Den Neoliberalismus bändigen
Eine neue Welle der Skandalenthüllungen erreicht uns aus dem Paradies. Nach den Panama Papers des letzten Jahres sind es nun die Paradise Papers, die aus Datenlecks an die Öffentlichkeit gelangt sind. Wie letztes Mal schon ist dafür das Netzwerk „International Consortium of Investigative Journalists“ verantwortlich. Diesmal sind es bereits unglaubliche 13,4 Millionen Dokumente, die ans Tageslicht geraten sind. Es liegt an der Politik, zu reagieren. Nicht alle mögen das, leider.
Längst wissen wir, dass die Tricks mächtiger oder schwerreicher Persönlichkeiten den Begriff des Neoliberalismus mit einem schalen Nachgeschmack versehen haben. Ungezügelter Liberalismus schützt eben gerade nicht die Freiheit aller. „Vielmehr führt er zu Macht und Missbrauch in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.“ So äusserte sich Thomas Straubhaar, Professor an der Universität Hamburg, in der liberalen Zeitschrift „Schweizer Monat“.
Megatrend Transparenz
Die Forderung nach Transparenz erweist sich immer mehr als einer der Megatrends des 21. Jahrhunderts. Die These, wonach im IT-Zeitalter Verbotenes, Verstecktes, Vermiedenes oder Veruntreutes unweigerlich durch Datenlecks an die Öffentlichkeit gezerrt werde, bestätigt sich mit jedem neuen Skandal.
Nach den beiden grossen Enthüllungen 2016 und 2017 dämmert es wohl denjenigen, die Nutzniesser oder auch nur Verteidiger solcher Steuervermeidungs-Praktiken sind. Die Transparenzforderung ist sozusagen erwachsen geworden und – nach Jahren belächelter Ankündigungen – in die Phase der Realisierung getreten. Diesmal passiert etwas.
Drei Faktoren kommen in dieser kritischen Phase zusammen, die eine Neuausrichtung der kapitalistischen Wirtschaft anbahnen könnten.
Treiber der Veränderung
Erstens: Die Fusionen der grössten Player auf dem Markt führen geradewegs zur marktbeherrschenden und damit missbräuchlichen Dominanz. Damit gerät der Markt aus dem Gleichgewicht und die Gewinne konzentrieren sich. Besonders die IT-Unternehmen aus dem Silicon-Valley haben ein eigentliches Perpetuum mobile erfunden. Sie kaufen laufend Firmen, vergrössern dadurch ihre Gewinne, sparen Steuern mit trickreichen Konstrukten, generieren dadurch zusätzliche Mittel – und kaufen weitere Firmen auf, um den Markt vollends zu dominieren.
Zweitens: Superreiche Persönlichkeiten und Grosskonzerne handeln konsequent eigennützig. Mit den diskret verschobenen nationalen Profiten vermittels einer Kaskade von (Schein-)Firmen in Steueroasen senken sie ihre Steuerbelastung drastisch. Gleichzeitig explodieren die Gewinne. (Es ist noch nicht lange her, da beteiligte sich die Schweiz in grossem Stil an diesem Business: Indem weltweit tätige Firmen ihre Exporte über eine Aktiengesellschaft mit Sitz in der Schweiz fakturieren liessen und beispielsweise „Bearbeitungsgebühren“ dazuschlugen, parkierten sie grosse Teile des Bruttogewinns hier im Land und entzogen sie der Besteuerung in den Ursprungsländern.)
Drittens: So langsam dämmert vielen Menschen, dass ihre Staaten mit solchen Steueroptimierungs-Strategien betrogen werden, obgleich die Ertappten nach wie vor behaupten, alle diese Machenschaften seien legal.
Alarmglocken
Längst ist auch bekannt, „… dass die Ungleichheit umso schneller steigt, je mehr sich die wirtschaftliche Aktivität auf wenigen Feldern konzentriert“.* Universitäten haben das sorgfältig analysiert, nationale Regierungen und Kartellämter sind alarmiert.
Besonders die ungemütliche Entwicklung in den USA lässt die Alarmglocken läuten: „Die Auswüchse des Kapitalismus spielen den Populisten in die Hände. Viele Bürger haben das Gefühl, das Wirtschaftssystem nicht mehr zu verstehen und die Kontrolle über ihr eigenes Schicksal zu verlieren. Der Reichtum konzentriert sich bei wenigen, während viele vor einer unsicheren Zukunft stehen.“*
Nachdem wir uns schon seit einiger Zeit an die Tricks auf den globalen Finanzmärkten gewöhnt haben, mit denen Finanzströme manipuliert und umgeleitet werden, stellt sich in der Tat die Frage nach dem Zusammenhang mit dem weltweiten Aufkommen des Populismus, respektive dem zunehmenden Erfolg seiner politischen Vertreter. Wenn weite Teile der Bevölkerung das Vertrauen in Gerechtigkeit und Fairness von „denen da oben“ verloren haben und frustriert sind, ist es ein kurzer Schritt bis zum grölenden Applaus für populistische Heilsbringer.
Wann kommt die Reaktion?
Die neuen Veröffentlichungen der Paradise Papers werfen ein grelles Licht auf Praktiken, die in Zeiten des Neoliberalismus auf ganz legale Art und Weise zum Schaden der Gesellschaft durch clevere Juristen kreiert werden. Wie wahr, wenn schon seit längerer Zeit behauptet wird, die Totengräber des Liberalismus – und damit der aufgeklärten liberalen Gesellschaft – kämen nicht nur von aussen, aus ideologisch motivierten Linkskreisen, sondern auch von innen, dem Zentrum des Systems.
Das unstillbare Streben nach „noch mehr“ – Profit, Einkommen, Vermögen – führte zur Erosion von Moral und Anstand, zur Umgehung von Gesetzen und in der Folge zu gigantischer Besitzakkumulation. Dass bei dem Treiben international tätige renommierte Anwälte nicht nur die Ausführung, sondern auch die Initiative übernommen haben, gehört offensichtlich zum Geschäftsgebaren dieser Branche.
Besonders stossend ist die Verlogenheit innerhalb der EU, was solche Steueroasen betrifft. Die Briten verschliessen beide Augen vor den undurchsichtigen Tricks auf der Isle of Man; sie haben wohl den Brexit vor Augen. Auch Holland, Belgien und Luxemburg fordern zwar innerhalb des Glaspalasts in Brüssel Massnahmen gegen die gesellschaftsschädigenden Praktiken, doch in der Praxis unternehmen sie nichts dagegen.
Wird es eine Reaktion geben? Wenn sich heute Menschen auf der Strasse, ehrliche Geschäftsleute und verantwortungsvolle Politikerinnen und Politiker zusammenraufen, um aus Überzeugung und mit dem nötigen Druck für den überfälligen Mentalitätswandel zu sorgen, so kann sich aus dem Neoliberalismus so etwas wie ein „Honest-Liberalism“ entwickeln.
*Uwe Jean Heuser: Kapitalismus inklusive. Hamburg: Edition Körber, 2017.
"Der globale Kapitalismus" China ist kommunistisch und global aktiv, erfolgreich sogar. Was soll denn der Neoliberalismus? Ja, man darf sich in Ismen wohlfühlen: Kapitalismus, Neoliberalismus, Sozialismus, Kommunismus, neu noch Islamismus. Darf man dies politisch korrekt so schreiben?
Herr Zollinger, schon Ihre Definition von Neoliberalismus ist falsch - Sie verwenden ihn als Kampfbegriff gegen den Kapitalismus, dabei war er von Röpke et al. gerade als Bändigung der freien Marktwirtschaft durch soziale Elemente definiert worden – "Soziale Marktwirtschaft".
Zudem bin ich nicht einverstanden mit den immer gleichen Zuschreibungen; "Das unstillbare Streben nach „noch mehr“ – Profit, Einkommen, Vermögen" ist an allem schuld. Das stimmt einfach nicht. Vielmehr ist es "Das unstillbare Streben nach „noch mehr“ – Sicherheit und Schutz". Nämlich der Politik, die keine läuternde Rezession bzw. nötige Deflation zulassen will, um den Markt von altem Ballast leerzuräumen und frisch zu starten, wie dies schon so oft und immer wieder in kurzer Zeit gelungen ist.
Stattdessen herrschen "Alternativlosigkeit", "Too big to fail" etc. Vordergründig zum Schutz der "Schwachen" und der Arbeitsplätze, in Wahrheit zum Schutz der Politiker vor Wählerverlusten.
Das Mittel dazu ist die Geldpolitik, die die Wirtschaft über Nachfrageinflation beleben soll und in Wahrheit alles zukleistert und betoniert. Und die gleichzeitig eine riesige Umverteilung zu den Reichen und der Finanzklasse befördert. Denn diese haben die "Assets" und die billigen Kredite und sind damit die einzigen (neben den Politikern), die durch Wertsteigerungen und billige Spekulation von der Politik profitieren können, während die Mittelklasse zugrunde geht.
Greifen Sie bitte dort an, wo es wirklich nötig wäre, bei FED, EZB und den dahinterstehenden Sozialingenieuren! (die SNB ist auch mitschuldig, aber auch ein Opfer der anderen Währungsmoloche).
Vielleicht sollten Sie einmal die ideologishe Brille abnehmen und einen Blick auf die Realität riskieren: Air Berlin geht Pleite - Sie würden wohl sagen: der Markt wird von altem Ballast leergeräumt -, die Arbeitnehmer stehen vor einer sehr ungewissen Zukunft, aber der Chef hat vorgesorgt und bekommt weiterhin bis zum 31.Januar 2021 sein üppiges Gehalt mitsamt Zulagen. Siemens macht 6,2 Mrd. Gewinn und schliesst in dem ohnehin industriearmen Osten Deutschlands zwei Werke - etwa tausend Arbeiternehmer stehen vor dem Aus. Daran sind weder EZB noch FED schuld, sondern die Gier der Manger und Aktionäre, die den Hals nicht vollkriegen und für die regionale Verantwortlichkeiten keine Rolle spielen. Nachdem bereits die Treuhand neben maroden auch intakte und wettbewerbsfähige Industrien geschlossen oder an Firmen aus dem Westen verhökert hat, die sie dann als unliebsame Konkurrenten kurzerhand geschlossen haben, nun also Siemens. Die Manager wenden sich vom Populismus und der AfD idigniet ab - und fördern beide nach Kräften. Politik und EZB mag man kritisieren, aber die Unersättlichkeit der Reichsten und ihre Steuertricks auch. Dank an Herrn Zollinger!
Es gibt wohl nicht nur 1 Definition von Neoliberalismus. Man lese zu diesem Thema das hervorragende Buch von Hans Küng:
Anständig wirtschaften.
Warum Ökonomie Moral braucht.
Die Sichtweise, dass das unstillbare Streben nach 'mehr' eigentlich dem nicht gestillten Sicherheitsbedürfniss geschuldet werde, vermag ich angesichts der rund 600 Milliarden zusammengerafften Vermögens der 300 reichsten Personen in der Schweiz beim besten Willen nicht zu folgen. Gemäss Bilanz und Handelszeitung ist die Schere zwischen arm und reich seit Jahrzehnten weit auseinander geklafft.
Wenn dieser Geldadel nun auch noch die Medien im grossen Stil aufkauft, damit das 'wahre Volk' in den Genuss der ewigen und einzigrichtigen Wahrheit (des Geldadels) kommt, und demokratische Medien wie das Fernsehen mit der No-Billag Initiative weggeputzt werden sollen, dann hat das Volk die Regierung, die es verdient.
"Anstand" ist eine willkürliche Moralkategorie, eine Sache der aktuellen Kultur/Religion, aber kein Massstab zur Beurteilung der Ökonomie. Anstand heisst hier: Beachtung der Regeln - des Marktes und des Rechts. Das Schöne am Markt: Er zwingt zu "Anstand" und Freundlichkeit (kommt von Freund...), sonst verliert der Anbieter nämlich seine Kunden.
Wer sich als Empörungsbewirtschafter betätigt mit Floskeln wie "zusammenraffen", "Gier", "Unersättlichkeit" etc., fragt nicht nach den Ursachen, sondern nach Schuld. Das hat noch nie zu etwas Nachhaltigem geführt, höchstens zum Tugendterror durch eine selbsternannte Moralelite. Davon hatten wir genug in der Geschichte.
Die Ursache für die wachsende Ungleichheit ist nicht die "Gier", das ist eine anthropologische Konstante, sondern die staatsgeförderte Möglichkeit für die Finanzklasse, diese Gier ohne Risiko auszuleben (und das ist dann keine Kapitalismus mehr, weil Kapitalbildung mühsam und risikoreich ist und sein muss und normalen Bedingungen).
Warum macht der Staat das? Weil die Demokratie Angst hat vor der schmerzhaften Selbstheilung der Märkte - Kapital muss abgeschrieben werden, Uneffizientes muss geschlossen werden, erst dann kann neues entstehen. Lassen wir die Moral doch mal für einen Moment weg zugunsten des klaren Blicks.
Die soziale Marktwirtschaft wurde von Ronald Reagan und Frau Thatcher über Bord geworfen damals. Und auch die Schweizer Elite in Wirtschaft und Politik applaudierte in der Hoffnung davon zu profitieren. Wer damals den Heilsbringern nicht hinter herlief, wurde als zukunftsfeindlich belächelt und abgeschrieben. Nicht immer ist Neues besser als das Alte; vor allem wenn nur der pure Profit den Kaufmann zur Arbeit treibt.