Dem traurigen Trend des Lärms trotzen
Carte Blanche
"Ich darf hier schreiben, was ich will, absolute Freiheit ist mir gewährt. Wie verlockend und verführerisch! Doch auch: Wie schwierig! Allein vor einem weissen Blatt, so ganz ohne Titel, so ganz ohne Erwartung der Herausgeber und der Leser.
Wie viel einfacher ist es doch, sich die Freiheit herauszunehmen, einen zugewiesenen Rahmen auszureizen oder zu sprengen, sich einen Freiraum zu erkämpfen. Was ist denn absolute Freiheit ohne jede Grenze? Ist sie nicht einfach Vakuum, ein Nichts, ein Abgrund ohne Inhalt? Wer Freiheit wahrnimmt, schafft immer einen neuen Inhalt, also auch neue Grenzen. Tut er das nicht, ist seine Freiheit ohne Substanz, ohne Bedeutung und ohne Verantwortung.
Spielen wir den Gedanken anhand der Medienfreiheit durch:
Die Medienfreiheit, früher Pressefreiheit, wird von unserer Verfassung ausdrücklich geschützt. Sie ist ein erkämpftes Recht der Aufklärung, nämlich das Recht, die Bürgerinnen und Bürger unabhängig von politischen und wirtschaftlichen Machtansprüchen so zu informieren und aufzuklären, dass sie sich eine fundierte Meinung bilden und ihre politischen Rechte in unserer direkten Demokratie wahrnehmen können. Die Medienfreiheit hat also einen Inhalt und bedeutet somit auch eine Pflicht.
Innere Aushöhlung der Medienfreiheit
Diese Freiheit wird jedoch zunehmend als eine wirtschaftliche verstanden, die sich an Einschaltquoten und Auflagen orientiert. Die Wirtschaftsfreiheit ist ebenfalls garantiert, doch bedeutet sie etwas völlig anderes, nämlich ohne staatliche Bevormundung Handel oder ein Gewerbe zu betreiben. Wird Journalismus auf diese Tätigkeit reduziert, bedarf es keiner Medienfreiheit mehr.
Diese innere Aushöhlung der Medienfreiheit hat sich parallel zur wirtschaftlichen Globalisierung nach dem Fall der Berliner Mauer entwickelt. Die Finanzkrise der letzten zwei Jahre ist ihrerseits Folge einer Wirtschaftsfreiheit, die ohne jede Verantwortung gegenüber ihrem ursprünglichen Sinn verstanden und missbraucht wurde, nämlich nur gerade in egoistischer Gewinnoptimierung und nicht als Säule einer Gesellschaft, deren Wirtschaft von mündigen Bürgern gelebt und nicht vom Staat diktiert wird.
"Reisserische, personalisierte Titel"
Die Finanzkrise beschleunigt ihrerseits die Entleerung journalistischer Verantwortung, denn sie hat einen gewaltigen Einbruch des Inseratevolumens zur Folge und somit einen massiven personellen Abbau in den Redaktionen. Umso wichtiger ist es, dass Journalistinnen und Journalisten um die Qualität ihrer Arbeit ringen und dem traurigen Trend des Lärms trotzen wollen. Gerade weil es nur noch wenige Medien gibt, die sich nicht primär an den quantitativen Kriterien ausrichten, wie sie die Inseratewirtschaft diktiert.
Die Reihenfolge der Artikel auf den Online-Portalen verändert sich ständig; was nicht angeklickt wird, verschwindet bald wieder. Und so buhlen die Artikel, wollen sie nicht einen schnellen Tod sterben, mit reisserischen, personalisierten Titeln um Aufmerksamkeit.
Verlorene Glaubwürdigkeit
Wenn die Freiheit der sonntäglichen Zuspitzungen als Erfolgskriterium nur gerade die erlangte Präsenz in anderen Medien, nicht aber den Wahrheitsgehalt kennt, wenn Meinungsfreiheit ohne jede Bemühung um einen gesicherten Sachverhalt auskommt, wenn eine journalistische Einschätzung zuallererst auf persönlichen Vorlieben und Abneigungen beruht, dann ist das ein Widerspruch in sich selber und eine Freiheit ohne Grenzen, die jede Glaubwürdigkeit bei den Lesern verliert und sich somit selber aushöhlt.
Journal21 nimmt einen Anlauf, Medienfreiheit mit Inhalten zu füllen. Alle Schreibenden haben eine Carte Blanche. Welchen Rahmen werden sie dem neuen Medium setzen? Davon, dass jeder einzelne Beitrag von Verantwortung getragen sein wird, dürfen wir angesichts der eindrücklichen Namensliste getrost ausgehen. Ob dies dem neuen Medium als solchem auch schon die notwendige Struktur gibt?
Begleiten wir diesen Mut zur Verantwortung, indem wir, denen uns die Medienfreiheit am Herzen liegt, nicht nur mit lesender Sympathie hoffen, sondern indem wir mitarbeiten und die Carte Blanche gestalten.
Moritz Leuenberger"
Sehr gut. Danke.
Auf Online-Börsen wie z.B. ebay oder ricardo kann man die Anbieter von Waren und Dienstleistungen nach einem vorgegebenen Kriterienkatalog beurteilen.
Warum gibt es solche Kriterien nicht auch für Journalisten?
Mögliche Kriterien könnten bspw. Ausgewogenheit, Relevanz, Einbettung in grössere Zusammenhänge aber auch Orthografie (leider!), Stilistik etc. sein. Auf diese Weise würde das Bewusstsein für guten Journalismus sowohl der Autoren als auch der Leser angeregt.
1) Zitat: "absolute Freiheit ist mir gewährt" Existiert nicht. Emanuel Kant, Sir Karl Popper et.al.
2) Zitat: "mit lesender Sympathie"
Gibts nur, wenn alles akzeptabel funktioniert. Momentan haben wir gröbere Probleme im Volk und der Regierung (aka BR) sowie in der Wechselwirkung zwischen den zwei.
Ich habe Heute am Radio von der Existenz des Journal21 erfahren und war angetan von der Courage und dem Engagement hochkarätiger Journalisten, einen Kontrapunkt zur vorherrschenden Medienlandschaft zu gestalten.
Es ist eine Tatsache, dass die in der Verfassung geschützte Medienfreiheit mehr und mehr durch wirschaftliche Interessen unterlaufen wird.
Zentral am Artikel von Moritz Leuenberger scheint mir, dass er die auf ungesichertem Sachverhalt beruhenden Berichterstattungen rügt. Eine Erscheinung, die in der Presse, in den Medien jedoch nicht neu ist. Sobald sich Berichterstattung und Kommentierung - womöglich mit ideologischem Hintergrund - vermischen, entsteht ein für den Leser oder Konsumenten nicht wirklich wertschöpfendes Produkt. Es sei denn, sie bestätigt seine Einstellung oder Ideologie. Dort, bei diesen Lesern scheint der Marketing-Mix geglückt, das Produkt ist allerdings von der Wahrheit - soweit diese erstellt werden kann - weit entfernt. Es werden Emotionen geweckt - vornehmlich negative - Ängste geschürt, Völker, Religionen, Staaten verunglimpft, rein des Konsumenten willen.
Ich glaube nicht, dass dieser Problematik mit den herkömmlichen Medienprodukten Einhalt geboten werden kann. Selbst beim interessierten Bürger stellt sich Heute eine Reizüberflutung durch Informationen ein. Die Omnipräsenz von Radio, Gratiszeitungen, Internet und "flachen" Presseprodukten ist gewaltig.
Könnte ein neues Geschäftsmodell, ein neues Produkt Veränderungen bringen? Gäbe es eine Form, erstellte Sachverhalten, Kommentierungen, Meinungen und Ideologien als solche zu unterscheiden und publizieren, könnte der interessierte Bürger die für ihn wichtigen Informationen besser selektionieren und verarbeiten.
Gerade das Internet würde sich dafür anbieten, Informationen aus verschiedensten Medien und Anbietern zu publizieren. Ein solcher Anbieter hätte die schwierige Aufgabe, rund um die sachverhaltlich erstellten Storys die Kommentierungen anderer Medienanbieter aufzuarbeiten und einen Querschnitt durch die Meinungen in der Medienlandschaft zu schaffen.
Vielleicht könnte eine solche Dienstleistung kostendeckend angeboten werden? Sicher wäre sie geeignet, die Medienlandschaft im positiven Sinne zu ändern.
Womöglich mag mein Beitrag, der Kommentar eines Laien, wenig zur Problemlösung beitragen. Ich bin aber bereits erleichtert, einerseits meinen Unmut kund tun zu können und andererseits anzuregen. Denn ohne neue Pionierleistung wird sich am Grundproblem nichts ändern. Eine solche Pionierleistung muss sich zudem mit unserer Verfassung und dem Grundgedanken einer sozialen Marktwirtschaft decken können.
Viel Erfolg Journal21!
Medienfreiheit, die von Herzen kommt. Die Carte Blanche bewusst zu sein und achtungsvoll damit umgehen.
Das wünsche ich mir!
Bin sehr gespannt auf J21
Ich teile ihre Ansicht.
absolut einverstanden! Es ist der neuen Plattform zu wünschen, dass sie ein breites Publikum findet, das nicht nur liest, sondern sich zum gelesenen auch Gedanken macht und sich entsprechend verhält! Zu wünschen ist auch, dass die freie Meinungsäusserung nie beschnitten wird, die Schreiber in der Folge sich auch immer darüber im Klaren sind, welche Wirkung ihr Wort hat! Wir haben hier (bei mir zu Hause) ein gutes - vermutlich negatives Beispiel - was Information bewirken kann, wenn der Strippenzieher (Geldgeber) die Schreiber tanzen lässt! Allora forza avanti!