Aufklärung geht durch den Magen

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Aufklärung geht durch den Magen

Von Eduard Kaeser, 03.03.2019

Beim Essen geht es nicht allein um physische Gesundheit. Daran hängen auch gesellschaftliches Zusammenleben und Selbstbestimmung.

Im Menschenbild der Lebensmittelwissenschaft läuft das Hirn dem Verdauungsapparat den Rang ab. Der Konsument muss gustatorisch abgerichtet werden. Dafür interessieren sich die Labors der Nahrungsmittelindustrie zunehmend. Bei einem Gipfeltreffen der grossen Nahrungsmittelkonzerne sagte einer der Bosse: „Man rede mir nicht von Nährwert, man rede mir von Geschmack, und wenn etwas gut schmeckt, dann renne man nicht herum und versuche etwas anderes zu verkaufen, das weniger gut schmeckt.“

Cheetos essen Seele auf

Die zentrale Frage lautet: Wie bringen wir Menschen dazu, Junkfood zu lieben? Steven Witherly, ein kalifornischer Ernährungswissenschafter und -berater, beschäftigt sich mit genau dieser Frage. Witherlys favorisiertes Beispiel sind Cheetos, luftige, schmackhafte Knabberstäbchen aus Maismehl: „Das wunderbarste konstruierte Essen auf dem Planeten“, schwärmt er. Damit sind nicht die Nährsubstanzen gemeint, sondern Attribute, bei denen das Hirn „mehr davon“ ruft.

Eines dieser Attribute ist die Fähigkeit des luftigen Snacks, im Mund sofort zu zergehen. „Verschwindende Kaloriendichte“ nennt sich das. „Wenn etwas schnell schmilzt, denkt das Gehirn, dass keine Kalorien darin stecken, also kannst du davon soviel essen, wie du willst.“ Witherlys Rechnung scheint aufzugehen. „Ich kann eine Riesenpackung locker in einer halben Stunde ohne schlechtes Gewissen aufessen“, schreibt ein Blogger, „weil ich nicht mal merke, dass die Tüte leerer und leerer wird.“

Wer dick ist, ist selber schuld

Wir kennen den pathologischen Zug heutiger Ernährung: Fettleibigkeit. Und mit ihr steht die Frage im Raum: Wer ist verantwortlich, wer trägt die Schuld am schädlichen Essverhalten? Man erinnert sich hier an das Standardargument von Big Tobacco: Niemand zwingt dich zu rauchen. Das ist deine eigene Entscheidung. Du bist ein mündiger Konsument.

Das ist richtig und scheinheilig zugleich. Denn wenn heute eines im Big Junkfood offenkundig ist, dann dies: Der Konsument wird bestenfalls als ein halbweg rationales – lies: selbstentscheidendes – Wesen betrachtet. Oder um es mit dem alten Begriff der Aufklärung auszudrücken: Die Industrie hat ein vitales Interesse daran, dass der Mensch in seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit verbleibt.

Hiezu ein Beispiel. 2001 wurde der damalige CEO von Coca-Cola, Jeffrey Dunn, beauftragt, Brasilien als potenziellen Markt für den Soft-Drink zu erkunden. Motto: Wie bringen wir möglichst oft möglichst viele Unzen (ca. 30g) in möglichst viele Körper? In den Favelas befielen Dunn nicht gerade firmenkonforme Skrupel: Die Menschen hier benötigten vieles, aber sicher nicht Coca-Cola. Zurück im Hauptquartier versuchte der „Bekehrte“, die Konzernleitung zu überzeugen, eine ethischere Strategie zu verfolgen, z. B. die Werbung aus öffentlichen Schulen zu verbannen. Er arbeitete nicht mehr lange bei Coca-Cola.

Dekadente Ess-Sitten im 18. Jahrhundert

Die Diskussion um den pathogenen Einfluss von Getränken und Essen auf Körper und Seele hat eine interessante Parallele im 18. Jahrhundert. Die Historikerin Emma Spary ist ihr in ihrem lesenswerten Buch „Eating the Enlightenment“ (2012) nachgegangen. Das Natürliche stand damals gegen das Unnatürliche. Sprechen wir heute von der Technisierung und der Industrialisierung des Essens, so sprach man von der Künstlichkeit und der Dekadenz der Ess-Sitten.

Im schleckermäuligen, schlemmenden Gourmet mit seinen Vorlieben für pikante Zutaten und Gewürze fand das Gastronomie-Bashing ab Mitte des 18. Jahrhunderts ein gefundenes Fressen. Die Franzosen verstünden nichts vom Essen, spottete Rousseau, was daran erkennbar sei, dass sie so viel Raffinement ins Kochen stecken müssten, um es schmackhaft zu machen. Der Artikel „Küche“ des Enzyklopädisten Louis de Jaucourt liest sich wie eine kurze Geschichte des Sittenverfalls am Beispiel des Essens: Von der einfachen, gesundheitsfördernden Nahrung zum opulenten, überfeinerten Bankett der Aristokratie. Mit der Höhe der Haute Cuisine korrespondiert die Tiefe ihres sittlichen Verfalls.

Multi-Kulinarismus

Solche Töne sind heute keineswegs unbekannt. Um das Essen ist nachgerade ein Kulturkampf entbrannt. Die Situation hat etwas Paradoxes. Während ein grosser Teil der Menschheit trotz des Fortschritts der Ernährungstechnologie weiterhin vor sich hin hungert, streitet ein anderer Teil über Fragen des Essens mit einem Furor, der auf die Gluttemperatur religiöser Fundamentalismen steigt. Neben dem (zum Glück) immer noch verbreiteten Omnivorismus splittert sich das Essverhalten zusehends in Glaubensgemeinschaften auf. Es herrscht der Multi-Kulinarismus: bekennende Rohköstler, Trennköstler, Urköstler, Sonnenköstler, Steinzeitköstler, Veganer, Vegetarier, Pescetarier, Frutarier, Flexitarier, Freeganer.

Auffallend dabei ist der neuerdings erhobene moralische Ton in kulinarischen Belangen. Das amerikanische Magazin „The Atlantic“ publizierte 2011 einen Artikel mit dem alles sagenden Titel „Ein moralischer Kreuzzug gegen Feinschmecker (‚foodies‘)“. Der Autor Brian. R. Myers, Veganer, zieht vom Leder gegen die High-Tech-Küche und ihre elitäre Klientel, die ihre Fresssucht als rechtschaffene Gourmandise tarne und sich als neue Gastro-Aristokratie glorifiziere. Rousseau würde begeistert applaudieren.

Tückische Probleme

In der Fettleibigkeits-Epidemie manifestiert sich eines jener typisch tückischen Probleme, mit denen wir heute so oft konfrontiert sind: Probleme, die sich nicht auf eine generell befriedigende Weise lösen lassen, weil die Lösungen sich selbst wieder hydra-artig zu weiteren Problemen auswachsen. Ein geradezu klassisches Beispiel ist das Verbot von überdimensionierten Softdrinkbechern in New York. Ein Interessenskonflikt im Dreieck von Konsumenten, Wirtschaft und Staat: freie Wahl des Individuums versus freier Markt versus öffentliche Gesundheit.

Die gute Absicht der politischen Massnahme, den Konsum-Bürger vor schädlichen Einflüssen zu schützen, sieht sich schnell mit unbeabsichtigten Folgen zu einem gordischen Knoten geschürzt. Einzelne Branchen werden benachteiligt; die Wirtschaft wittert staatlichen Regularismus; der Bürger will sich nicht durch eine paternalisierende Diätokratie bevormunden lassen; nicht zuletzt werden die Spin-Doctors der Konzerne mit dem sattsam bekannten Totschlag-Einwand umtriebig, dass der ursächliche Zusammenhang von bestimmter Ernährung und Fettleibigkeit ja noch gar nicht erwiesen sei. Ergo: Das Verbot wird ausgesetzt.

Wettbewerb puscht Fett, Zucker, Salz

Das bedeutet nicht, dass gesetzliche Verordnungen wirkungslos sind. Es gibt durchaus positive Beispiele: Gurtenobligatorium, Rauchverbot in öffentlichen Räumen, diätetische Richtlinien in Mensen. Auf längere Frist werden Regulationen ohnehin notwendig werden, weil es höchst fraglich erscheint, dass die massgeblichen Akteure des globalen Marktes sich einer Ethik der Einschränkung verpflichten. Die Wettbewerbslogik der freien Wildbahn lässt dies gar nicht zu.

Wie der Journalist Michael Moss, Autor des Buches „Salt, Sugar, Fat“ in einem Interview sagt: „Wenn ein Grosskonzern von sich aus damit beginnen würde, den Fett-, Zucker- und Salzgehalt zugunsten eines gesünderen Profils seiner Produkte zu senken, wäre die Konkurrenz schnell zur Stelle, den Konsumenten mit der vollfetten, vollgezuckerten und vollgesalzenen Version des gleichen Produkts zu ködern.“

Ohne nun die zahlreichen Massnahmen gegen die Malbouffe schmälern zu wollen, schiene mir der Zeitpunkt gekommen zu sein, Essen auf jene Problemhöhe zu heben, die bereits das 18. Jahrhundert erreicht hatte. „Gastrosophie“ nennt der Philosoph Harald Lemke diese Flughöhe der Reflexion: Existenz als Essistenz verstehen.

Essen ist nicht bloss Zeug zum Futtern, sondern elementarer und konstitutiver Bestandteil unserer Kultur, wie Lesen, Schreiben, Rechnen und heute der Umgang mit dem Netz. Das Nahrungsmittel ist ein Mittel der Erziehung zum selbständigen Menschen – eine Bildungsaufgabe, mit der nicht früh genug begonnen werden kann. Genau hier steckt Emanzipations-Potenzial: Vernunft und Geschmack zusammenzubringen.

Kritik der diätetischen Vernunft

Erziehung zum Essen heisst vor allem auch Erziehung zur Sozialität. Kant betonte wiederholt die eminente Bedeutung des geselligen Essens: „Eine gute Mahlzeit in guter Gesellschaft verkörpert die Vereinigung des geselligen Wohllebens mit der Tugend und hiermit die wahre Humanität.“ Die Nahrungsmittelindustrie zersetzt auf weiten Strecken diese Sozialität – man vergegenwärtige sich nur einen Augenblick lang den isolierten ambulanten Frass von Instant-Food, der zum Bestandteil unseres Alltags geworden ist. Auch er gehört zur selbstverschuldeten Unmündigkeit. Kant hat nie eine Kritik der diätetischen Vernunft geschrieben. Sie wäre dringlicher denn je.

Wir haben es in der Hand, unsere „Essistenz“ selber zu bestimmen und zu gestalten: was und wie wir essen, wo und welche Produkte wir einkaufen, auf welche Art wir Gerichte zubereiten, wie viel Zeit wir uns für das Essen nehmen, ob wir allein oder in Gesellschaft essen. Sapere aude: Wage selber zu denken! Diese Losung der Aufklärung gilt mehr denn je auch fürs Essen: Wage selber zu schmecken!

Diese beschriebenen Faktoren sind zutreffend und Verschwörung. Es darf der Food-, Pharma-, Medizin-, Versicherungs- und Krankheits- Industrie nicht verboten werden, Wachstum zu generieren.
Der Fettleibigkeits-Epidemie, unter der ich sei der IV-Berentung mit 40 und anschliessender Gewichtszunahme von 50 Kg auch leide, ist aber auch wirklich gar nicht so einfach bei zu kommen.
Dazu gehört die beschriebene Ess-Asozialität, gerade auch als gelernter Food-Zubereiter, Köche, die nie richtig Zeit und Muse hatten, sich gepflegt hinzusetzen und mit angenehmen Menschen anständig und gediegen zu essen,
- die "kauf und iss mehr, das macht Dich glücklich" -Werbung und subliminalen Befehle, denen man sich nicht entziehen kann,
- das verschobene Sättigungsgefühl durch ein erweitertes Magenvolumen des späteren körperlich schwer Arbeitenden mit erhötem Kalorienbedarf, aber vorher wenig Zeit zum genüsslich kultiviert und bewusst in Ruhe zu essen,
- der gesteigerte Appetit und mehr Esslust nach Nikotin Rauch Stop,
- die bessere Kalorien Verwertung und der geringere Gesamt-Energiebedarf nach Beendigung der chronischen Vergiftung, Appetitlosigkeit und Übelkeit durch Nikotin (40 Zig/Tg)
- späteres Kompensieren und Anlegen von Fettreserven nach real erlebtem Hunger in Episoden von Arbeits-, Obdachlosigkeit, Armuts- und persönlichen existenziellen, lebensbedrohlichen Notsituationen,
- Verdoppelung der Nahrungsaufnahme, aber halbierter Energiebedarf nach Beendigung der Berufs- und sozialen Tätigkeiten infolge Invalidiserung und Wegfall von zwei Std. Spazierengehen jeden Tag nach dem Tod des Hundes,
- wenn sich die Fettzellen während einer einzigen dicklichen Phase auch bereits schon als Kind nicht nur auffüllen, sonden je nach Gewichtszunahme verdoppeln und vervielfachen, werden sie auch in Schlankheitszeiten wegen Lebensumständen, Essdisziplin und Sport, trotzdem das ganze Leben lang immer: "Hunger, Hunger; wir sind leer, füll uns auf" rufen und zum vermehrten Essen verleiten.
- alle Diäten für Fettleibige ausser diszipliniert bewusst immer Hunger ertragen, oder Magen- Band oder operative -Verkleinerung sind nutzlos und machen kurz- oder langfristig bloss den Jo-Jo-Effekt.

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