst und die Kultur zu ruinieren, um darauf neue Denkmäler zu bauen und Straßennamen zu ändern, um Fabriken und öffentliche Grundstücke zu privatisieren, die für 100 bis 375 Euro pro Hektar zu haben waren – natürlich nur für sich selbst. Man kann einen Toten frisieren und schminken und schöner machen, aber nicht lebendiger.

Die Geschichte lehrt uns, dass in den meisten Fällen auf Diktatoren die Verbrecher folgen. In einem Klima der Gewalt können nur Menschen ohne Moral und Skrupel gedeihen. Ernesto Sabato schrieb einmal, dass wir in einer Zeit leben, in der die Zukunft schon zerstört zu sein scheint, in einer kranken Zeit, in der wir uns schämen sollten, wegen der Welt, die wir den nächsten Generationen hinterlassen, in einer Zeit, in der wir unsere Kinder um Verzeihung bitten sollten, sie auf diese Welt gebracht zu haben.

Für das meiste, was im Leben passiert, hat man sich nicht selbst entschieden. Wir erwarten den nächsten Tag, und doch habe ich in Mexiko gelernt, dass der nächste Tag niemals kommt. Das Morgige wird so genannt, weil es niemals da ist. Das Morgige kann nur der Tod sein. In Mexiko habe ich gelernt, das Leben neu zu starten. Es gibt Verluste, die niemals ausgeglichen oder korrigiert werden können.

 

Deutsch von Anila Wilms

 

Das verräterische Herz

von Slobodan Šnajder

Credits: Dirk Skiba

Es gibt eine Stelle in seinen Memoiren, die Josip Broz, schon als junger Untergrundkämpfer der Alte genannt, inzwischen aber wirklich alt, bequem im Sessel sitzend, einmal vortrug. Broz (später Tito genannt) lutschte dabei an einer jener Zigarren, die Fidel Castro ihm regelmäßig zukommen ließ. Zwei Dinge verbanden die beiden Männer: die besten Zigarren der Welt und die Tatsache, dass sie die unbestrittenen Anführer ihrer Revolutionen waren. Man könnte noch ein drittes hinzufügen: Beinahe auf die gleiche Weise wird heute gelöscht, was diese Revolutionen, weil authentisch, doch erreicht hatten. Das Auslöschen der Geschichte, dessen Zeuge ich heute in meiner engeren Heimat bin, enthält etwas Furioses, etwas sehr Gewalttätiges und erinnert an das, was der alte Hegel in seiner Phänomenologie des Geistes als Die Furie des Verschwindens bezeichnet hatte. Mit diesem Ausdruck beschrieb Hegel, was mit der Französischen Revolution geschah: eine Art Selbstvernichtung. Das entsprechende Kapitel bei ihm trägt den Titel: Die absolute Freiheit und der Schrecken. Am Ende bleibt nur noch die Furie (so steht es bei Hegel), die jedes historische Gedächtnis auslöscht.

Hegel selbst wurde als relativ junger Greis von einer furiosen Cholerawelle dahingerafft. Tito hingegen lebte die ihm beschiedene Zeit zu Ende, und handelte es sich nicht um eine authentische Revolution, müssten wir sein Leben als abenteuerlich betrachten. Der Sensenmann hatte es oft auf seinen Kopf abgesehen, ihn aber jedes Mal verfehlt.

Dieser Mann erzählte also von seinem Leben so lässig, als gehöre es ihm nicht, als sehe er sich, gemütlich im Sessel sitzend, einen Western an. Er war natürlich fest davon überzeugt, immer auf der Seite des Guten gehandelt zu haben, und nannte das Gewalttätige in seiner Revolution eine notwendige Etappe auf dem Weg zur Freiheit. In den Wildwestfilmen schießt der gute meist schneller als der böse Cowboy, den er dadurch aus der Welt schafft. Broz hatte Hegel bestimmt nicht gelesen; er hatte schon genug Probleme mit Miroslav Krleža. Aber Hegel und seine Furie beiseite: Josip Broz liebte Wildwestfilme.

Jetzt möchte ich das Augenmerk auf eine Begebenheit aus der Zeit richten, als Josip Broz erst dabei war, Tito zu werden. Ende des Jahres 1920 versuchten Broz, damals fast noch ein Niemand, und seine erste Frau, eine junge Russin, mit merkwürdigen Papieren Lenins Staat zu verlassen, in dem alles noch brachlag. Man kann es kaum glauben, aber mit von der Partie war auch Jaroslav Hašek, zwar beträchtlich älter als Broz, jedoch noch nicht ganz der Jaroslav Hašek. Beide wollten in den Westen. Außer diesem Wunsch gab es noch manches, was die beiden miteinander verband: Galizien, die Verwundung, die Gefangenschaft, die Parteinahme für die Sowjets. Der zehn Jahre ältere Hašek, der sich später zu einem scharfen, aber gutmütigen Satiriker entwickeln sollte, hatte sich in der Roten Armee hervorgetan und es dort zu hohem Rang gebracht. Jetzt schickte die Revolution ihn als ihren Missionar in den Westen. Auch Broz hatte bestimmt eine Mission, etwa die Flamme der Revolution auf den Balkan zu tragen, nur sah man das damals nicht so klar, wie man heute die Reise des olympischen Feuers durch die ganze Welt verfolgt.

Man kann sich schwer vorstellen, dass Tito in dem fernen Jahr 1920 davon träumte, er werde in späteren Jahren an seinen Geburtstagen vor den Augen aller „Völker und Volksgruppen“ des Landes als gleichzeitig deren Vater und Sohn (und auch Heiliger Geist) etwas wie das Olympische Feuer in Form einer Stafette empfangen. Damals hatte er eine Grenze passieren müssen, und zwar nicht irgendeine, sondern die Grenze zwischen zwei Welten. Er musste also einen kühlen Kopf bewahren, was später von vielen, die am Epos Tito mitstrickten, besungen wurde.

Der Mensch ist indes eine merkwürdige Maschine, die hauptsächlich vom Herzen angetrieben wird. Es ist anzunehmen, dass die Herzen der paar verdächtigen Personen beim Passieren dieser Grenze stärker klopften. Denn wer konnte aus dem Land der bolschewistischen Revolution kommen, ohne selbst ein Bolschewik zu sein? Eventuell ein Schmuggler. Aber könne man nicht auch die Revolution wie alles andere einschmuggeln? Das fragte sich rhetorisch der Offizier im Hof der Festung Narva an der estnischen Grenze, also einer Grenzgarnison. Ich versuche, mir den Hof dieses bestimmt nicht allzu lustigen Gebäudes vorzustellen, an dessen Außenwand man dieses sonderbare Grüppchen mühelos hätte stellen können … Der eine murmelte, er sei ein Tscheche, der andere wusste nicht, was er war, wahrscheinlich suchte er nach der glaubwürdigsten Lüge, die dritte gestand, eine Russin zu sein, daher war wohl auch der, den sie in ihrem Bauch wie eine Kängurumutter in ihrer Tasche trug, ein Russe, wenn nicht ein Tscheche oder werweißwas sonst; jedenfalls waren sie alle vier Bolschewiken.

Die Weltgeschichte und auch die europäische Literaturgeschichte hätten einen ganz anderen Lauf genommen, hätte der estnische Offizier mit ihnen kurzen Prozess gemacht. Den hätte ihm auch niemand übelgenommen. Für den Tod des ungeborenen Kinds von Broz hätte man ihn nicht belangt, denn es starb sofort nach seiner Geburt. Aber die Geschichte? Aber die Literatur? Aber die junge Russin, die allerdings nicht zählt? Schwejk befasste sich nicht mit Russinnen, Broz hingegen erinnerte sich an sie … an eben dieser Stelle seiner Memoiren und danach nie mehr. Als er jedoch in seiner Ausführung an diese Stelle gelangte, lachte er lausbübisch, denn das ganze Ereignis war trotz der Gefahr eigentlich skurril komisch gewesen. So sind auch die besten Witze, die man sich erzählt.

Alle leugneten, etwas mit den Bolschewiken zu tun zu haben. In der Tat, ein so kluger Narr, als der sich Hašek wie die Präfiguration seiner literarischen Figur Schwejk präsentierte, konnte kein Bolschewik sein, und Josip Broz schaffte es, überzeugend zu wirken, indem er erklärte, er sei Schlosser von Beruf, indem er also zur Wahrheit griff. Daraufhin ließ der estnische Offizier eine Roma-Gruppe kommen, in der es wie in übrigens jeder anderen neben vielen reproduktiven Wunderkindern auch begabte Künstler gab. Die schon früher festgenommene Gruppe befand sich (in den Augen des Offiziers) in einer ähnlichen Lage wie die Bolschewiken, da Roma sich wenig um Grenzen scheren und nicht so leicht vor ihnen Halt machen.

Der Offizier hatte eine Idee, die in wenigen Worten in Folgendem bestand: Die Musiker sollten – hier aufgepasst! – die Internationale spielen! Roma, die von den Ustascha in Jasenovac, dem kroatischen Auschwitz, „konzentriert“ wurden, hatte man oft gezwungen, die ganze Nacht hindurch zu spielen, obwohl sie wussten, dass sie am nächsten Tag hingerichtet würden. In einer solchen Situation mussten fahrende Musiker ein reichhaltiges Repertoire haben, selbst wenn das manchmal vergeblich war.

Stellen wir uns also unser bolschewistisches Grüppchen mit offensichtlich falschen Papieren (das war dem Offizier schon klar, aber etwas ließ ihm keine Ruhe) nebeneinanderstehend vor; der Offizier geht von einem zum anderen, die Roma spielen tutta la forza die Internationale, die Geige führt, aber auch die Trommler tun sich hervor, denn sie müssen den Rhythmus der kommenden Weltrevolution vermitteln. Über einen Bären ist nichts überliefert worden. Der Offizier legt jedem in der Reihe Stehenden sein Ohr ans – Herz! Ohnehin verängstigt, verraten ihre Herzen eine besondere Erregung, ja sogar Lust!

Ich glaube, dieser Prototyp des Lügendetektors war durchaus zuverlässig. Er lieferte dem Offizier den Beweis, das verräterische Herz entlarvte die kleine Gruppe. Der Offizier gratulierte sich selbst zu seiner Erfindung. Dazu kam, dass im Hof sich schon Publikum versammelt hatte. Die Musik gefiel. Dieses Liedchen war auch gar nicht so schlecht, dachte der Offizier und ließ die Gruppe nach Estland weiterziehen mit den Worten: „Glaubt ja nicht, ihr hättet mich reingelegt!“

Es hätte auch anders kommen können. Die heutige Furie des Verschwindens hätte schon damals, vor genau hundert Jahren, in der Festung an der Grenze zu Estland einsetzen können. Aber in der Weltgeschichte ist es üblich, dass zuerst etwas furios entstehen muss, bevor die Furie des Verschwindens zum Zuge kommt. Und die bringt nie das gnädige Vergessen der Eumeniden, sondern den rachedürstenden, auf eine neue Gelegenheit wartenden Hass. Dies kommt vielleicht am stärksten, am bittersten, am engstirnigsten in der Region vor, die wir den jugoslawischen Archipel nennen: Die Inseln rücken immer weiter voneinander ab, das Meer wird immer mehr, das Festland immer weniger. Während Broz die Schlüsselfigur beim Entstehen des sozialistischen Staates war, setzte sich Jaroslav Hašek mit seinem unsterblichen braven Soldaten Schwejk ein Papierdenkmal. Ich sage ein Denkmal aus Papier, doch aere perennius, dauernder als Erz. Titos Denkmäler waren zwar aus echter Bronze, aber die symbolischen halten anscheinend länger. Das Herz von Broz erwies sich indes als stärker. Was hat dieser Mann nicht alles durchgemacht! Hašek starb an Herzversagen. Sein Herz hat ihn kaum drei Jahre später wieder verraten.

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Hundert Jahre später, im Jahre des Herrn 2020, kam es zu einem fantastischen und auch furiosen Remake des frühen Prototyps des Lügendetektors. Der war dank der Weiterentwicklung der Menschheit natürlich vollkommener. Der estnische Offizier fand seine Reinkarnation in einem höheren Polizeibeamten unserer Zeit, natürlich einem Informatiker. Nachdem sich über Jahrzehnte eine Zwischenform des Lügendetektors behauptet hatte, die ebenfalls die Herzschläge, jedoch eher im mechanischen Sinn, registrierte, gab es einen großen Schritt voran. Ich hatte persönlich die Ehre, Bekanntschaft mit dieser Zwischenform zu machen; die Erfahrung war keineswegs angenehm: Man kann noch so sehr auf das Herz schwören, das verrät einen immer!

Die Menschheit hat sich naturgemäß weiterentwickelt, neue Technologien, von denen der estnische Offizier nicht einmal geträumt hätte, haben die Kontrolle über menschliche Herzen übernommen. Er, der die Herzschläge der verdächtigen Personen sozusagen manuell zählte, hätte darüber gestaunt, wie sehr seine Erfindung verfeinert wurde. Seine Gefangenen überführte er nach Gehör, so wie die Roma-Kapelle nach Gehör musizierte.

Es geht um Folgendes: An der kroatischen Grenze im Osten, also am Rande des künftigen Schengengebiets, wurden in diesem Jahr superempfindliche Anlagen aufgestellt, die die Schläge menschlicher Herzen in geschlossenen LKWs und Kombis registrieren! Die Herzen der Emigranten pochen ohnehin stark, erst recht aber, wenn diese versuchen, zu einer, wenn nicht besseren, dann aber sicher im Moment geordneten Welt zu gelangen und auf diese Weise das nackte Leben zu retten. Die Herzen der Emigranten sind verräterische Herzen, obwohl niemand mehr von der Internationale spricht. Im Unterschied zu dem estnischen Offizier, der die Verdächtigen laufen ließ, zufrieden, dass sie ihn nicht zum Narren gemacht hatten, verzeihen diese installierten Lauscher menschlicher Herzen keinem, dessen Herz stärker schlägt. Es gibt vierhundert solcher Anlagen, deren Aufgabe es ist, die Menschen mit einem Herzen daran zu hindern, ins Land einzureisen. Die Grundvoraussetzung ist einfach: Jeder Immigrant, selbst wenn er nichts anderes bei sich hat, hat ein Herz. Das arme Herz pumpt in jeden Winkel des Körpers fünf Liter Blut in der Minute und bis zu 20 Liter in einer gefährlichen Situation, wenn es um Leben oder Tod geht.

Es gibt aber einen nahezu fundamentalen Unterschied. Der estnische Detektor im Ohr des Grenzoffiziers musste herausfinden, was die abgehörten Herzen im ideologischen Sinne antrieb. Das sollten eigentlich auch die späteren Geräte tun, die wir als Lügendetektoren kennen. (Auch ich, wie bereits gesagt, habe als eine Person mit verdächtigem Herzen Bekanntschaft mit einem solchen Gerät gemacht.)

Allerdings dient diese verbesserte Ausführung der alten Version nicht zur Feststellung, bei wem das Herz in politischem Sinne pocht, sondern, ob im Laderaum eines LKWs ein menschliches Wesen versteckt ist, das es im eigentlichen Sinne des Wortes gar nicht ist, obwohl es ein Herz hat.

Also es lebe der Fortschritt! Liberté, Égalité, Fraternité! Insbesondere das Letztere: die Brüderlichkeit des Menschengeschlechts. Die Internationale des menschlichen Elends. Vielleicht hätten Einheit, Freiheit und Brüderlichkeit weiterleben können, hätten die Furien des Verschwindens es zugelassen.

Der Herzschlag des kleinen Jungen, dessen Foto vor fünf Jahren um die Welt ging, nachdem ihn das Mittelmeer, die Wiege dieser westlichen Kultur, ans Land gespült hatte, wurde von keinem abgehört. Aber warum war diese Wiege so grausam zu ihm? An dieser Stelle will ich seinen Namen festhalten: Alan Kurdi. So hieß dieses Strandgut.

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Obwohl ich den größten Teil meines Lebens in einem weicheren Sozialismus verbracht habe, der auch einige menschliche Züge hatte, bekam ich bei jeder Grenzüberschreitung Herzklopfen. Ich glaube, dass es dafür keinen wirklichen Grund gab, obwohl die Personen, die der Staat als bedrohlich für seine Existenz einstufte, meist damit rechnen mussten, dass man ihnen den Reisepass abnahm. Andererseits gab es innerhalb dieses Archipels wenigstens keine Grenzen und man brauchte auch keinen Reisepass: Schon der Gedanke daran wäre absurd gewesen. Jetzt hingegen prangen zum Beispiel in Kroatien alle paar hundert Kilometer oder weniger neuerrichtete, beleuchtete, repräsentative Grenzübergänge, als wäre jeder von ihnen ein Triumphbogen (Arc de Triomphe). Der Zugang zu ihnen wird oft ohne jeden Sinn durch eine wütende Maßnahme oder Gegenmaßnahme erschwert; zerstrittene Völker benehmen sich eben wie zerstrittene Schulklassen. Wenn man heute mit dem Auto von Zagreb nach Novi Sad fährt, ohne den Weg über den langweiligen Autoput zu nehmen, bleibt man zwar die ganze Zeit auf dem Boden des ehemaligen Pannonischen Meers, man muss jedoch dreimal Kroatien verlassen und dreimal wieder nach Kroatien einreisen. Und das in der heutigen Welt, in der die Grenze zwischen Deutschland und Frankreich kaum sichtbar ist: leere Container, keine besondere Beleuchtung, ein Schild, auf dessen einer Seite Deutschland und auf der anderen Frankreich steht. Und das nach allem, was diese Länder einander angetan haben!

Sie taten einander dasselbe an, was die Völker des „verfluchten Landes Balkan“, wie mein Teil der Welt in der Sprache der deutschen Journalisten genannt wird, einander angetan haben.

Das Gleiche gilt für die Grenze zwischen Belgien und Frankreich, wo ich mich einige Zeit aufhielt. Die dortigen dunklen Wälder sind von Gräbern übersät, in den Baumstämmen kann man auch heute noch Patronen finden. Auf den lokalen Straßen wird die Grenze aber nicht gekennzeichnet, man kann sie leicht passieren. Ich besuchte nämlich gern belgische Tavernen … In der zivilisierten Welt interessieren sich für die Grenzen nur noch die Mobilfunkoperateure, sie ermahnen einen, wenn man auch nur einen Schritt ins fremde Land tut, weil dort nicht sie, sondern ihre französischen Kollegen kassieren. Nur das ist von Belang.

Corona ist natürlich etwas anderes. Die Grenze beginnt jetzt nach 1,5 Meter.

Aber da der Mobilfunk nicht mehr weit davon entfernt ist, die völlige Kontrolle über uns zu übernehmen, vermute ich, dass sein nächster Schritt sein wird, unsere verräterischen Herzen zu überprüfen. So wird zum Beispiel die politische Polizei, die es heute natürlich nicht gibt, während im Fernsehen die Ansprache des neuen Vaters (oder wenigstens des Onkels) der Nation übertragen wird, sofort feststellen können, ob jemand ein gutes und gehorsames Kind des Volkes ist oder ob sein Herz in einem anderen, willkürlichen und verderblichen Rhythmus schlägt.

Denn der Mensch ist eine Maschine, bei der alles von der Hydraulik abhängt. Unsere Ahnen hatten ein anderes Verhältnis zum Herzen. Wurde denn Chopins Herz, in Kognak getaucht (ein Ausdruck von Liebe), nicht von Paris nach Warschau geschmuggelt, um in der dortigen Heiligkreuzkirche aufbewahrt zu werden? Und das war nur eines der berühmten Herzen der Menschheit. Heute begegnet man dem Herzen auf Pralinenschachteln oder als Emoticon.

Dennoch ist es sehr schwer, das verräterische Herz zu unterdrücken.

Deutsch von Mirjana und Klaus Wittmann

 

Spuckt nicht auf unsere Existenzen

von Mile Stojić

Credits: privat

Drei Jahrzehnte sind seit dem Tod des sozialistischen Jugoslawien vergangen, und darüber ist mehr oder weniger alles gesagt. Der Sozialismus ist untergegangen, und untergegangen ist auch der Staat, der diese Bezeichnung getragen hat, denn, so wird der ausländische Betrachter sagen, nichts auf der Welt ist ewig, auch kein Staat. Der zweite Staat der Südslawen ist allerdings schmählich untergegangen, sein Zerfall war ein blutiger und lange währender, mit Bergen von Leichen, die jetzt die ehemaligen „Brudervölker“ spalten, aber sein geistiges Vermächtnis ist noch vorhanden, nicht nur in den Erinnerungen meiner Generation, sondern auch in jenem Bereich, den wir gewöhnlich als gemeinsamen Kulturraum bezeichnen.

Für uns, die wir in diesem System geboren und aufgewachsen sind, haben sich seine Inhalte ins Feld der Nostalgie geflüchtet. Ein Paradoxon ist es, dass Jugoslawien von jugoslawischen Kommunisten zerstört wurde, von einer Generation, die die Idee der klassenlosen Gesellschaft geboren hat. Diese verschworenen Kämpfer des Marxismus-Leninismus blieben nicht länger Adepten der planetaren Utopie, sondern zerstörten einen komplizierten Organismus mit Hilfe eines einfacheren. Mit einem Hammer lässt sich der Mechanismus einer Uhr leicht zerschlagen, umgekehrt ist es unmöglich.

Die Idee der Utopie hatte dem Partikularismus zu weichen, das Projekt der sozialen Emanzipation dem – Nationalismus. In der Dekadenz des jugoslawischen Monismus wurde der nationale Führer geboren, der zum Volk, vor allem zum serbischen, in der „Sprache des Volkes“ redete. Aber kann man so komplizierte Dinge mit so einfachen Worten ausdrücken? Wir jedenfalls konnten, wie László Végel sagt, unsere Vergangenheit nicht einfach begraben. Denn Jugoslawien war eine große Idee, die von großen Dichtern besungen wurde:

            Setzt alles in Brand, was brennen kann

            Zerstört alles, was sich zerstören lässt, alles, was nicht ewig ist

            Findet in allem und nach allem die Hoffnung

            Revolution!, was bleibt, ist der Mensch

            Was vergeht, ist die Vergangenheit

(Branko Miljković, Jugoslawien)

 

Dieser Staat, in dem wir geboren wurden und der fast achtzig Jahre lang Jugoslawien hieß, ist also vor drei Jahrzehnten definitiv in die „Rumpelkammer der Geschichte“ gewandert. Barbarisch in Stücke gerissen, haben sich auch die Reste seiner Überbleibsel aufgelöst. Die Brüder sind im Kampf um die materielle Hinterlassenschaft des respektablen Toten ausgeblutet, und um die geistige schert sich niemand mehr, denn die wird allgemein als geringfügiger Besitz angesehen, als gescheitertes Projekt. Sein Name wird von niemandem mehr benötigt, er dient jetzt als Spottwort und Menetekel.

Alles, was nicht imstande ist zu leben, ist auch die Erinnerung nicht wert, lehren uns die darwinistischen Gesetze der Geschichte. Und doch werden uns, den in dieser Welt Geborenen, manche Gewohnheiten und Begriffe bis zu unserem Tod im Gedächtnis bleiben, manche längst jeden Inhalts entleerte Worte werden von uns verlangen, dass wir nach ihren vergessenen oder verlorenen Bedeutungen suchen und sie erneut deuten. Eine dieser Phrasen ist in jedem Fall das Kompositum Einheit und Brüderlichkeit, ein Schlüsselwort der ideologischen Sprache im sozialistischen Jugoslawien.

Wie viel Mühe hatte ich, mein Gott, als ich als hoffnungsfroher Student meinen jungen deutschen Freunden die Begriffe übersetzen und verdeutlichen sollte, auf denen unser damals mächtiger und allseits respektierter Staat gegründet war. Am schwersten fiel mir, Begriffe wie „Blockfreiheit“ oder „Einheit und Brüderlichkeit“ ins Deutsche zu übersetzen, vor allem letzteren, der der feste Zement war, von dem der gigantische jugoslawische Monolith zusammengehalten wurde. „Zur Brüderlichkeit braucht es zwei, Einheit ist eine einzige“, lautete die prompte Antwort, aber ich ging nicht in die Knie. „Einheit und Brüderlichkeit“, wiederholte ich und führte stolz die Tatsache an, dass Marschall Tito persönlich dieses große Wort in jeder seiner Reden verwendete und uns dringend ermahnte, „Einheit und Brüderlichkeit wie unseren Augapfel zu hüten“.

Erst später habe ich begriffen, dass diese Begriffe biblischer Herkunft sind und dass sie für uns eine Art kosmopolitischer Ersatz waren. Uns war nicht bewusst, dass sie zugleich Synonyme der Diktatur waren. Darin lag der helle Schein des Sozialismus – dass er jedem die Illusion gab, er könne seinen Platz finden und in seinem Schutz beruhigt und gelassen sein.

Den Namen der Einheit und Brüderlichkeit trugen damals Brücken, Plätze, Eisenbahnzüge, Schulen, Fabriken und Verlagshäuser. Die erste moderne Straße auf dem Balkan, der größte Verkehrsweg, der Zagreb und Belgrad verband, hieß Autoput bratstva i jedinstva, Autobahn der Einheit und Brüderlichkeit. Den Bau dieser Straße reklamierte man lange Zeit als eines der größten Wirtschaftswunder Jugoslawiens, über sie hinterließen die damaligen Dichter erschütternde Zeugnisse in den Schulbüchern. Auch heute dringen diese vollen Akkorde durch den Tunnel der Zeit, durch das gewaltige Brausen und Rauschen an unsere Ohren:

            Zwischen den zwei Bruderstädten

            Belgrad und Zagreb

            Erstreckt sich die weiße Straße …

            Wie der Regenbogen über den Himmel …

            Erstreckt sich die weiße Straße

            Sie erscheint dir von Weitem

            Als schneeweißer Strom

            Zwischen Äckern und Auen …

So beschrieben patriotische Dichter die Entstehung und den Zweck der ersten jugoslawischen Autobahn, indem sie ihr einen metaphysischen, keinen verkehrstechnischen Sinn gaben.

Heute hat diese Straße ihren Namen geändert und heißt nicht mehr Autoput bratstva i jedinstva, wie es im sozialistischen Staat der Fall war, und sie heißt auch nicht nach den Städten, die sie verbindet, wie es überall in der Welt üblich ist; heute trägt sie die Bezeichnung Autocesta Zagreb-Lipovac. Der Name der einstigen jugoslawischen und heute serbischen Hauptstadt wurde aus ihrem Namen gelöscht, an seiner Stelle figuriert die Bezeichnung eines kroatischen Grenzdörfchens in Slawonien.

Es ist verständlich, dass die einstige ideologische Bezeichnung dieser Verkehrsader heute manch einem grotesk vorkäme, manchem vielleicht auch nostalgisch (wie „Seidenstraße“, „Heilsweg“ usw.), aber der jetzige Name wirkt verwirrend und ungenau. Stellen Sie sich vor, die Autobahn Wien-München hieße Wien-Oberberg oder so ähnlich, stellen Sie sich vor, welch Kopfzerbrechen das den Autofahrern und Reisenden tagtäglich bereiten würde. Den Straßen der Welt ist es egal, wie sehr wir die Städte lieben, zu denen sie führen.

Zur Autobahn Zagreb-Belgrad würde unter Einrechnung der aktuellen Resultate der Nationalpolitiken noch am genauesten die anagrammatische Bezeichnung Zagrab-Belgrab passen. Genosse Tito, dein Brief soll stets uns mahnen – Einheit und Brüderlichkeit steht auf unseren Fahnen, hatten die Jugendbrigaden bei den freiwilligen Arbeitseinsätzen gesungen, überzeugt davon, dass die Botschaften der zahlreichen Parteikongresse Wegweiser seien in eine hellere und bessere Zukunft. Aber das ideologisch unterlegte Verdrängen und Negieren der Unterschiede zwischen den jugoslawischen Völkern machte einem Hervorheben und Überbetonen dieser Unterschiede Platz. Die balkanischen Liliputstaaten hatten Gulliver-Ambitionen, was vor allem für den großserbischen Nationalismus gilt.

Alle diejenigen lügen, die da sagen, sie hätten den Kommunismus von innen heraus gestürzt – die damaligen politischen Gefangenen liebte niemand – die Mehrheit glaubte, die Kommunisten hätten einen Šešelj, Đo­go oder Tuđman zu Recht verurteilt und eingesperrt. Der Kommunismus wurde global durch die Initiative Michail Gorbatschows gestürzt und gebar neue unabhängige Staaten, während Jugoslawien von innen gestürzt wurde, heimtückisch und hinterhältig.

Sein definitiver Verbleib ist nach alledem die Rumpelkammer der Geschichte, denn unter den neuen Bedingungen habe das berühmte Syntagma, wie ein zeitgenössischer Chronist ätzend bemerkt, eine neue Bedeutung bekommen: es seien die Brüderschaft des Verbrechens und die Einheit der Finsternis, die die südslawischen Völker nun miteinander verbänden. Die Worte der Pionier- und Soldateneide, der lyrischen Gedichte, sozialistischen Weckrufe und Kampflieder waren der Einheit und Brüderlichkeit gewidmet, dieser Errungenschaft aller Errungenschaften des Volksbefreiungskampfes und der sozialistischen Revolution. Jetzt sind sie nur noch leere Begriffe, tote Schriftzeichen.

Einheit und Brüderlichkeit war vo vremja ono, zu jener Zeit, Ausdruck der Liebe, eine rhetorische Figur, mit der die gegenseitige Beziehung „unserer Völker, Völkerschaften und nationalen Minderheiten“ beschrieben wurden, die Illusion, dass wir alle gleichberechtigt seien, aber auch die Schafsmaske, hinter der sich lange Zeit die Wolfsgesichter versteckten. Heute sind wir allein, nackt und tot. Verwundert, dass die Worte leer sind wie die Augenhöhlen eines Schädels, dass wir ihre Bedeutungen zerstört haben, die einmal mit optimistischen, rosigen Sinngebungen lebendig pulsten. Die Utopie von Einheit und Brüderlichkeit, von Gleichheit und Gerechtigkeit hat sich in kurzer Zeit in Weinen und Zähneknirschen verwandelt.

Jugoslawien war ein Projekt der Modernisierung der zurückgebliebenen Balkangesellschaften, allerdings im autoritären Modus. Gestürzt wurde es durch den serbischen Großstaatsnationalismus, alle Waffen, die Tito zur Verteidigung des sozialistischen Staates gegen äußere Feinde angeschafft hatte, stürzten über seine Bürger herein. Die Neunzigerjahre brachten die Reinkarnation des Faschismus, mit Konzentrationslagern, Massendeportationen und Genozid. Seine Einzelteile, vor allem Bosnien und Herzegowina sowie Serbien, sind heute postgenozide Gesellschaften, ohne klare Orientierung, mit Hunderttausenden verwundeter und ihrer Rechte beraubter Menschen, die ihr Heil zumeist in der Emigration suchen und das Land immer zahlreicher verlassen.

Die Geschichte von Jugoslawien erscheint der jungen Generation heute wie eine Erzählung von Karthago und dem alten Rom. Wir, die wir in diesem Staat unsere schönsten Jahre verlebt haben, wir hätten unseren alten Staat kaputtgemacht. Der junge serbische Schriftsteller Marko Dinić beschreibt in einer Abrechnung mit seinen Eltern meine Generation wie folgt: „Irgendwo war in der Zwischenzeit eine Veränderung eingetreten: Krieg, Kindheit, Bombardierung, Wald, Schule, Flucht, fremdes Land, Großmutters Tod, Autobus, Rückkehr, Ring – der Vater war immer erschöpft und angefressen, wenn er von der Arbeit nach Hause kam, so als hätte die Stadt allmählich auch ihn und seine Existenz eingesaugt. In Wien hatten die Menschen nie so erschöpft ausgesehen. Er war, so wie ich, alleingelassen, seine Generation war wie ein in die Ecke getriebenes Schlachtlamm, Stimmvieh für ein schönes, neues und gerechtes Land …“

Der Dichter Predrag Lucić hat einmal geschrieben, Jugoslawien sei von seinen besten Söhnen erbaut und von seinen schlechtesten zerstört worden. Es lebt nur noch in den Erinnerungen der Alten, die an die ideale Gesellschaft geglaubt, sie erbaut und zerstört haben. Bringt deshalb ein wenig Mitleid für sie auf, spuckt nicht auf diese gescheiterten Existenzen.

 

Deutsch von Klaus Detlef Olof

 

Die Waisen Europas

von László Végel

Credits: Daniel Végel

Du hättest in keine bessere Zeit geboren werden können
als gerade in die heutige, in der wir alles
verloren haben.
Simone Weil

 

1992 verabschiedete ich mich mit meinen Tagebuchaufzeichnungen von Jugoslawien. Es war Winter und Schnee fiel. Ich notierte mir damals, dass der AVNOJ, der Antifaschistische Rat der Nationalen Befreiung Jugoslawiens, fünfzig Jahre zuvor, im November 1942, in Bihać gegründet worden war. Dort wurden die Grundsteine für das sozialistische Jugoslawien gelegt.

Jetzt brach vor meinen Augen nicht nur das Land zusammen, sondern auch die persönliche Vergangenheit mehrerer Generationen. Die militante Einsatzgruppe der Führer und der einflussreichen Intellektuellen erdachte für die Volksmassen inmitten der Ruinen eine neue Vergangenheit. Ich blickte den Panzerkonvois aus dem Fenster meiner Wohnung in Újvidék/Novi Sad nach, sie rollten auf Vukovar zu und wurden von den Patrioten der Gegend und von adretten Bankangestellten mit einem Blumenregen begrüßt. Ich schloss das Fenster, die Bilder der Kraftmeierei vor meinen Augen bedrückten mich, und ich dachte, wenn ein Land mit einer Karawane von Panzern bewacht werden muss, sollte es lieber verschwinden.

Die neue Vergangenheit brach mit Panzern über uns herein.

Mir ist nicht nostalgisch zumute, wiewohl ich überzeugt bin, alles verloren zu haben. Die Bücher sind von den Regalen in meinem Arbeitszimmer verschwunden. Eine weite Leere gähnt um mich herum. Mit fünfzig lud ich zu einem Abschiedsessen ein, wenn mich die Geschichte schon dazu verurteilt hat, das Leben neu zu denken; ist es doch sündhaft geworden, sich redlich zu erinnern. Man verfolgt mein Gezappel mit wachen Augen, damit ich nicht insgeheim die geschändete Geschichte noch mit Hilfe von verdächtigen Metaphern beschwöre.

Ich legte Gedecke auf, wobei ich grübelte, wie viele Gäste wohl kommen würden. Jemand rief meinen Namen. Ich ahnte es schon, sie würden zahlreich kommen und alle würden über mich zu Gericht sitzen. Sie würden meine Irrgänge und meine naiven Illusionen auflisten, meinen Patriotismus auf die Apothekerwaage legen, wie auch meine nationalen Gesinnungen. Sie würden mich vor ein provisorisches kafkaeskes Gericht zitieren. Ich beschloss, noch ein Gedeck aufzulegen, vielleicht käme der Messias.

Die unbekannte Gästeschar strömte in Gruppen heran, gleich kriminellen Banden, sie werden das Urteil verkünden. Meine Spruchrichter fielen stumm in mein Zimmer ein, in Wirklichkeit kennen sie mich gar nicht, was sie nicht im Geringsten stört, ja, sie wollen mich gar nicht kennen. Dicht neben ihnen die Reihe der Zeugen, denen ich ebenfalls unbekannt bin. Meine Richter kamen und gingen, sie maßen mich mit verächtlichen Blicken und entfernten sich wieder, dann kamen neue Einsatztruppen.

Die Strafexpedition hat keinen Sinn. Das Urteil ist wohl schon lange fertig, es wurde mir nicht mitgeteilt, weil sie sich so in der Episode der Schlussabrechnung noch einmal ausleben können, und ich, was kann ich tun, ich räume das Gedeck für den Messias wieder weg. Der Messias ist nicht gekommen.

Das Erinnern bewirkt bei mir nichts, meine Erinnerungen wurden geplündert. Ich versuche, in meinen Romanen alles das zu bewahren, was noch zu bewahren ist. Meine Fürsorge erstreckt sich auch auf die restliche Zukunft, indem ich versuche, noch ein Scheibchen zu retten.

Ich bin gezwungen, eine lange Reise anzutreten, deren Zweck und Dauer mir unbekannt bleiben. Ich versuche meinen Koffer anzuheben, der aber ist so schwer, dass ich ihn nicht einmal von der Stelle bringe. Und doch ist sein Inhalt noch vor dem Antritt der Reise verbraucht. Ich bin mit einem leeren Koffer zum bis heute andauernden Begräbnis Jugoslawiens aufgebrochen.

*

Der Leichnam, Jugoslawien genannt, liegt aufgebahrt vor mir. Das Land entstand im Großen Krieg, als die Franzosen hofften, ein starkes Jugoslawien würde sie vor der deutschen Gefahr schützen. Die Sandburg von Versailles aber ging im Zweiten Weltkrieg unter und das antifaschistische Jugoslawien wurde erschaffen. Nachdem die Berliner Mauer endgültig gefallen war und die beiden deutschen Länder sich vereinigt und die Fackel des gemeinsamen Europa emporgehoben hatten, zerfiel das seinerzeit vielversprechende Experiment Europas in Stücke. Die Fackel flammt allerdings nicht mehr so lichterloh wie damals, weil die Führer der Nationalstaaten ihr die Sauerstoffzufuhr blockieren. Neue, festere, unsichtbare Mauern werden errichtet, jeder schützt seine Souveränität, wie er kann.

Anfangs wurde die Trauerfeier in der verfluchten Gegend mit Gewehrschüssen und Kanonendonner abgehalten. Die Donau spülte Leichen ans Ufer, es war geboten, sich zu verhalten, als wäre überhaupt nichts vorgefallen. Die örtlichen Sender berichteten detailliert über die Erfolge des Novi-Sad-Korps. Auf dem leeren Grundstück meiner Wohnung gegenüber trafen regelmäßig vollbeladene Lastautos ein, von welchen teures Porzellan, Gemälde mit sakralen Themen, Fahrräder, Fernsehgeräte, Waschmaschinen und anderer Hausrat gezerrt wurden. Krieger von der Front in Vukovar verscherbelten hier ihre Diebsbeute. So manche Passanten wandten beim Anblick der Hökerei das Gesicht in Abscheu ab, andere feilschten und kauften die blutbefleckten Waren glücklich auf. Die paramilitärischen Truppen plünderten Vukovar genauso aus wie die eminenten Mitglieder der neuen Klasse das in Trümmern liegende Jugoslawien. Der Ausverkauf der Kriegsbeute begann. Auch die Milizionäre wollten einen bescheidenen Gewinn lukrieren, man kann ja kein Gratis-Patriot sein. Vom Tisch der neuen Oligarchen mussten doch auch für sie einige Krümel abfallen. Die großen Fische lächelten nur. Sie deklamierten im Fernsehen ihre Ansichten von Heimatliebe und Selbstaufopferung, sie feuerten das Volk zum Krieg an, während sie selbst das sozialistische Volksvermögen emsig plünderten.

Der Kleptokapitalismus und die bis ans Kinn bewaffnete Demokratie begrüßten mich im Tarnanzug. Sie wären auch dann gekommen, wenn wir sie nicht gewollt hätten. Ich muss anerkennen, wir waren sehr darauf aus, bloß nannten wir es nicht Kapitalismus. Wir wiederholten nur die Schlagworte Parlamentarische Demokratie, Freier Markt, Mehrparteiensystem. Nachdem die Herren das Volksvermögen untereinander aufgeteilt hatten, schlossen sie Frieden. Sie bebauten die leeren Grundstücke, da stand dann eine prosperierende Bank, daneben wurde ein elegantes Hotel errichtet, die Felduniformen wurden von modischen, europäischen Markenanzügen abgelöst; die gestern noch Tarnuniformen trugen, die elastischen Professoren der Rechtswissenschaften, die tonangebenden Patrioten und cleveren Politiker beteuerten, es sei ja nichts geschehen, es habe Schuld auf beiden Seiten gegeben, jetzt sei nur wichtig, vertrauensvoll in die Zukunft zu blicken. Die schöne neue Zeit war angebrochen. Ich bemerkte, dass die Parlamentsabgeordneten in letzter Zeit alle Manschettenknöpfe anlegen.

Die Barbaren von gestern gefallen sich heute in Designeranzügen westlichen Zuschnitts.

Vergessen wir die Ruinen der Städte! Vergessen wir Sarajevo, Dubrovnik, Mostar, Vukovar und die Tausenden von unbekannten, verlassenen Geistersiedlungen und Dörfer, deren Brandgeruch vom lauen Frühlingswind herangeweht wird. Vergessen wir, wie lange der Himmel von einer dicken Rauchwolke verdeckt war. Vergessen wir, dass Gott sich hilflos in der Höhe versteckt hielt, ich befürchte, wir haben ihn vertrieben. Vergessen wir, dass Hunderttausende in alle Richtungen der Windrose geflohen sind. Vergessen wir die Straßen und Plätze voller stinkender Leichen, verziert mit den Nationalflaggen und Symbolen. Vergessen wir die kaum hörbaren, erstickten Rufe vergewaltigter Frauen in der Ferne, ihr Wehklagen. Vergessen wir die Massengräber, ausgehoben von treuen Patrioten ihrer Nation in diesem ehemals schönen, an Naturschätzen reichen Land, das Brüderlichkeit und Einheit verkündete, das das größte Experiment Europas nach 1945 darstellte, in dem drei Religionen und zahlreiche Nationen hätten miteinander leben sollen.

Das 21. Jahrhundert ist angebrochen, das Jahrhundert der sündigen Amnesie.

Generationen wachsen auf, die ihre Erinnerung auf Knopfdruck verlieren.

Die Wunde Srebrenica schmerzt am erstarrten Körper Europas.

In der seitdem vergangenen Zeit erscheinen wir immer weniger vor der aufgebahrten Leiche Jugoslawiens, der Erinnerungsraub hat das Seine getan. Vor der Totenbahre salutieren nur einige Freunde und mir unbekannte Menschen in stillem Gedenken, Serben, Kroaten, Slowenen, Bosniaken, Montenegriner, Mazedonier … Sie alle stehen mit gesenktem Kopf da. Es gibt keinen Festredner, wir sind nicht zum Würdigen gekommen, nur zum Trauern. Meine Freunde haben alles verloren, was ihnen einmal gehört hat, sie nehmen resigniert zur Kenntnis, dass sie alle in eine neue Heimat geraten sind, Staatsgrenzen trennen sie voneinander, sie sind Bürger stolzer und souveräner Nationalstaaten geworden, die sie dereinst, eines schönen Tages in das nationale Pantheon aufnehmen werden, denn ein Nationalstaat kann auch gegenüber verlorenen Söhnen gnädig sein.

Ich trauere mit ihnen gemeinsam, als Mitglied einer Minderheit habe ich denselben Verlust erlitten wie die Mehrheit, bloß habe ich als Kompensation keinen Nationalstaat bekommen. Ich wurde ein Waise Jugoslawiens. Meine Freunde werden neue Hymnen bekommen, sie erinnern sich an die alte höchstens mit Nostalgie, singen die neue gezwungen mit, ich aber bleibe ohne Hymne und bei großen Nationalfeiern werde ich nur den Mund tonlos aufreißen, wie ein Fisch auf dem Trockenen. Das abgestumpfte Europa ahnt nicht einmal, dass Pandoras Büchse geöffnet und ein Virus freigesetzt wurde, das Virus des ethnischen Populismus, das binnen zweier Jahrzehnte den ganzen Kontinent befallen wird. Vorerst sinniert es darüber, dass es einen Cordon sanitaire errichtet, der es beschützt, und es wendet unschuldig den Blick von der Szene ab, in der der Rechtsextremismus fröhliche Urständ feiert.

Meine trauernden Freunde und ich sind am Massenmord unschuldig, und trotzdem sühnen wir vor dem Leichnam, denn die Sühne ist unumgänglich für uns, büßen doch heutzutage nur die Unschuldigen.

Wir sehen einander ratlos an.

Wir wissen nicht, wo wir das heimatlose Jugoslawien bestatten sollen.

Es hat keine Grabstätte.

Ich möchte anregen, in einem beliebigen europäischen Museum einen Platz für die ewige Ruhe Jugoslawiens zu suchen. Doch ich überlege es mir, bedeutete doch Jugoslawien für mich ein Leben lang Europa, war es doch meine Europa ersetzende Ersatzheimat.

Ich habe sie verloren. Meine heimatlos gebliebenen Freunde haben als Wiedergutmachung eine bis an die Ohren waffenstarrende Miniheimat bekommen, ich aber habe eine europäische Ersatzheimat verloren und mir wurde ein bewaffneter Nationalstaat als Erbteil zugesprochen.

*

Ich hatte die Strecke Skopje-Ljubljana öfter im Glauben zurückgelegt, im vielfarbigen Europa zu reisen. Die Unterschiede zogen mich an, niemals hätte ich gedacht, sie könnten dermaßen explosiv sein. Es musste nur jemand die Lunte anzünden.

Inzwischen zaudert die Europäische Union. Sie kann nicht viel ausrichten, ist sie doch nur eine Union von Nationen. Jeder Nationalstaat verfügt über ein Vetorecht, Europa erinnert an einen lahmen Riesen. Zwischen der europäischen Utopie und der Brüsseler Wirklichkeit gähnt eine Schlucht. Mein einziger Trost ist, dass ich zwei Reservebänke habe: Serbien und Ungarn. Von Zeit zu Zeit wechsle ich sie, mal sitze ich hier, mal da. Ich gaukle mir vor, mit meinen beiden Kulturen reicher zu sein, indessen höre ich die vorwurfsvolle Frage, mit welchem Recht ich zwei Reservebänke beanspruche, ich soll mich entscheiden und mich mit einer zufriedengeben, ich soll hierher oder dorthin gehören.

Verwaist stehe ich vor der Leiche herum, die wir nicht beerdigen, vor der wir nur träge Wache schieben und stumm trauern.

Selbst nach drei Jahrzenten gibt es niemanden, der sie würdig bestattet hätte, sie liegt, gemeinsam mit unsrer Vergangenheit, aufgebahrt im Niemandsland.

*

Ich stammle, im Kampf mit meinem Gewissen: Wir hatten einst einen Sozialismus, den nicht die Bajonette der Sowjets gebracht hatten, er war ein Produkt unsrer eigenen antifaschistischen Bewegung. Es gibt niemanden, auf den wir die Verfehlungen des Sozialismus und mit ihm zusammen unsere eigenen abwälzen könnten. Wir können nicht sagen, die Russen hätten ihn uns aufgezwungen. Über die Verfehlungen aber sollten wir sprechen, doch ermangelt es mir an Seelenstärke, habe ich doch damals, als er sich auf dem Höhepunkt seiner Kraft befand, mit ihm argumentiert; nach seinem Hinscheiden werde ich ihn nicht mit Füßen treten. Ich nehme seine Sünden stoisch auf mich und murmle ängstlich seine Verdienste vor mich hin.

Als Gymnasiast ließ ich mit meinen Klassenkameraden die jugoslawische Fahne flattern, als die Limousine Marschall Titos voller Würde die Hauptstraße Újvidéks/Novi Sads entlangrollte. Wir winkten ihm zu und er winkte zurück. Seine Frau Jovanka grüßte uns mit ihrem allseits bekannten Jugo-Lächeln. Wir hatten eine Utopie, die heutzutage als sündhaft gilt. Wir hatten eine Welt, die wir für wirklich hielten.

Sozialismus, brummle ich dahin, derweil ich den antikommunistischen Tiraden ehemaliger Kommunisten lausche. Die neue Generation, Kinder des Kapitalismus, sie verstehen nicht, was hier bewiesen werden soll. Wenn nur jemand eine Lanze für den Sozialismus bräche, dann verstünde die heutige Jugend vielleicht die seinerzeitigen leidenschaftlichen Diskussionen, deren Tonaufnahmen und Abschriften in staubigen Aktenbündeln versenkt wurden. Ich nahm zur Kenntnis, dass man darüber am besten schweigt. Dies erkannte ich, als ich vor Kurzem, unterwegs in die Buchhandlung in der Njegoš-Straße, zwei Schülerinnen erblickte, die vor einem alten Haus stehen blieben. Die eine zeigte auf eine Figur, die im Schaufenster stand. „Siehst du, das ist der Tito. Großvater hatte sein Foto auf der Anrichte stehen. Einmal fragte ich ihn, wer der Typ sei. Vielleicht ein entfernter Verwandter? Darauf sagte er nur, Liebes, du bist noch ein Kind, du würdest es eh nicht verstehen, wer Tito war.“ Das andere Mädchen sah nachdenklich drein und fragte: „Und hat er nicht gesagt, wann er dir verraten will, wer dieser Tito ist?“ „Nein, er ist vor zwei Jahren gestorben“, antwortete ihre Freundin. Im Weitergehen blickte ich noch zurück, die ratlosen Kinder des Kapitalismus standen noch immer vor der Auslage. Ich glaube, so stehen auch die verwaisten Generationen vor dem Tor der Geschichte herum.

Bei mir regte sich Schuldbewusstsein. Wir schulden uns die Vergangenheit des 20. Jahrhunderts. Was bedeutet Faschismus? Was bedeutet Kommunismus? Heutzutage setzen viele ein Gleichheitszeichen zwischen die beiden Begriffe, und das belastet die Väter und Großväter schwer. Ich bin noch die Kalkulation schuldig. Wäre der Sozialismus nicht über mich hereingebrochen, wäre ich wahrscheinlich in meinem Dorf geblieben, Arbeiter geworden wie mein Vater oder Bauer wie mein Großvater. Als erste Generation, die vom Land in die Stadt kam, stellte ich mir vor, ich würde eine neue Welt erschaffen, ich protestierte und diskutierte, ereiferte mich und träumte von einem Sozialismus mit menschlichem Antlitz, sodann von einem Kapitalismus mit menschlichem Antlitz, schwärmte für die Samtene Revolution, schließlich taumelte ich im Zeitalter der digitalen Revolution in die feudale Tradition.

Der Sozialismus hat mich zur Schule geschickt, für mich gesorgt, mich erhoben – und oft erniedrigt. Jahrzehntelang grübelte ich, wie ich ihm denn gerecht gegenübertreten sollte, denn so, wie ich meine eigene Vergangenheit nicht korrekt beurteilen kann, kann ich mit meiner Gegenwart auch nichts anfangen.

Im Interesse der größeren Freiheit wurde ein Verhalten, das an die Grenze des Verrats streift, ein politischer Zwang. Ich weine der Vergangenheit nicht hinterher, habe keinen Grund dafür, lebe ich doch auch jetzt in denselben bescheidenen Verhältnissen wie seinerzeit. Ich war kein Kommissar des Einparteiensystems, aber auch des Mehrparteiensystems nicht. Nie hatte ich irgendeine Funktion inne, war weder Chefredakteur noch Direktor. Als Autor kann ich freier sprechen als damals, zugleich aber gehört es zur Wahrheit dazu, dass seinerzeit das Wort mehr Risiken barg und mehr Gewicht besaß. Immer öfter nehme ich die Bibel zur Hand, um auch damit dagegen aufzubegehren, dass die Politik zur neuen Religion geworden ist. Die Parteienführer sind die neuen Kirchenoberhäupter, die Priester und Popen ministrieren lediglich neben ihnen.

*

Ich weine der Vergangenheit nicht nach, doch betrauere ich sie, wie es sich gehört. Nach dem Friedensabkommen von Dayton machte ich mich in elender Stimmung auf in die Nachfolgestaaten meiner ehemaligen Heimat. Ich wurde von Schuldbewusstsein geplagt, wiewohl ich kein Wort gegen den einen oder anderen neu entstandenen Staat sagte. Angsterfüllt ging ich von Serbien aus in die ehemaligen Länder Jugoslawiens, wurden doch diese auch auf den Leichen Unschuldiger errichtet. Die Verbrechen wurden in meinem Namen begangen. Wenn ich zu den Wahlen gegangen bin: deshalb. Wenn ich nicht zu den Wahlen gegangen bin: deshalb. Wie ich es auch drehe und wende, ich habe zur Verfestigung und zum Sichern der Macht der neuen Ordnung beigetragen, auch wenn ich mir darüber im Klaren war, dass die roten Teppiche, die in die Parlamente führten, von Blutstropfen gefärbt waren. Ich lebte in einer Zeit der Sühne ohne Schuld.

Mit der Zeit blieben die Beteuerungen der Rechtsstaatlichkeit aus. Sie wird heutzutage ohnehin nur noch von den verwaisten und mitleidig belächelten Menschenrechtsorganisationen angemahnt, die zu ihrem Unglück immer wieder verdächtigt werden, fremde Interessen zu bedienen. An einer Wand erblickte ich zwei Riesenplakate, auf dem einen prangte das Portrait Ratko Mladić‘, des Angeklagten in Den Haag, auf dem anderen die Reklame einer multinationalen Firma. Man könnte sagen, ein Marketing-Handschlag, der in diesem Fall nichts anderes bedeutete als das Eintreffen der Zukunft. Das Kapital hat die Utopie der Europäischen Union besiegt.

*

Die Jahre, ja, die Jahrzehnte ziehen ins Land. Serbien trottet auf die Europäische Union zu, den Berichten aus der EU zufolge aber recht behäbig. Die neunziger Jahre liegen hinter uns, doch bedrücken sie uns noch immer. Schwer zu sagen, was geschehen ist. Wurde Milošević gestürzt oder ging eine Ära zu Ende? Ich hoffe, sie möge beendet sein, andererseits wage ich nicht zu behaupten, dass eine neue Ära angebrochen ist. Stattdessen lebe ich bis heute in einer Übergangszeit. Ein Minister der gegenwärtigen Regierung erweist dem Grab des damaligen Diktators seine Reverenz, nennt ihn einen Helden der Nation, und die Mehrheit des Landes nickt bei den Wahlen alles stumm ab. Wir sind zum Ausgangspunkt zurückgekehrt, nur sprühte damals ein Fünkchen Hoffnung, jetzt aber heilen wir die von der Hoffnung geschlagenen Wunden mit der Medizin des Überlebens. Alles hat aufgehört. Und es ist nicht möglich, eine unvollendete Geschichte dem Vergessen anheimzugeben.

Sie sind dieselben, dortselbst, und doch nicht genauso. Damals war die Welt schwarz-weiß, heute ist alles klebrig und grau in grau.

Serbien war in den Neunzigern ein Kontrapunkt Europas, ein Paria, ein Ausgestoßener. Heute hat es sich den ostmitteleuropäischen ethnopopulistischen Trends angeglichen. Der grobe und ungezügelte Nationalismus der neunziger Jahre wechselte zum Diskurs des demokratischen Nationalismus. Die Idee des Nationalstaates gewann an Kraft, sie schloss sogar mit dem Großteil der politischen Eliten der nationalen Minderheiten Frieden. Serbien wird von keinem wirtschaftlichen Embargo bedroht, die ausländischen Investoren bezeugen Interesse, das internationale Kapital, gestützt mit dem Geld der serbischen Steuerzahler, ist an der Konsolidierung der gegenwärtigen Regierung interessiert. Die neue Generation entsagt dem öffentlichen Leben und zieht sich trotzig in den Cyberraum zurück. Die zornigen und misslaunigen Jungen um die zwanzig revoltieren von Zeit zu Zeit gegen die konformistischen Väter. Die biederen Demonstrationen sind folgenlos geblieben. Linke Intellektuelle wiederholen immer wieder, die Arbeiterklasse sei verschwunden, wir lebten nicht im Zeitalter der Revolutionen. Die Extremisten blinzeln verführerisch nach dem rechten Spielfeld. Auf Hausmauern werden Hakenkreuze gepinselt, aus dem Dunstkreis der schulterzuckenden herrschenden Elite wird auf die Meinungsfreiheit verwiesen. Ein Großteil der Intellektuellen hat mit der Macht einen Sonderfrieden geschlossen, oder er verhält sich subversiv, oder aber er kehrt dem öffentlichen Leben einfach den Rücken, wie die Zwanzigjährigen. Was bleibt, ist der Schreibtisch, keine Funktion, kein Posten, kein Amt.

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Die größte Veränderung ist auf den Friedhöfen zu beobachten, sie sind viel gepflegter als vor fünfzig oder zwanzig Jahren. Ich lese bekannte Namen von den Grabsteinen. Eine Frau kommt mir entgegen, sie schiebt ein dreirädriges Fahrrad voller Blumensträuße und Gießkannen. Außen hängen am Dreirad Rechen, Spaten und Hauen. Ich fange mit ihr ein Gespräch an, es stellt sich heraus, sie ist eine professionelle Grabpflegerin. Es gehe nämlich darum, erklärt sie mir, dass Leute massenhaft ins Ausland gegangen seien und nicht mehr, so wie einst, als Besucher in die Heimat zurückkehrten. Für zehn Euro pro Monat legt sie, wie bestellt, einen Blumenstrauß auf das Grab, wischt die Marmorplatte ab und bringt eventuell die Umgebung des Grabes in Ordnung. In den Begräbnisstätten eröffnet sich für uns das typische ostmitteleuropäische Panorama nach den samtenen Revolutionen.

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In meinem Roman Balkáni szépség, avagy Slemil fattyúja (Deutsch etwa: Die Schönheit vom Balkan oder Der Bastard Schlemihls) befrage ich das 20. Jahrhundert. Die Geschichte beginnt 1918, ein Handwerker versteift sich darauf, seine Werkstatt und seine Heimat selbst um den Preis seines Lebens zu erhalten. Es geschieht nichts weiter, als dass er beide verliert. Wo einst die Werkstatt stand, wird ein Wellnesshotel errichtet und ein Gedenkpark angelegt. Anfangs dachte ich, dieser Roman behandle den Menschen in der Minderheit. Mit der Zeit aber sah ich ein, dass es auch eine andere, eine geheimnisvolle europäische Minderheit gibt, die mich an meine Romanfigur Schlemihl erinnert. Sein Problem besteht nicht darin, dass ihm der Schatten genommen wird, sondern dass er mehrere Schatten besitzt und nicht weiß, welcher der echte sei. Wenn er das wüsste, wäre er kein Europäer mehr. In diese Lage ist Europas geheimnisvolle Minderheit geraten, der europäische Bürger, der seine europäische Identität ernst nimmt und sie behütet. Alle, die sich ungebrochen als Europäer sehen, sind zu Waisen Europas geworden. Unter ihnen suche ich nach Zuflucht.

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War das 20. Jahrhundert so kurz und wurde es 1989 tatsächlich beendet, wie Historiker es behaupten? Eines ist sicher, die Wunden sind nicht verheilt, also blieb das Jahrhundert verstümmelt. Die Zeit raste ohne uns davon, sie ließ die Menschheit am Wegrand zurück. Der Fortschritt vergaß uns, was weder human noch inhuman ist, er brauchte uns einfach nicht mehr, also beging er Fahrerflucht. Wir hingegen bezeichneten ihn aus Rache als Mohnsaft der Aufklärung.

Von welchem Fortschritt sprechen wir? Die neue Utopie ist konservativ, rückwärtsgewandt. Wir, die Waisen Europas, trotten alleingelassen durch das Buschwerk am Straßenrand, dem Fortschritt hinterher, den nicht mehr wir lenken, er zwingt uns vielmehr nach seinem eigenen Gesetz in eine uns unbekannte Richtung.

 

Deutsch von György Buda

Foto: vegeldaniel.com

Jugoslawien in meinem Leben, mein Leben in Jugoslawien in zehn Abschnitten

von Lidija Dimkovska

Credits: Tihomir Pinter

1) Meine jugoslawische Kindheit

Ich verbrachte meine Kindheit in einem kleinen Dorf in Mazedonien, Šlegovo hieß es, bei meinen Großeltern. Meine Eltern blieben der Arbeit wegen in Skopje, meiner Geburtsstadt, und sie besuchten mich an jedem Feiertag. Daher liebte ich die nationalen Feiertage Jugoslawiens, den Tag der Armee, den Tag des Staates, den 1. Mai, denn sie brachten meine Eltern zu mir. Später brachten die gleichen Feiertage mich zu meinen Großeltern.

Meine Großeltern waren einfache, fleißige Leute vom Land – Analphabeten, aber weise, großherzig und offen. Meine Oma verehrte und fürchtete Milka Planinc, die jugoslawische Premierministerin der 1980er-Jahre, erste und einzige Frau in diesem Amt. Sie kam oft in den Radionachrichten zu Wort. Ihre Stimme war tief und laut, und meine Oma drehte den Ton leiser, wenn Milka Planinc über die wirtschaftliche Blüte und die Einigkeit Jugoslawiens sprach.

 

2) Die »Reise durch Jugoslawien«

Die Reise durch Jugoslawien wurde an fast jeder jugoslawischen Schule angeboten und war ein sieben- bis zehntägiger Bustrip zu den wichtigsten historischen und touristischen Sehenswürdigkeiten des Landes. »Vom Fluss Vardar zum Berg Triglav«, wie es in einem bekannten Lied hieß. Das Motto der Reisen lautete: »Lerne dein Land kennen, um es noch mehr zu lieben.«

Und so gelangte ich als 13-jährige Schülerin ins wunderschöne Dubrovnik, wo ich den ersten Lippenstift meines Lebens kaufte, zu den herrlichen Plitvicer Seen, zu Titos Geburtshaus in Kumrovec, in das ehemalige Konzentrationslager Jasenovac, zum Denkmal für die ermordeten Schulkinder in Kragujevac – das Gedicht »Blutige Geschichte« der serbischen Lyrikerin Desanka Maksimović, das von diesem Massaker handelt, hatten wir in der Schule auswendig gelernt –, ins prachtvolle Belgrad mit seinen langen Alleen, in die quirligen Cafés von Sarajevo, aber nicht bis nach Slowenien. Uns fehlte die Zeit, um die Höhle von Postojna und den Berg Triglav zu sehen. War es die Enttäuschung darüber, die sechste Republik Jugoslawiens nicht bereist zu haben, die mich unbewusst antrieb, mich Jahre später in Slowenien niederzulassen?

 

3) Brüderlichkeit und Einigkeit der Völker und Nationen Jugoslawiens

Ein einschneidendes Erlebnis hatte ich Ende der 80er-Jahre in einem Dorf in Montenegro, bei Verwandten, die ich nie zuvor gesehen hatte (im jugoslawischen Denken war das kein Problem: Verwandte waren Verwandte, egal, ob nah oder fern). Mich befremdete, dass die Männer dort mit Pistolen unter dem Kopfkissen schliefen, aber für meinen Cousin war das selbstverständlich. »Echt, dein Vater hat keine Waffe?«, fragte er mich verblüfft.

Eines Morgens, ich stand gerade vor dem Haus, sah ich ein Auto vor einem der Nachbargebäude halten. Ein Mann und ein Mädchen in meinem Alter stiegen aus. Er gab ihr einen Kuss und fuhr gleich wieder ab, während sie mit ihrem Koffer die Stufen zur Haustür hochging, klopfte und eintrat, ohne dass ihr jemand geöffnet hätte. Meine Oma bekreuzigte sich dreifach und sagte zu mir: »Wehe, du treibst dich mit der herum, die taugt nicht als Freundin für dich.« Ich wunderte mich und fragte immer wieder, warum ich das Mädchen nicht kennenlernen sollte.

»Hast du ihren Vater gesehen? Er darf nicht mal ins Haus. Er ist ein Šiptar, deshalb! Ihre Mutter ging zum Studieren nach Priština, da traf sie ihn und wurde schwanger. Nun reden ihre Eltern schon seit Jahren nicht mehr mit ihr. Sie haben sie enterbt, und ihn wollen sie gar nicht erst sehen.«

Das alles kam mir unverständlich vor, in der Schule hatten wir doch gelernt und fast jeden Tag wiederholt, dass Brüderlichkeit und Einigkeit unter den Völkern und Nationen Jugoslawiens herrschten.

 

4) Der Krieg in meinem Leben

Jahre später war ich schockiert zu erfahren, dass einige der Verwandten, die wir in jenem Sommer besucht hatten, nach Bosnien gegangen waren, um dort auf serbischer Seite gegen die bosnische Zivilbevölkerung zu kämpfen. Das hatten wir nicht gewusst, und nach dem Krieg schickte meine Mutter mich mit dem Bus nach Montenegro, um den Verwandten Mehl, Öl und Zucker zu bringen. Es war das erste Mal, dass ich keine jugoslawische, sondern eine mazedonische Grenze überquerte. Und es waren keine normalen Grenzwachen, die im Bus die Papiere kontrollierten, sondern Soldaten mit Maschinenpistolen.

Mein Onkel erwartete mich am Busbahnhof. Mit festem Händedruck sagte er zu mir, ohne Umschweife und auf Serbisch: »Mazedonien ist also separatistisch? Ihr wollt nicht mit uns sein, mit den Serben? Ihr wollt sein wie die Slowenen und Kroaten? Dann wird Mazedonien zusammenbrechen, komplett zusammenbrechen!«

Während der ganzen Autofahrt bis zu seinem Haus wiederholte er, wir seien Separatisten, und niemand auf der ganzen Welt komme Slobodan Milošević gleich. Als wir angekommen waren, führte mein Onkel mich auf den Dachboden, um mir die Vorräte zu zeigen. Säckeweise Mehl und Zucker, Kisten voller Öl und Essig, Nudeln, Konserven und was nicht alles. »Wir sind versorgt, wir brauchen keine Almosen von Mazedoniern«, sagte er: »Aber die Zeit wird kommen, da werdet ihr sie von uns brauchen.« In aller Ausführlichkeit erzählte er mir dann, was für große Krieger die Serben in Bosnien gewesen sein und dass es jedem wahren Serben (dabei war er selbst halb Montenegriner, halb Mazedonier) zur Ehre gereiche, in Kroatien und Bosnien gekämpft zu haben. Ich blieb stumm und fummelte in meinen Hosentaschen herum.

Am Abend lud eine seiner verheirateten Töchter zum Essen. Auf einer Tafel, die sich durchs ganze Zimmer erstreckte, waren Lammbraten und Töpfe voll Reis und Kartoffeln aufgetischt. Der Mann meiner Cousine legte eine Kassette ein, und der traditionelle Serbische Tanz erklang. Alle sprangen auf, fielen einander in die Arme, und sie zogen mich mit sich. Mit festen Stimmen sangen sie, Männer wie Frauen, und wirbelten im Kreis, wirbelten mich mit, und mitten im wilden Tanz dröhnten die Worte: »Srbo, Srbo – Slobo, Slobo!« Ich hielt es nicht mehr aus und schrie: »Ich will nach Hause, ich will nach Hause!« Endlich brachten sie mich hinaus und setzten mich in ein Auto. Am Morgen nahm ich den ersten Bus nach Skopje, winkte meinem Onkel am Bahnhof nur flüchtig zum Abschied. Ich habe diese Verwandten nie wiedergesehen.

 

  1. Eine seltsame postjugoslawische Zusammenkunft

Eine seltsame Zusammenkunft ergab sich im Jahr 1995, kurz nach dem Massaker von Srebrenica, als ich in Straßburg auf andere junge Jugoslawinnen und Jugoslawen traf. Alle wie ich in den 70ern geboren, alle zerbrechlich und verwirrt: Wir fühlten uns schuldig an einem Krieg, den wir nicht gewollt hatten. Die Bosnierinnen waren so wütend und traurig, dass ich mich fast schämte, aus Mazedonien zu sein, das damals als »Oase des Friedens« galt. Eine von ihnen sagte zu mir: »Stell dir vor, du studierst, aber dein Studentenausweis verbrennt in der Nationalbibliothek von Sarajevo, zusammen mit all unseren Dokumenten und all unseren Büchern – deine persönliche und deine nationale Identität ist verloren. Du bist niemand, bist nichts, und um dich herum sterben die Leute.«

Sie hatte recht. Wir versuchten einander zu verstehen und sangen sogar zusammen den Song My Balkan von der Rockband Azra, den wir alle sehr mochten. Die Dozenten an der Universität Straßburg, die uns aufgenommen hatte, riefen: »Aber ihr liebt euch doch!« Sie wollten mit uns ins Gespräch kommen, um zu verstehen, was geschah und warum. Wir konnten ihnen nicht weiterhelfen. Was in Jugoslawien passierte, nahm uns zu sehr mit, und wir begriffen es ja selbst nicht. Gewiss liebten wir einander, aber tief im Innern blieb das Gefühl, an dem Krieg schuld zu sein, auch wenn niemand von uns an irgendetwas schuld war.

 

  1. Die jugoslawische Literaturszene und ihre Netzwerke

Wenn junge Autorinnen aus Ex-Jugoslawien ältere Kollegen reden hören, könnten sie denken, die jugoslawische Literaturszene sei das reinste Märchen gewesen. Das stimmt nicht ganz, doch immerhin galt damals jede Nationalliteratur als Teil der jugoslawischen Literatur. An den Unis gab es Fakultäten für jugoslawische Literatur, die heute Fakultäten für die südslawischen Literaturen heißen. Das wichtigste Lyrikfestival des Landes waren die 1961 gegründeten »Abende der Poesie« in Struga, in meiner Heimat Mazedonien. Der Goldene Kranz der Dichtkunst wurde dort Lyrikern wie Mahmoud Darwish, W. H. Auden, Joseph Brodsky, Allen Ginsberg, Pablo Neruda, Desanka Maksimović, Hans Magnus Enzensberger, Nichita Stănescu, Ted Hughes, Adonis (Ali Ahmad Said Esber) oder Tomas Tranströmer verliehen. Überhaupt organisierten Autorinnen und Autoren in Jugoslawien viele Festivals, zu denen sie immer auch die Kollegen aus den anderen Republiken einluden.

Seit Ende der 80er, als ganz junge Lyrikerin, war ich dreimal bei einem Festival in Kikinda in der serbischen Provinz Vojvodina zu Gast, wo junge Dichter aus ganz Jugoslawien zusammenkamen. Ich übernachtete immer bei demselben Mädchen, wir wurden Freundinnen. Beim letzten Mal, im Mai 1991, einen Monat bevor alles begann, sagte ihr Vater, der bei der jugoslawischen Armee war, am Esstisch, er habe aus seiner Einheit den Befehl erhalten, sich zum Abmarsch nach Kroatien bereit zu machen, dort werde etwas organisiert. Ihre Mutter begann zu weinen. Er sagte, er müsse das tun, es sei seine Pflicht. Mich verwirrte das sehr. Noch Jahre danach habe ich immer wieder versucht, bei ihnen in in Kikinda anzurufen, um zu fragen, ob sie wohlauf seien, doch die Leitung blieb für immer tot.

 

7) Postjugoslawisches Schreiben

Unmittelbar nach den Kriegen war die postjugoslawische Literatur erfüllt von all dem, was geschehen war. Bei meinem ersten Besuch in Sarajevo in dieser Zeit kaufte ich die neueste Anthologie bosnischer Kurzgeschichten: Fast jede einzelne handelte vom Krieg. Auf der postjugoslawischen Literatur lastet die kollektive Erinnerung, doch zugleich vermag sie in den Spiegel der Geschichte zu blicken.

Natürlich haben wir nicht alle unmittelbar über den Krieg geschrieben, die Werke meiner Generation sind vielseitig. Manche behandeln historische Ereignisse, viele konzentrieren sich auf die Erfahrung, ortlos geworden zu sein, oder stellen Fragen zu Nation, Nationalismus, Freiheit, Identität. Andere greifen nach universell politischen Themen oder versuchen uns als Opfer des Systems zu schildern.

Viele von uns setzen Humor ein, um gegen das Trauma anzukämpfen. Und viele Schriftsteller sind aus Ex-Jugoslawien ausgewandert. Manchmal treffen wir uns bei Veranstaltungen, bei denen wir unsere (neuen) Länder vertreten. Diese Treffen sind sehr emotional, und wir lachen viel. Wenn all das Grauen, das in und mit Ex-Jugoslawien geschehen ist, irgendein Gutes mit sich brachte, dann, dass die politischen Krisen Interesse an der Literatur der Region weckten. Bitte Ironie: Weil das Furchtbare ihr Schreiben prägte, wurden vor allem Autorinnen, die vor den 70er-Jahren geboren waren, in zahlreiche Sprachen übersetzt und auf Festivals rund um die Welt eingeladen. Dieses Interesse ist längst wieder abgeflaut. Es gibt neue Kriege, neue Exilierte, neue Autorenschicksale. Der Buchmarkt lebt bekanntlich im Hier und Jetzt.

»Es war ja nicht unser Krieg«, sagte mir eine Dozentin am Institut für Mazedonische Literatur, als ich dort nach Büchern über das Zerbrechen Jugoslawiens und die Kriege in den Republiken suchte. Dabei war der erste Soldat, der in den Kriegen der 90er-Jahre getötet wurde, Sašo Gešovski aus Mazedonien – erschossen in Split vor laufenden Fernsehkameras. Wir waren alle schockiert. Der Krieg war allzu nah in Mazedonien, wir spürten ihn am eigenen Leib. Dennoch wirkt es wohl seltsam, wenn ein Buch, das der mazedonischen Literatur zugerechnet wird, sich mit diesem Thema beschäftigt, wo doch Mazedonien selbst kein Schauplatz der jugoslawischen Kriege war und sogar als »Oase des Friedens« galt.

Heute arbeiten wir postjugoslawischen Schriftsteller in vielfältiger Weise zusammen. Wir übersetzen einander, lesen einander, laden einander auf Festivals ein. Das erklärte Ziel von Sarajevske sveske, der großen Literaturzeitschrift im exjugoslawischen Raum, ist erreicht: Wir sind (wieder) Freunde. Wir haben viel gemeinsam, wir leben alle in derselben Welt.

 

8) Die Geografie meines Lebens

Ich verließ Mazedonien 1994, als die Kriege in Jugoslawien noch andauerten. In Bukarest promovierte ich in rumänischer Literatur und unterrichtete dort an der Universität mazedonische Literatur und Sprache. Ich begann in beiden Sprachen zu träumen, Mazedonisch und Rumänisch. Ich lernte meinen Mann kennen, der aus Slowenien ist, und anfangs sprachen wir Serbokroatisch miteinander, fanden aber bald, dass wir eine andere, eine neutrale Sprache bräuchten. Srebrenica geschah in unserem ersten Sommer als Liebespaar, und wir wichen auf die rumänische Sprache aus, um dem Jugoslawien in unserem Leben zu entfliehen, dem Land, das wir so sehr liebten und dass uns so sehr verletzt hatte. Sieben Jahre lang sprachen wir rumänisch miteinander, doch als wir nach Slowenien zogen, wechselten wir ins Slowenische. Da war Jugoslawien schon Vergangenheit, doch die Folgen seines Auseinanderbrechens spüren wir auf die eine oder andere Art bis heute.

 

9) Das letzte Jugoslawische

Auch wenn es Jugoslawien nicht mehr gibt, war mein Heimatland immer noch ein jugoslawisches Land, eine politische Farce im großen Stil. Als sie sich mit dem Zusammenbruch unabhängig machten, behielten alle jugoslawischen Republiken ihre alten Namen: Republik Slowenien, Republik Kroatien usw. Nur Mazedonien wurde, wegen der Probleme Griechenlands mit dem Namen Mazedonien, bei den Vereinten Nationen als »Ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien« geführt. Alle waren nun also etwas anderes als jugoslawisch, nur wir blieben »ehemals jugoslawisch«.

Als Kind hatte ich ein Mantra (oder Gebet?), das ich immer aufsagte, wenn ich ein Problem hatte, mich einsam fühlte oder vor einer Herausforderung stand: »Madzari (unser Stadtteil) ist in Skopje, Skopje ist in Mazedonien, Mazedonien ist in Jugoslawien, Jugoslawien ist in Europa, Europa ist in der Welt.« Hatte ich das ein paar Mal wiederholt, fühlte ich mich besser.

Ich weiß noch, einer meiner ersten Gedanken nach der Teilung Jugoslawiens 1991 war, dass es nun nicht mehr heißen könnte, »Mazedonien ist in Jugoslawien, Jugoslawien ist in Europa« – sondern direkt »Mazedonien ist in Europa«. Jahre später fragte mich meine Tochter, ob Mazedonien in Europa sei. Ja, sagte ich, doch sie zeigte mir eine Liste aus der Schule mit den Staaten der Europäischen Union, und darauf fehlte Mazedonien.

Heute heißt das Land Nordmazedonien und ist immer noch nicht in der EU. Doch fast 30 Jahre nach dem Ende Jugoslawiens existierte in Europa eine »Ehemalige Jugoslawische Republik«.

 

10) Ersatz-Leben

Für meinen Roman Rezerven život (auf Englisch als A Spare Life erschienen) erhielt ich 2013 den Literaturpreis der Europäischen Union und den Stale-Popov-Preis in Mazedonien. Die Geschichte eines siamesischen Zwillingspaars, das getrennt werden muss und die symbolisch-mazedonischen Namen Srebra und Zlata trägt, wurde als eine Metapher für die Trennung der jugoslawischen Republiken gedeutet. Als Vertreterinnen meiner Generation sind die beiden Zeuginnen der Aufspaltung Jugoslawiens: Zlata, die Erzählerin, spricht auch von ihren und Srebras Mitstudierenden und von den jungen Männern, die aus der jugoslawischen Armee desertierten: »Einmal sagte einer von ihnen, ›Scheiß auf alles, wie konnte ich zur falschen Zeit an den falschen Ort geraten?‹ Und das traf auf sie alle zu – eine verlorene Generation, die sich zur falschen Zeit am falschen Ort befand.«

Als ich mit der englischen Übersetzung meines Romans auf Lesereise durch die USA war, besuchte ich in zwei Wochen zehn Städte, von New York bis Los Angeles. In den Buchhandlungen sprach ich über mein Schreiben und mein Leben und beantwortete auch viele Fragen zu Jugoslawien. An einem der Flughäfen sah ich eine Maschine nach Dayton angekündigt. Ich staunte, wie konkret auf einmal die Stadt war, in der die jugoslawischen Kriege endeten und die Zukunft begann, ohne je von der Vergangenheit abgetrennt zu sein.

 

(Teile dieses Aufsatzes sind Paraphrasen aus meinem Roman »A Spare Life«, ins Englische übersetzt von Christina E. Kramer, die auch den Aufsatz im Ganzen bearbeitet hat.)

 

Deutsch von Michael Ebmeyer

 

Die apokalyptische Uhr

von Faruk Šehić

Credits: Dženat Dreković, NOMAD

Die Zeit meines persönlichen Kataklysmus beginnt am 21. April 1992. An diesem Tag griffen bewaffnete serbische Extremisten, unterstützt durch die ehemalige Jugoslawische Volksarmee, meine Stadt an. Es waren unsere ‘Nachbarn’, Mitbürger, die sich in einer konzertierten Aktion aus der Stadt zurückgezogen hatten, um uns von den umliegenden Bergen her anzugreifen.

Der Angriff auf mein Land hatte schon vor diesem Datum stattgefunden, denn bis zum 21. April waren bereits viele Städte an der Ostgrenze zu Serbien, das damals noch Jugoslawien hieß, zerstört. In dem Moment, in dem Slowenien, Kroatien sowie Bosnien und Herzegowina Jugoslawien verlassen hatten, hörte dieser Staat in unser aller Bewusstsein nominell auf zu existieren. Doch dieser Staat stellte sich gegen uns alle, die wir ihn liebten und auf jede erdenkliche Weise zu seinem Erfolg beigetragen hatten.

Jeder Bürger von Bosnien und Herzegowina trägt diese zwei Uhren, diese zwei Zeitrechnungen tief in seinem Bewusstsein, in Leib und Seele sowie im Herzen.

Die erste Uhr fängt dort an zu schlagen, wo alles offiziell begonnen hat, die zweite ist eine wesentlich wichtigere, persönlichere Uhr, sie misst die Zeit ab dem Moment der Vertreibung aus dem eigenen Haus. Sie misst die Zeit, seit der man zum Flüchtling wurde, oder sie zählt die Stunden seit dem Moment der eigenen Verwundung, dem Kriegstod einer nahestehenden Person. Manche Uhren sind zum Abzählen bis zur Todesstunde bestimmt. In meiner Stadt ticken fünfhundert Soldatenuhren so lange, wie wir, die Überlebenden, existieren. Solange wir uns an unsere toten Freunde, Verwandten und Mitkämpfer erinnern.

Was die persönliche Uhr alles misst, kann man unmöglich zu Papier bringen. Ich versuche das schon die letzten 20 Jahre, seit ich als Schriftsteller öffentlich auftrete, doch ich weiß, dass ich mich kaum vom Ausgangspunkt entfernt habe. Schon die Tragödie eines einzelnen Menschen ist unbeschreiblich, hier aber reden wir von der Tragödie Hunderttausender Menschen aus diesem Land.

Diese persönliche Uhr ist die apokalyptische Uhr. Jeder Mensch hat eine. Der Krieg ist die Apokalypse, nur war damals niemand da, um uns das zu sagen. So wie auch nach dem Krieg niemand da war, um uns zu sagen, dass wir im postapokalyptischen Zeitalter leben. Lediglich den Fachbegriff ‘Post-Konflikt-Gesellschaft’ haben uns wohlmeinende Menschen aus dem Ausland verliehen, der erklären sollte, in was für einer Gesellschaft wir da jetzt leben.

Die kühle Terminologie der Wissenschaftssprache wird der apokalyptischen Uhr in keiner Weise gerecht. Sie erkennt sie nicht an, denn der Terminus ‘Post-Konflikt-Gesellschaft’ kennt nur die sogenannten Kriegsparteien. Nicht in jedem Krieg gibt es Kriegsparteien, es gibt die angegriffene Partei und die angreifende. Deshalb ist dieser Begriff völlig falsch, genau wie der Begriff Bürgerkrieg falsch und schändlich ist, mit dem der ‘wohlmeinende’ Fremde unseren Krieg, unsere Apokalypse beschreiben möchte.

Die Apokalypse besteht nicht aus den physisch zerstörten Städten, Dörfern, Brücken, Geburtskliniken oder Friedhöfen. Für mich ist die Apokalypse jener Moment, in dem alle Werte der bürgerlichen Gesellschaft einstürzen. Wenn alles, was schrecklich, unnormal und fürchterlich ist, völlig normal, gesellschaftlich akzeptabel und sogar wünschenswert wird.

Diese Apokalypse geschieht vor der eigentlichen physischen Zerstörung. Sie geschieht leise und unsichtbar. Der aufmerksame Zeitungsleser kann ihre Vorzeichen erkennen. Allzu oft ist dies eine Entmenschlichung bestimmter sozialer Gruppen, Individuen oder ganzer Völker.

So erschien beispielsweise in der Zeitung Kozarski Vijesnik aus Prijedor vor dem Beginn des Krieges 1992 eine Reihe von Texten, in denen Einwohner bosnischer, kroatischer und weiterer Nationalitäten entmenschlicht wurden. In dem konkreten Fall berichteten der Kozarski Vijesnik und Radio Prijedor von einem angehenden Facharzt der Gynäkologie aus Prijedor, Dr. Željko Sikora, der “bei Serbinnen, die mit männlichen Föten schwanger waren, Abbrüche hervorrief und serbische Neugeborene kastrierte”. Obwohl ethnischer Tscheche, war dieser im Bewusstsein der Bösewichte Kroate, denn alle Kroaten wurden damals von serbischen Nationalisten mit Ustaschas gleichgesetzt.

In der Belgrader Tageszeitung Ekspres politika wurde er “Monster-Doktor” genannt. Im Bericht der damaligen Bundesrepublik Jugoslawien an die Expertenkommission der UN unter »Indizien über Täter im unmenschlichen Umgang mit Zivilisten in Prijedor 1989-1992« wird Dr. Željko Sikora (gemeinsam mit zwei Ärzten bosniakischer Nationalität) erwähnt. Als ihr Hauptvergehen wird angeführt: “Systematische Drosselung der Geburtenrate unter der serbischen Bevölkerung im Bereich der Gemeinde Prijedor mittels Kastration von Neugeborenen serbischer Nationalität. (…) Durch Anwendung verschiedener Medikamente und Experimente machten sie Kinder im Krankenhaus von Prijedor zeugungsunfähig, stellten absichtlich Fehldiagnosen und gaben Erwachsenen serbischer Nationalität die falschen Medikamente.”

Als Folge solcher Anschuldigungen durch die Medien wurde Dr. Željko Sikora im Konzentrationslager Keraterm genauso wie Tausende seiner Mitbürger ‘falscher’ ethnischer Zugehörigkeit (in anderen Lagern) ermordet. Sein Leichnam wurde neben einem Müllcontainer auf dem Gelände des Lagers gefunden. Bevor man ihn tötete, war er täglich verprügelt worden.

Der Kozarski Vjesnik erscheint bis heute regelmäßig. Wenn man Željko Sikora als Suchbegriff ins Zeitungsarchiv eingibt, bekommt man überhaupt keine Information. Željko Sikora war der letzte männliche Nachkomme der Familie Sikora. Für seine »Verbrechen« wurde nie auch nur ein einziger Beweis gefunden, ebenso wenig wurde er je vor Gericht gestellt. Auch ist sein Name bis heute nicht von der Verleumdung reingewaschen.

Die Entmenschlichung und Dämonisierung von Gruppen, Einzelpersonen und ganzen Völkern währte schon lange vor dem unmittelbaren Kriegsbeginn auf dem Territorium des auseinanderfallenden damaligen Jugoslawiens. Das Ziel dieser Vorgehensweise war es, die gewöhnlichen Menschen auf Morde, Massaker und schließlich auch auf den Völkermord selbst als etwas vollkommen Gewöhnliches vorzubereiten.

Am 21. April 1992 wurde ich erstmals zum Flüchtling, und ich werde wohl nie mehr so ganz aufhören, ein Flüchtling zu sein, denn das ist nicht nur ein Status in der Kartei des Roten Kreuzes, sondern das Gefühl der fehlenden Zugehörigkeit in einem drin, zu nichts und niemandem. Ich liebe das Land, in dem ich lebe, aber nicht als Staat, nur als Land: als Summe von Landschaften und Naturschönheiten.

Wenn du Flüchtling wirst, ist das kein physischer Schmerz, es ist ein völlig schmerzfreier Vorgang, aber es gibt andere, unsichtbare Teile von dir, die noch jahrelang an fürchterlichen Phantomschmerzen leiden werden. In der Medizin verwendet man diesen Begriff, wenn ein Bein wehtut, das man nicht mehr hat, das einem abgeschnitten wurde. Uns hat man von unserem Vorkriegsleben abgeschnitten, und diese Phantomschmerzen sind etwas, das wir mit ins Grab nehmen werden.

Man wird mit der eigenen Biographie konfrontiert und muss sie annehmen wie alle Narben, die man an Leib und Seele trägt. Auf diese Weise kommt man immer vorwärts, denn das Einzige, was im Krieg nicht von einer Artilleriegranate zerstört werden kann, ist das Leben selbst. Der Wunsch nach Leben ist größer und stärker als alles.

Also griff ich zur Waffe und wurde Soldat.

Oft werde ich bei Lesungen im Ausland gefragt, ob ich Freiwilliger war. Für mich ist das immer ein Problem, denn wie soll ich den Leuten erklären, dass ich aus meiner Wohnung, meiner Straße und meinem Viertel vertrieben wurde, nur weil ich eine andere Augenfarbe hatte. Natürlich griff ich im selben Moment zur Waffe, eigentlich hatte ich nur eine Pistole, denn im April 1992 waren wir nicht gerade üppig bewaffnet.

Die ‘Außenwelt’ in Form der Vereinten Nationen verhängte ein Waffenembargo gegen unser Land. So waren wir dem bis auf die Zähne bewaffneten Feind auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.

Der Grund, weshalb man uns im Stich ließ, liegt darin, dass die feindliche Propaganda uns sehr erfolgreich als Fremdkörpergewebe im Leib Europas darstellte. Wir wurden als ‘blutrünstige Moslems’ bezeichnet, ‘die grüne Gefahr’, ‘Mudschahedin’, obwohl viele von uns Atheisten waren, säkulare Bürger, Jugoslawen, Bosnier, Linke, Kosmopoliten, Waver, Punker usw. All diese Identitäten wurden getötet und unter die Erde verfrachtet. Während das geschah, sprachen einzelne hochrangige europäische Politiker von der ‘schmerzlichen und qualvollen Restauration des christlichen Europa’. Wir waren Versuchskaninchen bei der Entwicklung der heutigen globalen Islamophobie.

Ich war mitnichten ein Freiwilliger, denn es war für mich keine Frage des freien Willens, zum Gewehr zu greifen, vielmehr war ich gezwungen, für mein biologisches Überleben zu kämpfen. Wir waren im April 1992 bereits von allen Seiten umzingelt, weshalb es nicht möglich war, dem Krieg zu entfliehen und aus sicherer Entfernung den Klugscheißer-Pazifisten zu geben, der sich zynisch über die Kriegsparteien äußert.

Über meine Erfahrungen im Krieg und als Soldat habe ich zahlreiche Gedichte, Kurzgeschichten, einen Roman und viele journalistische Texte geschrieben, weshalb es überflüssig wäre, alles zu wiederholen. Ich war Angehöriger der Armee von Bosnien und Herzegowina, nicht irgendeiner ‘muslimischen’ Armee, wie uns unser Feind und die ausländischen Beobachter von 1992-95 nannten. Einmal wurde ich schwer am linken Fuß verwundet. Ich ging ein halbes Jahr an Krücken. Danach kehrte ich zu meiner Einheit zurück und tat den gleichen Dienst wie vor der Verwundung. Ich wurde Zugführer (die Säule einer jeden Armee) und führte gegen Kriegsende 130 Mann in offensiven Aktionen an. Wie die meisten Menschen in Bosnien und Herzegowina hatte auch ich PTBS, dessen Auswirkungen erst spürbar werden, wenn der Krieg zu Ende ist.

Für meine militärischen Fähigkeiten wurde ich während des Krieges und danach mehrfach ausgezeichnet.

Als der Krieg vorbei war, versuchte ich das zu sein, was ich vor dessen Anfang war, ein Student der Veterinärmedizin im dritten Studienjahr. Doch schnell ließ ich das wieder sein und schrieb mich für Literatur ein. Ich begann täglich auf einer Olympia Monica von 1967 zu schreiben. Ich wollte Schriftsteller werden und wurde es.

Im Manuskript meines Romans Zimtbriefe gibt es folgende Passage, die am besten abbildet, in was für einer Welt wir da lebten, nachdem der Krieg nur formal zu Ende war:

„Das war keine ruin bar, jedenfalls war es das noch nicht geworden. Und wir nannten es Zauberwürfel, nicht weil es würfelförmig oder gar zauberhaft war, sondern weil das gut klang.

Wir kamen jeden Tag dorthin, zur täglichen und nächtlichen Therapie. Die ganze Stadt war eigentlich eine riesige Freiluft-ruin-bar, während der Zauberwürfel aufgeräumt, sauber und ziemlich neu war. Ich weiß nicht, woher der Hauptmann die für die Inneneinrichtung notwendigen Dinge besorgt hatte, aber sie waren da und glänzten wie die längst verlorenen Sonnen irgendeines Friedens.

(…)

Die Kellner hatten wohl Nerven wie Drahtseile, denn unser erster Krieg war gerade erst zu Ende. Wir konnten damals nicht wissen, dass dies erst unser erster Krieg war. Wer hätte wissen können, was passieren würde, wenn wir alles, was wieder aufzubauen war, in Gänze wieder aufgebaut hätten? Erst flickten wir die Häuser, bauten sie neu. Die Innenausbauten in uns selbst gingen nur langsam vonstatten. Unsichtbare Brandschäden waren schwerer zu beseitigen. Ersatzteile für den Innenaufbau standen uns nicht zur Verfügung, denn der Rest der Welt hatte uns vorübergehend aus den modernen Abläufen der Zivilisation ausgeschlossen. Und auf Krieg folgt Korruption und die Fortsetzung des Krieges mit friedlichen Mitteln; der Nationalismus wuchert wie Unkraut und ist nur schwer aufzuhalten. Manche Dinge geschehen hinter den Kulissen. Unsere Kulisse sind Ruinen voller kalter Asche, etwas ist außerhalb unseres Willens und wächst, obwohl wir es nicht beachten, da wir mit unseren eigenen Wunden beschäftigt sind.

Wunden sind wichtig, und es ist notwendig, die eigenen Wunden und die der Stadt zu versorgen. Dass wir uns nicht mit dem Hass beschäftigt haben, heißt nicht, dass er nicht in der Stille seines Amtes gewaltet hat. Die Schrecken des Krieges haben uns vom Hass geheilt. Nur, wer im Krieg alles Mögliche erlebt hat, weiß, dass der Hass den Menschen eingetrichtert wird, um die stets gleichen Kriegsziele leichter zu verwirklichen – Kampf ums Territorium und den Reichtum, den dieses mit sich bringt.

In vielen Menschen existiert der Hass bereits und muss nicht mehr angestachelt werden. Das Böse hat Vor- und Nachnamen, Augenfarbe, Finger, Brusthaare, Muttermale und Leberflecke, Narben vom Bolzplatz. Das Böse ist familientauglich, mag Kinder, das Böse ist sozial, verkehrt in Vorkriegscafés, hat ein breites Lächeln und noch alle Zähne im Kopf. Es ist das kleinbürgerliche, graue Böse. Es gibt auch ein anderes, besoffenes Böses, das Lumpenproletariat mit Zahnlücken. Es ist schwierig, das mit dem Bösen einfach zu klassifizieren, es entzieht sich jeder Beschreibung und Klassifizierung.

Das Böse ist nie banal.

Wir tranken im Zauberwürfel, das wünschten wir uns sehnlichst, uns fiel nichts anderes ein, was wir hätten tun sollen oder können. Da spazierten keine Psychologen oder Psychiater mit Zauberkapseln herum, um uns zu heilen. Auf den Straßen war niemand, bis auf uns und die streunenden Hunde, die die Heimkehr der menschlichen Wärme spürten und deshalb kamen, um sich aufzuwärmen. Medizin brauchten wir nicht, dachten wir, wie hätten wir das auch denken sollen, wenn wir uns selbst nicht für krank hielten. Wir waren nicht krank, es waren eben solche Zeiten.

Keiner von uns wusste, was die Abkürzung PTBS überhaupt bedeutete. Wir überließen uns einfach nur dem Lauf der Friedenszeit. Den unendlichen Diskussionen im Zauberwürfel. Vielleicht heilte uns das auch, denn ich erinnere mich an einen Moment, in dem das Xanax nicht wirkte. In dem es mir nicht half, als ich die Hitze aus dem Bauch in Brust und Kopf hochsteigen spürte, eine heftige Energie, wegen der ich befürchtete, in Flammen zu geraten und den Raum zu erhellen wie eine Leuchtrakete, allein, versteckt irgendwo auf der Brandstätte des Handwerkszentrums, erleuchtet von Mondschein, im Schatten des gesprengten Gotteshauses, dessen Turm in Richtung Erde und Unterwelt zeigte.

Je mehr das normale Leben in seine gewohnten Bahnen zurückkehrt, umso mehr Raum nimmt die Angst vor dem Tod ein. Uns selbst überlassen, lösten wir das mit Alkohol und leichten Betäubungsmitteln, wenn die Tabletten schon nicht wirkten. Wir dachten, der übermäßige Lebensgenuss würde uns eher in die zivile Normalität zurückbringen.

Wenn man einen Krieg überlebt hat, sollte man am besten sofort aus dem betreffenden Teil der Welt wegziehen und niemals zurückkehren. Warum hatte uns das niemand sagen können? Selbst wenn es uns jemand gesagt hätte, hätten wir ihm nicht geglaubt. Wir hätten weiter unser Ding gemacht.

Wo endet und wo beginnt unser erster Krieg? – ist eine Frage, die wir uns oft stellten, bis wir die Lust daran verloren, uns das zu fragen.

Was mich gerettet hat, war die Liebe, ein starker Glaube an das Leben als sinnvolle Ordnung der Dinge in Zeit und Raum, als Zeit und Raum noch linear waren. Denn mit den ersten Granaten verloren Zeit und Raum und alle anderen Dimensionen ihre unschuldige Geradlinigkeit unwiederbringlich. Wir versuchten die Schäden am linearen Verlauf von Zeit und Raum und allen anderen Dimensionen zu reparieren, aber es gelang uns nicht. In der nichtlinearen Welt wollten wir lineare Individuen sein. Es lief nicht. Selbst wenn wir gewusst hätten, dass es einmal in der Zukunft modern sein würde, vintage Gegenstände zu schätzen, vintage Poetik, Retro-Style, hätten wir uns nicht für irgendwelche Vorreiter gehalten, denn unser Leben war kein modischer Stil. Der Gegenwart hinterhertrauern kann man erst, wenn man alles verloren hat, wenn die eigene Zeit und der Raum unumkehrbar annulliert sind. Wir waren keine Hipster, obwohl wir alte und ungewöhnliche Dinge mochten.

Zwar kamen Leute aus dem Ausland und boten Kurse für das Weiterleben nach der Apokalypse an, doch ich nahm das nicht ernst, kaum jemand konnte das ernst nehmen. Wie hätten sie auch wissen können, wie wir leben sollen, wenn sie selbst noch nie einen Krieg überlebt hatten?“

Dieser Textausschnitt zeigt, wie die apokalyptische Uhr schlägt, nachdem die Apokalypse auch offiziell zu Ende ist. Sie setzt ihre Arbeit fort. Eine Apokalypse überleben heißt nicht nur physisch den Krieg und die allgegenwärtige Zerstörung zu überleben. Viele glauben nur, sie hätten überlebt, doch der Krieg hat sie in ihrem Wesen entwertet und die Fortsetzung des Lebens in Friedenszeiten für sie unmöglich gemacht. Sie sind Kriegszombies, denn sie kommen aus dem Krieg nie wieder heraus. Er regiert ihren Verstand, ihre Nerven.

Meine apokalyptische Uhr schlägt nun schon das 29. Jahr seit meinem persönlichen Kriegsbeginn. Ich habe gelernt, mit dem Ticken dieser Uhr zu leben. Diese Uhr ist ein Teil von mir und sie stört mich kein wenig, denn ich kann darüber schreiben. Ich habe mich mit ihrem Ticken synchronisiert.

Den wenigsten Menschen ist dieses Glück beschieden, aber sie kommen irgendwie klar und überleben die Schrecken des Friedens, denn wir wissen, dass das Leben größer und stärker ist als alles Böse, als die Vernichtung und jede Art von Apokalypse.

Ach so, und falls sich jemand fragt, ob ich Menschen getötet habe: Ja, ich habe feindliche Soldaten im Nahkampf auf dem Schlachtfeld getötet. Da gibt es keine Reue. Krieg ist leider die älteste Beschäftigung des Menschen. Wer überlebt, kann erzählen, kann schreiben. Es ist ein großes Privileg derer, die keine Erfahrung von Krieg oder Flucht und keinerlei traumatische Grenzerfahrung haben, den Überlebenden zuzuhören, damit es nie wieder Krieg gibt, für niemanden. Dies ist ein utopischer Wunsch, der vielleicht eines Tages in Erfüllung gehen mag. Ich glaube ganz fest an eine solche Utopie.

 

Deutsch von Elvira Veselinović

 

Nostalgie: die Melancholie der Rechten

von Andrej Nikolaidis

Credits: Tanja Draškić Savić

Was kann euch einer über Nostalgie erzählen, der sein Leben lang über sie liest und schreibt?

Vielleicht kann er sich vor allem selbst die Frage zu erklären versuchen: Woher diese ganze Nostalgie? Wo entspringt ihr breiter Lauf, der sich wie eine füllige, uralte Schlange nicht zum Meer hinbewegt, sondern zur blauen Leere der Melancholie?

Der Fluss ist da, aber die Quelle gibt es nicht mehr. Die Nostalgie entspringt keinem Ort, der durch die Frage nach dem „Wo“ zu bestimmen ist. Zu fragen ist vielmehr nach dem „Wann“. Wenn wir die Quelle der Nostalgie orten möchten, sollte der Finger statt auf den Globus auf den Kalender zeigen.

Also: Wann? In Sarajevo, in Jugoslawien. Genau das: Sarajevo, Jugoslawien als Zeitbestimmung, das bedeutet für unseren Nostalgiker – sollte eine Übersetzung in die standardisierte Zeitmessung notwendig sein – im späten April 1992.

 

I

Der Raum/die Zeit der Nostalgiequelle kann noch präziser bestimmt werden: die Milentije-Popović-Straße, der Sarajevoer Vorort Dobrinja, der Augenblick vor der Abfahrt, als er beim Einsteigen ins Auto, an dessen Lenkrad sein ungeduldiger Vater sitzt, der Gruppe winkt, die wie jeden Tag, an jenem Tag ohne ihn, am Rand des nahegelegenen Platzes Basketball spielt.

Oder hat alles ein paar Augenblicke früher begonnen, während er beim Aufbruch aus der Wohnung zum letzten Mal die Bibliothek des Vaters betrachtete? Als seine Familie die Wohnung abschloss, die seine Mutter als Angestellte bei Energoinvest ein paar Jahre zuvor von dem dahinschwindenden Staat bekommen hatte, hinterließ sie nichts Wertvolles – außer der Bibliothek des Vaters. Sie nahm, um klar zu sein, auch nichts Wertvolles mit, von den eigenen Leben abgesehen, deren in Friedenszeiten niedriger Wert im Krieg noch zusätzlich gesunken war.

Jahrzehntelang hatte der Vater Bücher gesammelt. Manche davon – wie die antike zerfledderte Bibel, in der Vaters Vater täglich gelesen und versucht hatte, den griechischen Text buchstabierend die Angst vor dem Tod zu verjagen – hatte er aus Ulcinj mitgebracht, von wo aus er nach Sarajevo gekommen war, um Literatur zu studieren, dort hatte er dann geheiratet, ein Kind bekommen und war geblieben, womit alle Ideale einer kleinbürgerlichen Existenz erfüllt waren. Manche hatte er von seinem Onkel geerbt. Manche – meist als Buchblock, ohne Einband – brachte er aus dem Zeitungsverlag Oslobođenje mit, wo er als Korrektor arbeitete: zum Beispiel Krležas „Zastave“. Die übrigen kaufte er, sammelte er, bekam er geschenkt … wie Bücher nun mal zu denen gelangen, die sie haben möchten. Es war eine gute Bibliothek. Ein Bekannter von ihm, selbst Dichter, versuchte monatelang, nachdem Soldaten die Wohnung verwüstet hatten, die Bücher aufzuspüren. Schließlich erfuhr er, dass ein Priester sie den Soldaten abgenommen hatte. Er versuchte, sie zu retten, begrub sie jedoch: Die Bücher endeten im Kirchenkeller in Kasindo, der im Herbst 1992 voll Wasser gelaufen ist.

 

II

Was noch kann euch einer über Nostalgie erzählen, der sein Leben lang über sie liest und schreibt?

Vielleicht, dass der erste Roman, den er geschrieben hat, grauenhaft war – wie bestenfalls die beiden nachfolgenden. Er hat ihn nicht veröffentlicht – die danach aber schon: ein bedeutender Unterschied. Es handelte sich um eine unglaubwürdige und prätentiöse Geschichte, geschrieben unter dem Einfluss von Pavić und Márquez, hier und da war auch der Einfluss von Boris Vian zu erahnen, dessen Bücher er zu jener Zeit verschlang. Er war siebzehn. Das soll nicht als erleichternder Umstand begriffen werden. Es soll Teenagern nicht verboten werden, zu schreiben, aber es sollte ihnen verboten werden, zu veröffentlichen. Wenn euch Sorgen plagen, weil euer Kind seinen hausgemachten Porno ins Internet gestellt hat, tröstet euch – es könnte schlimmer sein, es hätte auch einen Roman oder eine Gedichtsammlung veröffentlichen können.

Seinen unveröffentlichten Roman bewahrt der Vater zwischen Katasterauszügen, Besitzurkunden und den Taufscheinen der Vorfahren auf. Da es sich um schwer kompromittierendes Material handelt, hat er mehrmals erfolglos versucht, es zu entwenden. Er weiß nicht, ob sich die Geschichte als Tragödie oder als Farce wiederholt, er weiß nicht, ob sie sich überhaupt wiederholt, aber noch ein Priester, noch ein Keller und noch eine Überschwemmung kämen ihm gelegen.

Nun ja … Viele Jahre später erst, als er seine eigene Bibliothek besaß, in die er alle Titel aus der Dobrinja-Kollektion des Vaters eingereiht hatte, die ihm in Erinnerung geblieben waren, begriff er, dass seine Welt verschwunden war, und mit ihr sein früheres Leben, mit allen Möglichkeiten, allen Freuden und Katastrophen, die es in sich getragen hatte. Er begriff, dass das Verschwinden jeder Sache, und sei sie noch so klein, nicht weniger ist als das Ende einer Welt, und dass der Verlust nicht geringer ist aufgrund der Tatsache, dass die verschwundene Welt augenblicklich von einer anderen aus dem unerschöpflichen Vorrat an Welten ersetzt wird. Er begriff, dass das ganze Leben eine Reihe intimer Mikro-Enden von allem ist; dass, was wir geliebt haben, verschwindet und die Nostalgie zu unserer Religion wird.

Die sich täglich bestätigt, denn die Welt, wie wir sie gekannt haben, verliert sich vor unseren Augen, mit immer höherer Geschwindigkeit. Es verschwinden sowohl die Schicksale als auch die Landschaften, an die wir uns erinnern – die Macchie, die bis ins Meer hinunter wächst; die Flüsse aus gelben Ginsterblüten, die sich in alle Nuancen des Blaus ergießen, vom klaren, flachen Wasser bis hin zum tiefblauen offenen Meer. Es verschwinden die Gerüche und Geräusche, mit denen wir gelebt haben. Solange sie existierten, waren sie alltäglich. Wir sind durch sie hindurchgegangen, als wären sie nicht da. Jetzt, da es sie tatsächlich nicht mehr gibt, empfinden wir ihre Abwesenheit als unwiederbringlichen Verlust. Genauso ist es mit uns nahestehenden Menschen und dem Duft des Kiefernwalds – feuchte Erde, Harz, Jod – am frühen Morgen: Sie mussten verschwinden, damit wir begreifen, wie sehr wir sie brauchen. Daher hat unser Nostalgiker Folgendes verstanden: Er wird sich in Zukunft verzweifelt bemühen, sich an möglichst viel von allem zu erinnern, denn die verschwundene Welt wird nur in der Erinnerung fortdauern, die so brüchig und unverlässlich ist – weil die Erinnerung verblasst, weil es so vieles gibt, was wir verlieren, und so wenig, was wir in Erinnerung behalten können. Daher zeugt nur die unermessliche Trauer, von manchen Melancholie genannt, solange wir noch in der Lage sind, sie zu spüren, davon, dass dort, wo sich letztlich eine gähnende Leere auftut, einmal etwas gewesen ist.

Unser sich erinnernder Protagonist wird verstehen, dass der wahre Verlust nicht in dem besteht, was wir verloren haben, sondern in der Unmöglichkeit, darum zu trauern. Weshalb er, entgegen der Ansicht kluger Köpfe, meint, dass nicht die Nostalgie und Melancholie uns daran hindern, zu kämpfen, sondern dass es genau umgekehrt ist: dass in Wahrheit die Nostalgie und Melancholie der Kampf sind. In Wahrheit ist die Nostalgie das, womit wir gegen die Atemporalität des Augenblicks kämpfen, und die Melancholie das, womit wir uns gegen den falschen Enthusiasmus des falschen Fortschritts der marschierenden Augenblicke verteidigen.

 Die Nostalgie gewinnt immer, wie die Gravitation. Ist die Nostalgie, nebenbei bemerkt, nicht eine Art Gravitation der Erinnerung? Die Gravitation bringt Trost, denn sie bestätigt, dass doch eine gewisse Ordnung besteht: Alles wird fallen. Die Erinnerung wiederum ist die Ordnung selbst: Sie ist die Welt, die wir sortieren, die wir ordnen konnten, eine Welt, die sich unserem Bemühen, sie zu verstehen, nicht mehr widersetzt. In der Erinnerung ist endlich alles in Ordnung. In der Erinnerung konservieren wir eine Welt, die es nicht mehr gibt – und auch nicht gab. Die Nostalgie ist keine Erinnerung an die Welt, wie sie war, sondern daran, wie sie hätte sein können. Sie ist eine in die Vergangenheit versetzte Utopie, eine Phantasie in Form von Erinnerung, sie stellt das Vergangene über alles, was erst sein wird. Die Nostalgie ist der Triumph der Melancholie der Rechten.

Die Nostalgie liebt die Tradition, so wie es sich für die Rechten gebührt. Die Auswanderer, Flüchtlinge und die übrige Menagerie, die in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts aus Jugoslawien nach Europa übergeschwappt sind, pflegen zahlreiche nostalgische Rituale. Eine Gruppe jugoslawischer Auswanderer – es wird erzählt, es sei in Holland gewesen – hatte beschlossen, zum Ersten Mai, dem internationalen Tag der Arbeit, dem Grundstein jeglichen Bauwerks der Erinnerung an das einstige Land, ein Lamm zu drehen. Sie fanden eine geeignete Wiese, auf der sie, während das Lamm gebraten würde, Fußball spielen konnten. Die Wiese lag an einem Fluss, in dem sie Bier kaltstellen konnten. Sogar ein gutes Stück Holz für den Spieß fanden sie. Sie fanden alles, nur kein Lamm. Aus irgendeinem Grund war es nicht möglich, ein Lamm zu kaufen. 

Unsere Holländer fanden eine Lösung. Nachdem ihnen, in der wer weiß wievielten Metzgerei, gesagt worden war, dass kein ganzes Lamm zum Verkauf stehe, fragten sie: Gut, aber ein Lamm in Stücken haben Sie? Dann kauften sie alle Lamm-Fragmente, die sie in der Metzgerei finden konnten. Den Kopf und das linke Hinterbein kauften sie in einem anderen Geschäft. Dann begingen sie ihren Ersten Mai, auf ihrer Wiese am Fluss, wo sie mit einem Draht alle Stücke zu einem entstellten Körper zusammenbanden und das Lamm aufspießten. Das so stabilisierte Frankenstein-Lamm, diese flüchtlingshafte Lesart von Mary Shelleys Werk, war die Verkörperung ihrer Nostalgien selbst …

Ein Nostalgiker wird vor der Bizarrheit der Hollandgeschichte nicht erschaudern. Für ihn ist sie lediglich eine Illustration: dafür, wie weit die Menschen gehen, um das, was als Normalität in ihrem Gedächtnis verankert ist, zu re-kreieren. Die wahre Bizarrheit findet er nicht im Vergangenen, sondern im Heutigen. Denn die Gegenwart, so glaubt er, werde von der Ökonomie des Irrsinns gesteuert. Es gibt im Jetzt keine Scheußlichkeit, keine Niedertracht, nicht einmal eine Verrücktheit, die ihn überraschen würde. Als wäre den Menschen der Irrsinn zur Heimat geworden. So ergreift Menschen der Wirklichkeit, Menschen ihrer Zeit, die Angst, sobald sie einen Schritt in die Rationalität wagen, weshalb sie schnell nach Hause zurückkehren, in ihre Sanatoriumsländer, deren Fahnen da hängen wie zum Trocknen aufgehängte Zwangsjacken.

 

Deutsch von Margit Jugo

Das letzte jugoslawische Pop-Lied

von Aleksandar Bečanović

Credits: Privat

Im Jahr 1992 kam das Album von Jura Stublić und seiner Band „Film“ heraus, Futter für die Tauben. Unter A2 war eine Nummer mit dem folgenden Titel zu finden: Eh, mein Belgrader Freund. Es war der letzte jugoslawische Pop-Song.

In der Periode meines Aufwachsens in den achtziger Jahren in Montenegro und in Jugoslawien spielte die Suche nach der eigenen Identität eine große Rolle. Ich weiß nicht, wie die Dinge jetzt liegen, für die heutige Jugend, die im Netz nationaler Stereotypen gefangen ist, aber im Post-Tito-Jugoslawien, wo zumindest in der ersten Hälfte der achtziger Jahre die naive Meinung vorherrschte, die Probleme einer ethnischen Identifikation seien zumindest provisorisch gelöst, ließ sich die Frage nach der persönlichen Positionierung gegenüber der eigenen unmittelbaren Umgebung, und auf einer abstrakteren Ebene gegenüber der Welt, primär in der kulturellen Perspektive verorten. Es war einfach so, dass die beste Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ in der Definition des eigenen, persönlichen Geschmacks zu finden war. Selbstverständlich war ich mir nicht aller Reperkussionen bewusst, aber ich ahnte, dass meine frühen Faszinationen weitaus mehr über mich aussagen als ermüdende Fakten aus offiziellen Dokumenten. What thou lov’st well is thy true heritage: Auf diese Zeile von Ezra Pound aus Canto LXXXI stieß ich erst später, nämlich dann, als sich mein Glaube an die Macht der Literatur regte, als ich begriff, dass in der Literatur der präziseste Mechanismus für die Beschreibung der Existenz steckt.

Aber noch bevor die Bücher zum Hauptorientierungspunkt in meiner Weltanschauung avancierten und meinen Beruf als Schriftsteller besiegelten, gab es da noch etwas anderes. Zwar bin ich immer schon ein Sportfan gewesen, und dennoch ging meine Sportleidenschaft niemals in eine eindeutige Identifikation als Fan über, sodass ich schon früh verstand, dass im Hinblick auf die Identität die individuelle Komponente wesentlich wichtiger war als die kollektive. Außerdem war meine sehr früh erwachte Faszination für Horrorfilme, für die heftige Ikonographie der Angst und der Befriedigung allzu exklusiv, um mir in einer Zeit, in der Kult und genrebezogenes fandom noch unbekannt waren, eine weitreichende Legitimation zu bieten. Mit anderen Worten, mein Horror-Fanatismus war eine Art innerer Besessenheit, die ich nur mit einigen wenigen Freunden besprechen konnte und die sich nicht als Gegenstand für hitzige Debatten und unvermeidliche Dilemmata eignete, die jedoch notwendig sind, wenn man für den eigenen Platz in einer größeren Gemeinschaft kämpft, das heißt, in einer Gesellschaft, in der man gezwungen ist, Polemiken vom Zaun zu brechen, um sich Anerkennung zu verschaffen.

In den achtziger Jahren fand ich meine wichtigste Identitätschiffre in der Popmusik. Unter anderem auch in der heimischen Popmusik. Die Qualität der jugoslawischen Rockmusik, insbesondere in der kreativsten Periode zwischen 1979 und 1984, bot die Gelegenheit, die großen Dichotomien oder Vergleiche, die wir von der Musik aus dem Ausland kannten, nun mit der nötigen Einprägsamkeit im heimischen Kontext zu betrachten. Plötzlich war es aufregend, interessant und geradezu gefährlich, auf der immer vielfältigeren jugoslawischen Rock-Szene, die aufgesplittert genug war, um gänzlich disparate Geschmäcker zufriedenzustellen, einen bestimmten Standpunkt einzunehmen. Plötzlich war es von entscheidender Bedeutung, sich für die Musik auszusprechen, die man mochte, sowie zu deklarieren, welche Musik man aus tiefster Seele nicht ausstehen konnte. Sag mir, was du hörst, und ich sage dir, wer du bist: Musik als Merkmal für die Zugehörigkeit, aber auch für die eigene Distanzierung, denn beim Postulieren der Identität sind beide Elemente notwendig. Und noch etwas: Die akzeptierte oder selektierte Identität galt es zu elaborieren und in Debatten mit Leuten, die auf dem entgegengesetzten ästhetischen Pol stehen, hermeneutisch zu unterstützen.

In meinem Fall zog die Identifikation mit der Musik auch ein starkes Gefühl nach sich, zu einer Minderheit zu gehören, außerhalb des Mainstreams zu stehen. Was zugleich auch eine ängstliche Position par excellence ist sowie ein eindrückliches Merkmal dafür, dass man aus der Reihe tanzt: im Übrigen ist das grundlegende Charakteristikum einer jeden „echten“ Identität eine wesentliche Ambivalenz.

Natürlich sind das alles nachträgliche Rationalisierungs- und Interpretationsversuche. Als ich ins Teenager-Alter kam – und Jugoslawien ins letzte Jahrzehnt seiner Existenz – da waren meine Präferenzen nicht etwa Folge diskursiver Standpunkte sondern Folge eines einfachen, instinktiven Verhaltens: Beim ersten Anhören gefällt einem etwas Bestimmtes (was gleichermaßen ein starkes oder ein trügerisches Gefühl sein kann), und alles andere gefällt einem nicht so sehr. Dann wird einem irgendwann klar, dass der eigene Geschmack mit dem Mehrheitsgeschmack nicht übereinstimmt. Das, was für einen selbst offensichtlich und selbstverständlich ist, stellt sich für die anderen nicht so dar. Man begreift, es gibt eine Grenze, und die Welt ist anders strukturiert, seit man eine „falsche“ Schallplatte gekauft und auf dem eigenen Grammofon abgespielt hat. Es stellt sich heraus, die Ästhetik ist keineswegs eine harmlose Angelegenheit.

In meiner Wahl ließ ich mich weder von Erwachsenen und ihren Suggestionen, noch von Gleichaltrigen und ihren Überredungskünsten beeinflussen. Ich konnte sogar die Illusion aufrechterhalten, ich hätte meinen Geschmack spontan entwickelt, und auch auf eine authentische Weise – obwohl ich damals die Bedeutung des Wortes „authentisch“ nicht kannte. Die sogenannte Volksmusik irritierte mich von Anfang an bis aufs Blut, und auch der Rock-Mainstream konnte mich nicht überzeugen, in einem Spektrum der Musikbands von „Bijelo Dugme“ („Weißer Knopf“) bis „Riblja čorba“ („Fischsuppe“). Der Sound, der mich anzog, kam meist von den Bands, die nicht so oft in Radio oder im Fernsehen gespielt wurden. Manche Alben dieser Bands konnte ich in einem Einkaufszentrum in unmittelbarer Nähe kaufen, andere konnte ich mir von Bekannten leihen, während es durchaus auch Schallplatten gab, die für immer außer meiner Reichweite blieben, sodass mein Begehren nach unerreichbarer Musik mein Bewusstsein als Sammler erwecken konnte. Die Identität erlangt ihr Profil sowohl durch das, was wir bekommen, als auch durch das, was uns fehlt, was sich uns entzieht, was wir von vornherein verloren haben.

Nach anfänglicher Suche kristallisierten sich die Dinge heraus. Von links nach rechts auf der jugoslawischen Landkarte bildete sich eine solche Abfolge der Musikbands heraus: Pankrti – Videosex – Lačni Franz – Paraf – Prljavo kazalište – Azra – Film – Haustor – Luna (leider ist ihre erste und einzige Schallplatte, „Nestvarne stvari“ („Unwirkliche Dinge“), das beste Album der jugoslawischen Musik, noch immer nicht in meinem Besitz!) – Šarlo Akrobata – Električni orgazam – Idoli. Die Achse Ljubljana – Rijeka – Zagreb – Novi Sad – Belgrad funktionierte auf dem Gebiet der Pop-Musik am besten in der ersten Hälfte der achtziger Jahre, wodurch der progressivste und westlichste Teil der (populären) jugoslawischen Kultur geschaffen wurde, diesbezüglich konsistenter als Literatur und Film in jener Zeit. Verfeinerte, aber feste Melodien, interessante Harmonien, häufig einprägsame Bass-Linien, die eine unwiderstehliche Tanzatmosphäre hinzufügten, angereichert mit intelligenten und ironischen Texten, die existenzialistische und politische Themen analysierten, kreierten ein faszinierendes Landschaftsbild der Musik, welches bis heute nichts von seiner Frische und Innovation eingebüßt hat. Den perfekten Überbau für diese Basis bildete die Entdeckung der Band Laibach, wodurch ein teilweise ausgereifter Geschmack durch das Gefühl der Epiphanie bereichert wurde. (So wie Laibach mit der Veröffentlichung des epochalen Albums Opus Dei auf eine machtvolle Weise bestätigte, dass die Band über die Grenzen der jugoslawischen Musik überschritten hatte.)

Vom heutigen Standpunkt aus betrachtet wirkt das Gesamtwerk dieser Bands noch beeindruckender, wie der autorisierte Soundtrack eines Augenblicks, als Jugoslawien deutlich zu verstehen gab, dass es in der Lage war, seine eigene Version des Zeitgeistes anzubieten, dass es von sich aus über das Potenzial verfügte, auf die Herausforderungen der neuen Zeit zu reagieren, und zwar – und das macht die Sache noch weitreichender – gerade dann, als die ersten Anzeichen für den einsetzenden Zerstörungsprozess und das bittere Ende auftauchten.

Als Mitte der achtziger Jahre Goran Bregović es schaffte, mit dem berüchtigten Lied Lipe cvatu (Die Linden blühen) eine noch üblere Version seines früheren sogenannten „Hirtenrocks“ fulminant vorzulegen und auf diese Weise einen Großteil der Kanäle für kulturelle Emanzipation blockierte, wurden die positiven Tendenzen plötzlich marginalisiert. Sowohl in der Musik, als auch in der Gesellschaft wandten sich die Dinge zum Schlechteren. Gute Alben wurden eher zur Ausnahme als zur Regel, einzelne Arbeiten der oben erwähnten Bands waren weiterhin attraktiv, aber die Kreativität wurde im Zaum gehalten. Als Joy Division und The Smiths in mein Leben kamen, hatte sich für mich persönlich der Akzent definitiv verschoben. Aber niemals so stark verschoben, als dass ich aufgehört hätte, aufmerksam mitzuverfolgen, was meine Lieblingsbands noch zu sagen hatten, und so gelangte ich, bereits mit einer gewissen Nostalgie, zu der Schlussfolgerung, dass vom jugoslawischen Punk und der Revolution der Neuen Welle zumindest für eine kurze Zeit ein unwiderstehlicher kathartischer Effekt ausging, der einen Hinweis darauf lieferte, dass Jugoslawien das Potenzial hatte, eine der besseren Welten zu sein. Wenn man über den Verfall von etwas lesen möchte, dann sollte man dies ausgehend von den besten Fragmenten des bestehenden Textes tun und nicht etwa ausgehend von den offensichtlichsten Tatsachen. Und so kommen wir nun endlich, nach einer allzu lange geratenen Exkursion, zu dem Lied Eh, mein Belgrader Freund.

Und zu Jura Stublić, dem die Rolle zufiel, ein pointiertes good-bye to all that zu liefern. Auch in seinen glänzendsten Momenten war seine Musikband Film nicht so charismatisch wie Idoli, so experimentell wie Šarlo Akrobata, so sophisticated wie Haustor. Als Textschreiber war Stublić nicht so politisch interessant wie Johnny Štulić, auch nicht so vielseitig wie Zoran Predin, und auch nicht so esoterisch wie Slobodan Tišma. Die wichtigste Qualität von Film, was in der Phase der Neuen Welle stärker zu Tage trat, ist die volle Hingabe dieser Musikband an die melodische Pop-Struktur, bei der keine Abstriche gemacht wurden, ganz gleich wie wichtig „die Botschaft“ war, die ausgesendet werden sollte. Wenn zwischendurch etwas Melancholie hervorblitzte, dann wurde die Tanzgrundlage der Arbeit von Film dadurch lediglich veredelt.

Stublić war weder ein Kommentator, noch ein Prophet, noch das Sprachrohr einer Generation, die dem jugoslawischen Rock eine noch nie da gewesene Relevanz bieten konnte. Es gab da auch schlagfertigere und vergeistigtere und engagiertere Songschreiber. Und doch, als das Land im Begriff war zu zerfallen, als ein Wertesystem unter dem wachsenden Nationalismus zerbröselte, war sogar im Rahmen der Rockmusik, die im Prinzip universell eingestellt ist, ausgerechnet Stublić derjenige, dem es gelang, in einem dreiminütigen Lied die Ausmaße einer irreversiblen Trennung einzufangen. Wenn Sie, so wie ich, glauben, dass der tragische Eros sich in kleinen, melodramatischen Stücken stärker einschreiben kann als in epischen Narrativen, dann ist es nicht überraschend, zu der Schlussfolgerung zu gelangen, dass die Ausmaße der heranrollenden Katastrophe sich womöglich am besten in einem ganz „gewöhnlichen“ A2-Lied darstellen lassen. Mit anderen Worten, ich wollte über das, was in dem schon nicht mehr existierenden Land, in dem ich aufgewachsen war, passiert ist, aus erster Hand etwas erfahren, aus jener Sphäre, die mir am meisten bedeutete, während ich versuchte, meine eigene Persönlichkeit auszubilden.

Die bewaffneten Konflikte in Jugoslawien hatten schon begonnen, und niemand zweifelte mehr daran, dass es zu einem Blutvergießen kommen würde. Eine Evidenz, die sich nicht ignorieren ließ, und die es galt symbolisch zu überarbeiten und dringend künstlerisch zu beschreiben, Zeugnisse, verfasst in einem Vokabular, welches nur wenige Jahre zuvor für eine entschlossene, modernistische Wende gesorgt hatte und nun in einer ganz anderen Atmosphäre – der Atmosphäre der Retardierung und Tribalisierung – zu räsonieren hatte.

Bezeichnend ist, dass Stublić die notwendige Transkription in Eh, mein Belgrader Freund mit Hilfe des Liedes Am blauen Meeresstrand (Na morskom plavom žalu) bewerkstelligen konnte, wobei dieses Lied auf Grund des spezifischen Kontexts, in welchem es auftauchte, sich für das Publikum eher wie ein traditionelles Lied als wie eine Autorennummer ausnahm. Das heißt, Stublić bearbeitete – in sämtlichen Bedeutungen dieses Wortes – etwas, das zum populären Imaginarium zählte: eine Melodie, die aus (unserem) kollektiven Unbewusstsein zu stammen schien. Im Hinblick auf den Text entschied sich Stublić für einen äußerst direkten, also naiven Zugang in einem rhetorischen Rahmen, der das letzte Symptom einer unvermeidlichen Trennung und bedauerlicherweise auch der Gewalt darstellt. Ein äußerst einfacher Text, der über Trennung und Verlust auf eine Art und Weise spricht, die an den minimalistischen „Essenzialismus“ der alten Volkslieder erinnert.

Als Inszenierung des Abschieds, aber auch des Verzeihens, als Thematisierung des Zerfalls einer Gemeinschaft hat das Lied Eh, mein Belgrader Freund die jugoslawische Form und den jugoslawischen Inhalt beibehalten: eine letzte, nostalgische Äußerung in einer Sprache, die alle – zumindest noch eine kurze Periode hindurch – verstehen können sollten. Das erste Mal Eh, mein Belgrader Freund zu hören, war so wie eine rührende Nachricht zu empfangen, die Mahnung zugleich ist. Resignation und Lamento, ein Requiem, ausgedrückt in populistischer Lyrik, ein Bericht, der mitten aus dem Herzen des Problems kommt. Aus all diesen Gründen war Eh, mein Belgrader Freund das letzte jugoslawische Pop-Lied. Es bezeichnete die definitive Markierung, ein post scriptum, das aus einer ästhetischen Schlussfolgerung kam: nach diesem Lied, oder, genauer gesagt, erst nach diesem Lied konnte die Teilung erfolgen – in ein Ex-Jugoslawisches und ein Post-Jugoslawisches.

Deutsch von Mascha Dabić

 

privat

Doris Akrap

Doris Akrap, hat u.a. Südosteuropäische Geschichte studiert, ist Redakteurin der taz, Autorin für diverse Publikationen, Podcasterin und Moderatorin verschiedener Diskussionsformate von Politik bis Literatur.

 

Jetmir Idrizi

Dirk Auer

Dirk Auer, geboren 1970 in Frankfurt a.M., hat Soziologie und Politikwissenschaften studiert und 2003 an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg promoviert. Seit 2006 arbeitet er als freier Südosteuropa-Korrespondent vorwiegend für den Hörfunk. Er hat sieben Jahre in Sofia gelebt, danach drei Jahre in Belgrad. Autor von Radiofeatures zu Themen wie Migration, Minderheiten und Vergangenheitsaufarbeitung auf dem Balkan. Heute lebt er in Berlin.

 

Edgar García Marquéz

Xhevdet Bajraj

Xhevdet Bajraj, geboren 1960 in Kosovo, ist Lyriker, Dramatiker, Übersetzer und Professor. Zu seinen unzähligen Veröffentlichungen zählen u.a. mehr als 25 Gedichtbände. Im Mai 1999 wurde Bajraj gemeinsam mit seiner Familie aus Kosovo deportiert. In den Jahren nach seiner Ankunft in Mexiko ist er zum Professor für kreatives Schreiben und Literatur an der Nationalen Autonomen Universität von Mexico und zum Mitglied des Sistema Nacional de Creadores de Arte ernannt worden.

 

Radmila Vankoska

Lana Bastašić

Lana Bastašić, 1986 in Zagreb als Kind serbischer Eltern geboren, wuchs nach dem Zerfall Jugoslawiens in Bosnien auf und lebte zuletzt viele Jahre in Barcelona. Sie hat bisher zwei Erzählbände und einen Lyrikband veröffentlicht, für die sie mit zahlreichen Preisen und Stipendien ausgezeichnet wurde. Mit ihrem Debütroman Fang den Hasen (Uhvati zeca) erhielt sie 2020 den Literaturpreis der Europäischen Union.

 

privat

Aleksandar Bečanović

Aleksandar Bečanović, geboren 1971 in Nikšić, ist ein montenegrinischer Lyriker, Übersetzer und Literatur- und Filmkritiker. Derzeit arbeitet er für die Kulturzeitschriften „Plima“ und „Ars“. Außerdem übersetzt er aus dem Englischen, hauptsächlich Filmtheorie. 2002 erhielt er den renommierten Risto-Ratković-Preis für den besten Gedichtband des Jahres. 2017 wurde er für seinen Roman Arcueil (2015) mit dem Literaturpreis der EU für das Land Montenegro ausgezeichnet. Er lebt in Bar.

 

Boro Rudić

Rumena Bužarovska

Marie-Janine Calic, geboren 1962 in Berlin, ist seit 2004 Professorin für Ost- und Südosteuropäische Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Unter anderem war sie als politische Beraterin des Sonderkoordinators des Stabilitätspakts für Südosteuropa in Brüssel und des  UN-Sondergesandten für das ehemalige Jugoslawien in Zagreb tätig. Sie ist häufige Gesprächspartnerin in den Medien zu diversen Themen aus Geschichte und Politik der Balkanländer.

 

privat

Marie-Janine Calic

Marie-Janine Calic, geboren 1962 in Berlin, ist seit 2004 Professorin für Ost- und Südosteuropäische Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Unter anderem war sie als politische Beraterin des Sonderkoordinators des Stabilitätspakts für Südosteuropa in Brüssel und des  UN-Sondergesandten für das ehemalige Jugoslawien in Zagreb tätig. Sie ist häufige Gesprächspartnerin in den Medien zu diversen Themen aus Geschichte und Politik der Balkanländer.

 

Draženko Jurišić

Darko Cvijetić

Darko Cvijetić wurde am 11. Januar 1968 im Dorf Ljubija Rudnik in Bosnien und Herzegowina geboren. Er schreibt Gedichte und Kurzgeschichten, ist Regisseur und Dramatiker am Theater in Prijedor. Seit 2013 gibt er den Literaturblog „Hypomnemata“ heraus. Er ist Mitglied des PEN-Zentrums in Bosnien und Herzegowina, des Schriftstellerverbandes Bosnien und Herzegowina und des Kroatischen Schriftstellerverbandes. Auf Deutsch erschien zuletzt sein Roman „Schindlers Lift“ (Adocs Verlag, 2020).

 

Tihomir Pinter

Lidija Dimkovska

Lidija Dimkovska, geboren 1971 in Skopje, studierte Komparatistik an der Universität Skopje und promovierte an der Universität Bukarest. Sie lebt und arbeitet gegenwärtig als Lyrikerin, Prosaschriftstellerin, Essayistin und literarische Übersetzerin in Ljubljana. Ihr Werk wurde in mehrere Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet, u.a. 2009 mit dem Hubert-Burda-Preis für junge osteuropäische Lyrik. Mit dem Gedichtband „Anständiges Mädchen“ stand sie überdies 2013 auf der Shortlist für den Brücke-Berlin-Preis. Auf Deutsch erschien zuletzt ihr Gedichtband „Schwarz auf weiß“ (Parasitenpresse, 2019).

 

Bernd Hartung

Arno Frank

Arno Frank, geboren 1971 in Kaiserslautern, lebt vom Schreiben von Literatur („So, und jetzt kommst Du“), politischen Essays („Meute mit Meinung“) und journalistischen Texten (SPIEGEL, Zeit, taz, Deutschlandfunk) zu kulturellen oder gesellschaftlichen Themen.

 

Zoran Kulušić Neral

Ivo Goldstein

Ivo Goldstein, geboren 1958, ist ein kroatischer Historiker, Diplomat und Professor. Goldstein lehrt an der Universität Zagreb. Seine Forschungsschwerpunkte sind Byzanz, Kroatien im Mittelalter und die Geschichte der Juden in Kroatien. Er war Botschafter in Frankreich und bei der UNESCO (2013–2017). Zu seinen Veröffentlichungen zählen mehr als 30 Bücher, einige davon entstanden in Zusammenarbeit mit seinem Vater Slavko Goldstein.

 

Dirk Skiba

Sandra Gugić

Sandra Gugić, geboren 1976 in Wien, ist eine österreichische Autorin serbischer Herkunft. Sie studierte an der Universität für Angewandte Kunst in Wien und am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Für ihre Arbeit wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Ihr erster Roman Astronauten erschien 2015 und erhielt den Reinhard-Priessnitz-Preis. 2019 erschien ihr Lyrikdebüt Protokolle der Gegenwart.

 

Jože Suhadolnik

Drago Jančar

Drago Jančar, geboren 1948 in Maribor, gilt als der bedeutendste zeitgenössische Autor seines Landes. Seine Romane und Essays wurden in viele Sprachen übersetzt und seine Stücke vielerorts inszeniert. Jančar hat für sein Werk zahlreiche Preise erhalten, u.a. den Jean-Améry-Preis für Essayistik (2007) und den Prix Européen de Littérature (2012). Zuletzt wurde er mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur (2020) ausgezeichnet.

 

Alain François

Samira Kentrić

Samira Kentrić (1976) ist eine Künstlerin, die die soziale Realität um sich in Bilder verwandelt. Ihre Vorliebe ist es, surreale Situationen zu kreieren, um so die realste Realität hervorzuheben. Sie arbeitet in unterschiedlichen Techniken und wählt die, die am angemessensten ist. Ihr Augenmerk liegt auf der Schnittstelle zwischen öffentlicher und politischer Meinungsäußerung und dem intimen, privaten Alltagsleben der Menschen. Bis dato hat sie drei Graphic Novels veröffentlicht: Balkanalije (Autobiografie, 2015), Pismo Adni (über die Flüchtlingskrise, 2016) und Adna (2020).

 

privat

Aleksandra Nina Knežević

Aleksandra Nina Knežević, geboren in Sarajevo in 1973, studierte an der Kunstakademie in Cetinje. Für ihre Arbeiten, die in unzähligen Design und Kunstmagazinen veröffentlicht werden, wurde sie vielfach international ausgezeichnet. 2010 wurde sie zu einer der 200 besten Illustratoren weltweit ernannt (Luerzer’s Archive: 200 Best Illustrators Worldwide 09-10). Von 2006-2010 war sie Präsidentin des bosnischen Verbands für Angewandte Künstler und Designer (ULUPUBiH). Neben ihrer Arbeit studiert sie derzeit an der Kunstakademie in Sarajevo.

 

Tanja Draškić Savić

Sergej Lebedew

Sergej Lebedew, geboren 1981, arbeitete nach dem Studium der Geologie als Journalist. Gegenstand seiner Romane sind die russische Vergangenheit, insbesondere die Stalin-Zeit mit ihren Folgen für das moderne Russland. Seine Werke sind in viele Sprachen übersetzt.

 

Roland Tasho

Arian Leka

Arian Leka, geboren 1966 in Durrës, Albanien, schreibt Gedichte, Erzählungen, Romane und Kinderliteratur. Als Übersetzer hat er u.a. die italienischen Nobelpreisträger Eugenio Montale und Salvatore Quasimodo ins Albanische übersetzt. 2004 gründete er das Internationale Poesie- und Literaturfestival POETEKA und ist seitdem Chefredakteur der gleichnamigen Literaturzeitschrift. Seine Veröffentlichungen liegen u.a. in italienischer, englischer und französischer Übersetzung vor.

 

Edi Matić

Tomislav Marković

Tomislav Marković, geboren 1976, lebt und arbeitet in Belgrad. Er schreibt u.a. Lyrik, Prosa und Essays. Zu seinen Veröffentlichungen zählen Vreme smrti i razonode (2009) und der Gedichtband Čovek zeva posle rata (2014). Übersetzungen seiner Texte sind u.a. auf Albanisch, Slowenisch, English und Ungarisch erschienen. Seit 2016 ist Tomislav Marković Autor des Verlags Partizanska knjiga.

 

privat

Dragan Markovina

Dragan Markovina, geboren 1981 in Mostar, ist Historiker, Publizist und Schriftsteller. Bis 2014 lehrte er an der Universität Split. Heute ist er regelmäßiger Kolumnist des Portals telegram.hr, Sarajevos Oslobođenje und Belgrads Peščanik. Außerdem produziert und moderiert er die Fernsehsendung U kontru sa Draganom Markovinom. Für sein Buch Između crvenog i crnog: Split i Mostar u kulturi sjećanjaerhielt er den Mirko-Kovač-Preis.

Tanja Draškić Savić

Andrej Nikolaidis

Andrej Nikolaidis, geboren 1974, wuchs als Kind einer montenegrinisch-griechischen Familie in Sarajevo auf. Er lebt und arbeitet in Montenegro als freier Schriftsteller und Publizist. Nikolaidis ist für seine schonungslosen Anti-Krieg-Reportagen bekannt und gilt als einer der einflussreichsten Intellektuellen der Region. Für den Roman Der Sohn (Sin) erhielt er 2011 den Literaturpreis der Europäischen Union.

 

gezett.de

Jörg Plath

Jörg Plath, geboren 1960, ist Literaturredakteur von „Deutschlandfunk Kultur“ und schreibt für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ sowie die „Neue Zürcher Zeitung“. Er war Lektor, Ghostwriter, Redakteur und Juror (Deutscher Buchpreis, Internationaler Literaturpreises). Gegenwärtig gehört er der Jury des Weltempfängers an.

 

privat

Blerina Rogova Gaxha

Blerina Rogova Gaxha, geboren 1982 in Gjakova, Kosovo, ist Dichterin, Essayistin und Journalistin. Sie hat bis dato drei Gedichtsammlungen veröffentlicht. Zu ihren Auszeichnungen zählen u.a. der internationale Vilenica-Literaturpreis. Ihre Gedichte und Essays erscheinen in renommierten internationalen Anthologien und Zeitschriften und sind in zahlreiche Sprachen übersetzt.

 

Dženat Dreković, NOMAD

Faruk Šehić

Faruk Šehić, geboren 1970 in Bihać, studierte nach dem Bosnienkrieg Literatur. Er lebt als freier Schriftsteller in Sarajevo. Zu seinen Veröffentlichungen zählen der Roman Knjiga o Uni (2011), für welchen er 2013 den Literaturpreis der Europäischen Union erhielt, und der Erzählband Pod pritiskom (2004). Letzterer erschien 2019 auch in englischer Übersetzung. Viele seiner Bücher erreichen Kultstatus und erleben mehrere Neuauflagen.

 

Blerta Hoçia

Shpëtim Selmani

Shpëtim Selmani, geboren 1986 in Prishtina, studierte Schauspiel an der Kunstfakultät der Universität Pristhina. Seit 2010 engagiert er sich als Programmkoordinator der Nichtregierungsorganisation Lëvizja FOL. Zu seinen Veröffentlichungen als Autor zählen Shënimet e një Grindaveci (2015) und die Gedichtbände Brenda Guacës (2006) und Poezi (2011). 2020 erhielt er für Libërthi i dashurisë den Literaturpreis der Europäischen Union.

 

Miriam Stanke

Tijan Sila

Tijan Sila, geboren 1981 im damals noch jugoslawischen Sarajevo, flüchtete mit seiner Familie während des Krieges aus der belagerten Stadt und kam 1994 als Emigrant nach Deutschland. Nach dem Studium der Germanistik und Anglistik in Heidelberg lebt Sila heute mit seiner Frau in Kaiserslautern und arbeitet dort als beamteter Deutschlehrer an einer Berufsschule. 2021 wurde er mit dem Arno-Reinfrank-Literaturpreis ausgezeichnet.

 

Dirk Skiba

Slobodan Šnajder

Slobodan Šnajder, geboren 1948 in Zagreb, studierte Philosophie und Anglistik an der Universität Zagreb. Er war langjähriger Chefredakteur der Theaterzeitschrift PROLOG und schrieb Kolumnen für die Tageszeitung Novi list. International bekannt wurde er durch sein Stück Der kroatische Faust (Theater heute, Nr. 6, 1987). Für seinen Roman Die Reparatur der Welt (Doba mjedi) wurde er schon mehrfach ausgezeichnet.

 

NIN

Dubravka Stojanović

Dubravka Stojanović, geboren 1963, ist eine serbische Historikerin und Professorin an der Universität Belgrad. Sie forscht u.a. zu den Themen: Demokratie und Modernisierungsprozesse in Serbien und der Balkanregion, Geschichtsnarrative in Schulbüchern und Geschichte der Frauen in Serbien. Sie ist Vizepräsidentin des Ausschusses für Geschichtserziehung und Beraterin der Vereinten Nationen. Für ihre Arbeit wurde sie mehrfach ausgezeichnet.

 

Dženat Dreković

Hana Stojić

Hana Stojić, geboren 1982 in Sarajevo, Bosnien und Herzegowina, studierte an der Fakultät für Translationswissenschaft an der Universität Wien und arbeitet als Übersetzerin und Kulturmittlerin. Für ihre erste Übersetzungsarbeit ins Bosnische, Elfriede Jelineks Die Liebhaberinnen, wurde sie mit einer Übersetzungsprämie des österreichischen Bundeskanzleramts ausgezeichnet. Seit 2008 arbeitet sie für das Projekt Traduki, das sie seit 2014 leitet.

 

privat

Mile Stojić

Mile Stojić, geboren 1955 in Dragičina (Bosnien und Herzegowina), studierte Jugoslawische Literaturen in Sarajevo. Er war Mitherausgeber der Literaturmagazine „Lica“ und „Odjeci“ und Herausgeber der ersten postsozialistischen kroatischen Zeitschrift „Tjednik“. Nach seiner Flucht aus Sarajevo 1992 arbeitete er zehn Jahre lang als Lehrbeauftragter am Institut für Slawistik der Universität Wien. Heute lebt er als Dichter, Essayist, Kulturredakteur und Herausgeber in Sarajevo. Mile Stojić hat über 20 Bücher veröffentlicht.

 

Daniel Végel

László Végel

László Végel, geboren 1941 in Srbobran/Sentomaš, ist mit Danilo Kiš, Aleksandar Tišma oder Ottó Tolnai einer der großen Autoren der Vojvodina. Seinen ersten Roman veröffentlichte Végel 1967: Bekenntnisse eines Zuhälters (Egy makró emlékiratai) war, so Péter Esterházy, „ein Meilenstein für die moderne ungarische Literatur“. Seitdem erschienen mehrere Romane und mit Preisen bedachte Essaybände sowie Theaterstücke. Végel lebt als Angehöriger der ungarischen Minderheit in Novi Sad.

Foto: vegeldaniel.com

 

Tanja Draškić Savić

Goran Vojnović

Goran Vojnović, geboren 1980 in Ljubljana, promovierte an der Theater- und Filmhochschule Ljubljana und gilt als einer der talentiertesten Autoren seiner Generation. Regisseur mehrerer erfolgreicher Filme. Seine Bücher sind in viele Sprachen übersetzt.

 

Bastian Wartenberg

Anila Wilms

Anila Wilms, 1971 in Tirana geboren, lebt seit 1994 in Berlin. Sie studierte an der Universität Tirana und an der Freien Universität Berlin. 2012 erschien ihr erster Roman in deutscher Sprache Das albanische Öl oder Mord auf der Straße des Nordens; hierfür erhielt sie den Adelbert-Chamisso-Förderpreis 2013. Seit September 2016 ist sie Gastkolumnistin bei der Deutschen Welle Online.

 

Carmela Žmirić

Zoran Žmirić

Zoran Žmirić wurde 1969 in Rijeka geboren. Er veröffentlichte bisher neun Bücher und wurde mehrmals ausgezeichnet. Er ist Mitglied des Kroatischen Schriftstellerverbandes. Seine Bücher wurden ins Englische, Italienische, Polnische, Slowenische und Ukrainische übersetzt.

 

Credits: Lea Zupančič

Team

 

Kuratorin
Hana Stojić

Entwicklung Digitales Konzept
Anna Götte, Hana Stojić

 

Team

Projektleitung
Angelika Salvisberg

Koordination
Barbara Anderlič, Anna Götte

Webdesign
Barbara Anderlič, Matthew Morete

Illustrationen
Lea Zupančič

Grafik
Beate Zollbrecht

 

Gespräche im LCB

Konzept
Ivan Marković

Regie und Kamera
Ivan Marković

Produktion
Hana Stojić

Schnitt
Berislav Župarić

Ton
Katharina Hauke, Philipp Fröhlich

Musik
Enya Hutter

Cello
Lucas Götte

Technik
Berislav Zuparić

Produktionsassistenz
Ljubica Šljukić Tucakov

 

Balkan Film Week

Kuratorin
Marija Katalinić

Koordination
Barbara Anderlič

Grafik
Janett Andrejewski

 

Essaysammlung Archipel Jugoslawien

Herausgeberinnen
Marija Karaklajić und Hana Stojić

 

PR Archipel Jugoslawien

Projekt 2508
Mirjam Flender
Kirsten Lehnert
Svenja Pütz

Archipel Jugoslawien
Von 1991 bis heute

Hana StojićKuratorin des Common Ground Programms

Credits: Dženat Dreković

Was tun nach dem Ende der Welt? Wie weiterleben nach  der Apokalypse? Heilt die Zeit alle Wunden? Wohin mit der eigenen (und fremden) Nostalgie? Wo stehen die Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens heute? Sind die postjugoslawischen Gesellschaften bereit, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen? Ist mit dem Ende Jugoslawiens auch die Idee des Jugoslawismus verschwunden? Waren die Fundamente dieses Staates nicht gut ausgegossen oder genügte wirklich nur ein falscher Mann an seiner Spitze, um das Haus zum Einsturz zu bringen? (Was) kann Europa aus Jugoslawiens Fehlern lernen?

Jugoslawien gibt es nicht mehr. Seit 30 Jahren. Der Vielvölkerstaat war baufällig und die Chance wurde versäumt, ihn demokratisch zu reformieren. Verbrechen, Flucht, Vertreibung, Konzentrationslager und Genozid waren die Folgen.

Trotz allem sind die Länder, die einst brüderlich vereint waren und in Gewalt auseinander gingen, ein kulturell zusammengehöriger Raum. Diesem gemeinsamen Raum widmet das Traduki-Netzwerk sein Programm „Archipel Jugoslawien“ – 360 Monate nach dem Ende Jugoslawiens. Denn viele der einst verfeindeten exjugoslawischen Länder arbeiten heute bei Traduki zusammen, begegnen sich auf Augenhöhe und haben sich auf das Wagnis eines „Common Ground“ eingelassen. Selbstverständlich ist das nicht.

Common Ground goes digital: Aufgrund der Pandemie muss unser Common Ground im world wide web seinen Platz finden, statt auf der Leipziger Buchmesse. Wir lassen uns davon nicht unterkriegen und gemeinsam mit unserem Partner, der Leipziger Buchmesse, und zahlreichen AutorInnen und GesprächspartnerInnen aus Südosteuropa nehmen wir uns den digitalen Raum für ein vielseitiges, anspruchsvolles und auch kontroverses Programm. Auch wenn wir zuvor schon digitale Formate realisiert haben, tauchen wir mit dem Common Ground 2021 nun noch tiefer ein in die Welt der Hashtags und Follower.

Das Programm Archipel Jugoslawien ist vielschichtig. Da sind zunächst jene 15 Essays südosteuropäischer SchriftstellerInnen verschiedener Generationen und Lebenswelten, die in sehr persönlicher Weise zurückblicken auf  die letzten 10950 Tage. Manche von ihnen erlebten den Zerfall Jugoslawiens als Kinder, manche als  Soldaten, andere als Geflüchtete, wieder andere als Emigranten. Wir freuen uns, dass die FAZ sechs Essays bereits veröffentlichte, alle Texte können Sie in den nächsten Wochen hier auf unserer Webseite lesen.

Neben den Essays stehen 10 digitale Veranstaltungen im Zentrum unseres Auftritts. Darunter Gespräche zu aktuellen Themen, die Südosteuropa und damit Europa betreffen: Erinnerung,  Bestandsaufnahme, aber auch ein Blick nach vorn, ein Weiterdenken dieses geografischen und kulturellen Raumes im europäischen Kontext.

Weiter präsentieren wir südosteuropäische Neuerscheinungen in deutscher Sprache, darunter Bücher gerade auch der jüngsten AutorInnengeneration.  Doch längst nicht alles ist übersetzt, was für das deutschsprachige Publikum interessant wäre, darum stellen wir auch Bücher vor, die ihren Weg auf  den deutschsprachigen Buchmarkt  unbedingt noch finden sollten.

Das Jahr 1991 brachte nicht nur im Südosten Europas große Umwälzungen:  Vor 262800 Stunden ging auch die Sowjetunion zu Ende und das kommunistische Regime Enver Hoxhas in Albanien wurde abgelöst. Auch diese Ereignisse haben in unserem Programm einen Platz gefunden.

Die Balkan Film Week ist inzwischen fester Bestandteil unseres Auftritts in Leipzig, und so wollen wir auch in diesem Jahr für das Leipziger (und das online-) Publikum mit einer sorgfältigen Filmauswahl wieder eine weitere Tür in Richtung Südosten öffnen.

Begeben Sie sich mit uns in den Archipel Jugoslawien, und blicken Sie mit uns zurück auf die vergangenen 1.576.800 Minuten aber auch voraus und in eine Zukunft, die manches was in den letzten 946.080.000 Sekunden unmöglich schien, hoffentlich wieder möglich macht.

 

 

Common Ground 2020-2022

Informationen und Material zum vergangenen Traduki-Programm auf der Leipiziger Buchmesse 2020 gibt es hier:

Herkunft und Zugehörigkeit 2020