Der Dalai Lama und das Volk
Der 15. Dalai Lama könnte sogar eine Frau sein. So raunte humorvoll sibyllinisch Tenzin Gyatso, der weltweit verehrte 14. Dalai Lama. Die überraschende, wenn auch von Lachen begleitete Äusserung hat einen ernsthaften Hintergrund. Exil-Tibeter und Peking streiten in der Reinkarnations-Frage um Deutungshoheit.
Wird es überhaupt einen 15. Dalai Lama geben? Der heute 79 Jahre alte Tenzin Gyatso, die 14. Reinkarnation in der fast 500 Jahre alten Geschichte der Institution, lässt die Frage offen. Chinas Regierung allerdings widerspricht. Die religiöse Reinkarnations-Frage wurde Mitte März einmal mehr aktuell bei den Beratungen des Nationalen Volkskongresses. Padma Choling, der Vorsitzende des Tibetischen Regionalkongresses, äusserte sich in der Grossen Halle des Volkes in Peking dabei, nicht zum ersten Mal, zur Wiedergeburt des Dalai Lama: «Ob er die Reinkarnation beenden will oder nicht, liegt nicht in seiner Hand.» In einem Interview mit der «New York Times» wurde Padma Choling noch deutlicher: «Die Entscheidungsgewalt über die Reinkarnation des Dalai Lama und über das Ende oder das Überleben seiner Erbfolge liegt bei der Zentralregierung Chinas.»
Strenge religiöse Regeln
Der Chef der tibetischen Exilregierung im indischen Dharamshala, der in Harvard ausgebildete Lobsang Sangay, sagte, jeder Anspruch Pekings, den Dalai-Lama-Nachfolger zu bestätigen, sei absurd. Er fügte ohne Blick auf die tibetische Geschichte das wahrlich schräge Argument hinzu: «Das ist so, als ob Fidel Castro sagte, er suche den nächsten Papst aus, und alle Katholiken müssen dem folgen. Der Tibeter Padma fasste in Peking den Standpunkt Chinas schliesslich so zusammen: Der Dalai Lama betreibe mit seinen Worten zur Reinkarnation «Blasphemie gegen den tibetischen Buddhismus» und «provoziert eine Spaltung». Die Wiedergeburt, so der Tibeter, erfolge traditionell nach strengen religiösen Regeln.
Wenn die Äusserungen Padma Cholings sicher auch politisch motiviert sind, hat er historisch gesehen mit den religiösen Regeln nicht ganz unrecht. Seit die neueste Richtung des tibetischen Buddhismus, die Gelugpa-Schule – oder Gelbhüte – im westlichen Teil Tibets mit Zentrum Lhasa bestimmend ist und seit die Reinkarnation der Dalai Lamas im 16. Jahrhundert ihren Anfang nahm, gelten strikte Regeln. Danach lag es an den hohen Lamas der Gelugpa-Tradition und der Tibetischen Regierung, den wiedergeborenen Dalai Lama zu erkennen und zu finden. Die Suche beschränkt sich nach der Tradition ausschliesslich auf Tibet. Ist das Kind einmal gefunden, muss es unzählige Tests bestehen. Dann müssen die hohen Lamas zusammen mit den lebenden Buddhas der drei grossen Klöster sowie den mitregierenden tibetischen Adligen das Ergebnis bestätigen und, dies seit Ende des 17. Jahrhunderts, der Zentralregierung mitteilen.
Mitsprache der Qing-Kaiser
Die Kaiser der Qing-Dynastie (1644-1911) hatten bei der Ernennung des Dalai Lamas immer ein gewichtiges Wort mitzureden. Auch nach der Zeit der Kaiser behielt sich die chinesische Zentralregierung ein entscheidendes Mitspracherecht vor. Das war so in der Republik unter Kuomintang-Generalissimo Chiang Kai-shek als auch nach der Gründung der Volksrepublik unter den Kommunisten. Mit andern Worten: Der ganze Reinkarnations-Prozess war und ist äussert komplex und kann Jahre dauern. Dass das Thema Reinkarnation politisch sowohl von Peking als auch vom Dalai Lama und den Exil-Tibetern im indischen Dharamshala instrumentalisiert wird, versteht sich unter den gegebenen schwierigen Umständen schon fast von selbst.
Schon 1969 sagte der Dalai Lama, es liege an den Tibetern selbst zu entscheiden, ob die Institution des Dalai Lama weitergeführt werde oder nicht. Mitte der 1970er-Jahre meinte er in einem Interview: «Die Institution des Dalai Lama wurde einst geschaffen, um andern zu helfen. Es ist möglich, dass die Nützlichkeit der Institution sich überlebt hat». Vor zehn Jahren nahm er das Thema erneut auf und sagte: «Wenn das tibetische Volk überzeugt ist, dass die Institution irrelevant ist, dann wird es nach mir keinen 15. Dalai Lama geben». Ist der Dalai Lama plötzlich Demokrat geworden? Bis zur Flucht von 100’000 Tibetern 1959 während der grossen Hungersnot und Unterdrückung in ganz China war Tibet eine Theokratie. Menschenrechte galten nichts.
Panchen Lama
Politisch noch brisanter war dann die Äusserung, dass der DalaiLama – wenn überhaupt – weder in einem von der Volksrepublik China kontrollierten Land noch in irgendeiner andern unfreien Region wiedergeboren werde. Dass die Reinkarnation nach den strengen Regeln der Tradition nur in Tibet gefunden werden kann, überging der Dalai Lama. Im politischen Nahkampf sind solche Einwände kontraproduktiv. Mit diesem Diktum jedoch skizziert «seine Heiligkeit» die wenig wünschbare Möglichkeit von zwei Dalai Lamas – einer in China, einer im Ausland.
Vor zwanzig Jahren gab es schon einmal einen ähnlichen Vorfall. Der Dalai Lama hatte aus dem Exil für die zweite Position im tibetischen Buddhismus, den Panchen Lama, einen Knaben als Träger dieser Rolle bestimmt. Peking suchte und bestätigte einen eigenen Panchen Lama. Der ist, entgegen dem Urteil der Buddhisten im Ausland, nicht nur ein Kopfnicker; vielmehr setzt er sich ab und an mit kritischen Worten für das Wohl der Tibeter und Tibeterinnen ein. Ob der Dalai Lama überhaupt das Vorrecht für die Ernennung eines Panchen Lama hat, ist historisch äusserst fragwürdig.
2011 griff der Dalai Lama noch einmal, wie immer überraschend, das Thema Wiedergeburt auf: «Wenn ich etwa neunzig Jahre alt bin, werde ich die hohen Lamas der tibetischen buddhistischen Tradition, das tibetische Volk und andere Buddhisten konsultieren und nochmals überprüfen, ob die Institution des Dalai Lama fortgeführt werden soll oder nicht. Auf dieser Grundlage werden wir eine Entscheidung treffen». In einem Interview mit der «Welt am Sonntag» meinte der Dalai Lama dann vor einem Jahr: «Wir hatten einen Dalai Lama seit fast fünfhundert Jahren. Der 14. Dalai Lama ist jetzt sehr populär. Lasst uns das Ganze mit einem vierzehnten, populären Dalai Lama beenden».
Der Dalai Lama, charismatisch, weltoffen und voller Humor, brachte in den letzten Jahren auch andere, eher ungewohnte Themen zur Sprache. So könne er sich durchaus vorstellen, dass die nächste Wiedergeburt auch eine Frau sein könnte. «Ich sagte halb scherzend», meinte der Dalai Lama vor fünf Jahren mit seinem überbordenden Lachen, «dass die Reinkarnation, wenn sie denn weiblich ist, sehr attraktiv sein muss, weil sie so mehr Einfluss auf andere hat. Wenn sie hässlich ist, wird sie nicht sehr effektiv sein. Oder?».
«Ich bin Marxist»
Zum Schrecken vieler westlicher Bewunderer kritisiert der Dalai immer wieder den Kapitalismus und nennt sich selbst einen überzeugten Marxisten. Der Marxismus habe «moralische Ethik», während der Kapitalismus nur darauf aus sei, «Profit zu machen». «Ich denke, ich bin linker als die chinesische Führung», sagt er mit seinem breiten, lauten Lachen, «die sind nämlich Kapitalisten». In jungen Jahren wollte er nach eigener Aussage sogar einmal Parteimitglied werden. Immerhin sass er in den 1950er Jahren zusammen mit dem Panchen Lama – der nach Tradition die Reinkarnation des Dalai Lama bestätigen muss – im Nationalen Volkskongress und wurde dort sogar zum Stellvertretenden Vorsitzenden des Ständigen Ausschusses ernannt. In der Reinkarnations-Frage jedenfalls gibt sich der Dalai Lama ganz nach marxistischem Denkansatz durchaus dialektisch.
Wie die tibetischen Buddhisten und die Buddhisten weltweit einst beim Tod des 14. und der Reinkarnation von vielleicht zwei 15. Dalai Lamas reagieren werden, ist schwer zu sagen. Sowohl Peking als auch das tibetische Exil in Dharamshala instrumentalisieren die Reinkarnations-Frage für ihre politischen Zwecke. Der Dalai Lama hält mittlerweile bei zunehmender Opposition von jungen Exil-Tibetern am «Mittleren Weg» fest, das heisst an einem autonomen Tibet innerhalb Chinas. In der Tat: Seit über dreihundert Jahren ist Tibet Teil Chinas. Das letzte tibetische Grossreich zerfiel schon vor über tausend Jahren. Auch nach 1911, dem Zusammenbruch der letzten Kaiser-Dynastie der mandschurischen Qing, war Tibet nie ein völkerrechtlich anerkannter unabhängiger Staat.
Tibeter entscheiden
Die Zukunft des tibetischen Buddhismus wird weder von Kommunisten in Peking noch von Dalai-Lama-Sykophanten, «seine Heiligkeit» murmelnden westlichen Buddhisten und schon gar nicht den Exil-Tibetern entschieden werden. Wie der Dalai Lama lehrt, sind vielmehr Tibeterinnen und Tibeter auf dem Dach der Welt die Schiedsrichter. In der diffizilen und komplexen Tibet-Frage hilfreich jedenfalls bleiben immer zwei Ratschläge: Nicht alles, was die chinesische Regierung sagt, ist falsch, und nicht alles, was die Exil-Tibeter in Dharamshala und anderswo sagen, ist richtig. Und umgekehrt.
Sehr geehrter Herr Achten
Bitte lesen Sie Ihre eigene Schlussfolgerung und seien Sie mal ehrlich. Ist das jetzt analytisch, logisch, pointiert oder von sonstigem Nutzen?
«Die Zukunft des tibetischen Buddhismus wird weder von Kommunisten in Peking noch von Dalai-Lama-Sykophanten, «seine Heiligkeit» murmelnden westlichen Buddhisten und schon gar nicht den Exil-Tibetern entschieden werden. Wie der Dalai Lama lehrt, sind vielmehr Tibeterinnen und Tibeter auf dem Dach der Welt die Schiedsrichter. In der diffizilen und komplexen Tibet-Frage hilfreich jedenfalls bleiben immer zwei Ratschläge: Nicht alles, was die chinesische Regierung sagt, ist falsch, und nicht alles, was die Exil-Tibeter in Dharamshala und anderswo sagen, ist richtig. Und umgekehrt.»
Das ist ja eine Aneinanderreihung von unausgereiften und nicht zu Ende formulierten Gedanken mit null Erkenntnisgewinn. Sinnvoller wäre es, Sie hätten Ihren Text mit diesen Bemerkungen begonnen und dann Klarheit geschaffen.
Mein Gefühl sagt mir: Sie verfolgen mit Ihren Kommentaren eine politische Absicht (und das seit Jahren und mit Methode). Sie haben die zwanghafte Neigung, Dinge, die klar sind, unklar zu machen, damit wohl Unwahrheiten den Anschein von akzeptablen Alternativen gewinnen.
Herzlichen Gruss
Wangpo Tethong
Stellungnahme der Gesellschaft Schweizerisch-Tibetische Freundschaft GSTF
Der teilweise überhebliche und gegenüber dem Dalai Lama verächtliche Artikel von Peter Achten kann so nicht hingenommen werden und bedarf in weiten Teilen der Richtigstellung. Dem Autor ist lediglich zuzustimmen, dass die Frage, wer die Inkarnation des nächsten Dalai Lama – wenn es diese geben sollte – bestätigen kann, von höchster politischer Bedeutung ist. Die Hardliner in China spekulieren auf das baldige Ableben des Dalai Lama, um die Tibeter danach völlig unter ihre Kontrolle zu zwingen.
Allein, die apodiktischen Äusserungen im Artikel wie beispielsweise, dass Tibet „seit über dreihundert Jahren ein Teil Chinas“ sei, sind haarsträubend. Wer sich wann und unter welchen Umständen anmasste, eine gemäss den religiösen Regeln identifizierte Inkarnation „genehmigen“ zu wollen, wurde durch die jeweiligen Machtverhältnisse bestimmt. Wenn die Qing-Kaiser oder die Kuomintang-Regierung mitreden wollten, heisst das weder, dass dieses legitim ist, noch dass die Tibeter damit einverstanden waren oder gar offiziell ein Recht zur Mitsprache bei Inkarnationen oder anderen Angelegenheiten erlaubten. Weder die Qing-Dynastie noch gar die Kuomintang-Regierung kontrollierten Tibet, und wenn sich die Tibeter zum Beispiel die Entsendung von chinesischen Statthaltern (Ambanen) nach Lhasa gefallen liessen, heisst das nicht, dass sie damit irgendeinen Machtanspruch für religiöse oder Angelegenheiten legitimierten. Als im letzten Jahrhundert die Tibeter die Ambane und chinesischen Truppen des niedergehenden Kaiserreiches aus ihrem Land komplimentierten, hatte China von 1913 bis zur Invasion 1950 überhaupt keinen Einfluss auf Tibet. Tibet besass alle Merkmale eines unabhängigen Staates, versäumte es gleichwohl, dem Völkerbund beizutreten oder diplomatische Beziehungen zu anderen Staaten aufzunehmen. Dieses rächte sich nach der chinesischen Invasion, so dass Tibet leichter als „Teil Chinas“ tituliert werden konnte.
Wenn man Peter Achtens Logik zu Ende führt, heisst das, dass man ein Land völkerrechtswidrig besetzen darf, dem Volk seine Ordnung aufzwingt, ein vages „Schüler-Patron“-Verhältnis aus der Qing-Dynastie herbeizitiert (die Qing-Kaiser sahen sich als „Schützer“ Tibets und akzeptierten umgekehrt den Dalai Lama als spirituellen „Lehrer“) – und schon ist nach PeterAchten der Fall klar: China hat ein „gewichtiges Mitspracherecht“.
Nur ganz am Rande erwähnt Peter Achten den Fall des Panchen Lama. Vor genau 20 Jahren identifizierte der Dalai Lama einen damals sechsjährigen Jungen gemäss religiöser Tradition als Inkarnation des Panchen Lama. Die Regierung in Beijing fühlte sich übergangen. Nur einen Tag, nachdem die Auffindung der Inkarnation bekanntgegeben wurde, verschwand der Junge mitsamt seiner Familie spurlos. Bis heute weiss man nichts über ihren Verbleib. Anfragen an die chinesische Zentralregierung von ausländischen Regierungen und Menschenrechtsgruppen werden stereotyp beantwortet, alle führten ein „glückliches Leben“, und sie wollten nicht „von Ausländern gestört“ werden. Die Mönche des Stammklosters der Panchen Lamas wurden gezwungen, mittels der Zeremonie der „Goldenen Urne“ (einem Losverfahren) eine China genehme Inkarnation des Panchen Lama zu ermitteln. Während die chinesische Regierung gegen den Dalai Lama wetterte, er missachte religiöse Regeln, übersah sie geflissentlich, dass die „Goldene Urne“ nicht regelmässig, sondern gemäss religiöser Tradition nur bei nicht eindeutigem Auffinden einer Inkarnation zum Einsatz kommt. Der von China eingesetzte Panchen Lama residert übrigens in Beijing und besucht Tibet nur sporadisch, und wenn, dann unter strengen Sicherheitsvorkehrungen.
Völlig ausgeblendet von Peter Achten wird die gegenwärtige 17. Inkarnation des Gyalwa Karmapa. Der 1985 in Tibet geborene Knabe wurde in seltener Eintracht zwischen Dalai Lama und chinesischer Regierung anerkannt und zur religiösen Erziehung in sein zentraltibetische Stammkloster Tsurphu gebracht. Als Junge war er der chinesischen Propaganda genehm. Man sah ihn in chinesischen Medien abgebildet, wie er scheinbar glücklich auf dem Klosterdach mit einem ferngesteuerten Spielzeugauto hantierte. Als 14-jähriger beschloss er die Flucht aus Tibet, nachdem er sich mehr Gedanken über die religiöse Reglementierung als über die Berge von Spielzeug machte, mit dem ihn die „gütige“ Zentralregierung beschied. Seit der Jahrtausendwende lebt er nach einer dramatischen Flucht aus Tibet im Exil in Indien.
Und es kommt noch schlimmer bei Peter Achten. Nach seiner Version galten dem Dalai Lama Menschenrechte „nichts“, und er gebärde sich heute plötzlich als „Demokrat“. Hat Peter Achten je davon erfahren, dass der Dalai Lama als noch nicht 20-jähriges religiöses und weltliches Oberhaupt während der chinesischen Besetzung bis zu seiner Flucht 1959 ein Reformprogramm für Tibet entwickelte? Dass der Dalai Lama schon 2 Jahre nach seiner Flucht eine demokratische Exilverfassung erliess? Dass diese Verfassung bis heute ständig im Konsens mit dem demokratisch gewählten Exilparlament weiterentwickelt wird? Dass der Dalai Lama selbt den Passus in der Verfassung durchsetzte, dass er abwählbar ist? Dass er freiwillig auf alle weltliche Macht verzichtete und nun ein von den Tibetern gewählter Ministerpräsident das weltliche Oberhaupt ist? Mit diesen Scheuklappen versehen, behauptet Peter Achten im Ernst, China – einer der Staaten, der nach allgemein anerkannten Massstäben zu den schlimmsten Menschenrechtsverletzern gehört – bei der Inkarnationsfrage mitbestimmen kann? Glaubt er wirklich, dass die Tibeter, gleichgültig ob in Tibet oder im Exil, einen von China eingesetzten „Dalai Lama“ akzeptieren?
Diejenigen, die sich dieser Fakten vergegenwärtigen, werden das künftige Schicksal der Dalai Lamas lieber denjenigen in die Hände legen, die vom tibetischen Volk für diese Entscheidungen legitimiert sind.
Danke für den klaren Text.Es braucht da schon etwas Mut dazu, mit Klarsicht über einen Sachverhalt zu schreiben,den manche Leute doch gar nicht klar sehen möchten.
Leider sind solche Artikel dünn gesät.
Werter Herr Achten,
Ihre sicherlich fundierten China-Kenntnisse und Ihr langjähriger Aufenthalt daselbst in allen Ehren. Aber die hanebüchenen Aussagen zu Tibet dürfen nicht unbeantwortet bleiben. Mir scheint, dass Sie vollumfänglich die chinesische Version der Tibet-Problematik verinnerlicht haben. Fragwürdig ist das insofern, als dass aktuell die chinesische "Salamitaktik" (NZZ) Chinas mit ständig wachsenden Gebietsansprüchen zur Diskussion steht und nun langsam aber sicher auch im Westen dämmert, dass die "friedliche" Annexion Tibets durch die Roten Garden 1950 nicht mehr und nicht weniger als der Beginn dieser Expansion durch die VRC war.
Ich möchte nicht alle Aussagen Ihres Beitrages widerlegen; das dürften weitere Kommentatoren machen. Diese hier zeugt hingegen von völliger Unkenntnis der tibetischen Geschichte:
"In der Tat: Seit über dreihundert Jahren ist Tibet Teil Chinas. Das letzte tibetische Grossreich zerfiel schon vor über tausend Jahren. Auch nach 1911, dem Zusammenbruch der letzten Kaiser-Dynastie der mandschurischen Qing, war Tibet nie ein völkerrechtlich anerkannter unabhängiger Staat."
Tibet war zumindest seit der Simla-Konferenz 1914 und der Definition der Grenzen mit der McMahon-Line ein völkerrechtlich anerkannter Staat. Zumindest in dem Umfang, wie Israel dies heute für sich beansprucht und dabei ebenfalls auf die Übereinkunft von Drittmächten angewiesen war. Dass China sich bei der Anerkennung 1914 quer stellte und Grossbritannien den Anspruch aus Respekt vor dem Chaos in China und den Ansprüchen Russlands auf Tibet nicht allzu stark propagierte, ist eine leidige Geschichte.
Hingegen: dass Tibet bis 1950 vollumfänglich kulturell, sprachlich, ethnisch und eben auch politisch eigenständig war, ist heute nun wirklich keine überraschende Erkenntnis mehr.
Sehr geehrter Herr Scheidegger, wie kann eine Konferenz, die nicht zuende geführt und deren von zwei statt der ursprünglichen drei Teilnehmer ausgehandeltes Ergebnis vom dritten nie ratifiziet (also: akzeptiert) wurde, die Grundlage für einen "völkerrechtlich anerkannten Staat" darstellen? Ein Staat, von dem es selbst im endgültigen Text noch heisst, dass er nicht selbständig ist: Erster Punkt der "exchanged notes": "It is understood by the High Contracting Parties that Tibet forms part of Chinese territory." usw. usf.
Warum ist eigentlich die deutliche Verschiebung der indischen Grenze nach Norden durch die Briten keine Gebietsannexion? Sass ein Vertreter Tibets auch im Commonwealth-Rat ebenso wie im Chin. Volkskongress?
Und, was mich bei den Anhängern des "freien Tibet" immer besonders ärgert: Haben Sie sich EINMAL mit der Lage der Bevökerung in dem mittelalterlichen Sklavenhalter- und Feudalstaat befasst, dem der Einmarsch der Chinesen erst ein Ende bereitete? z.B.: Wieviele Schulen und Krankenhäuser gab es vorher?
Haben Sie sich mal informiert, welche wichtigen Sonderrechte Minderheiten (nicht nur die Tibeter) in der VR China haben?
Wenn das misslungene Beispiel der Simla-Konferenz Ihr bestes Gegenargument gegen den – hervorragenden – Artikel ist, dann haben Sie sich wohl gerade besens blamiert. Sorry …
Die Diskussion um den völkerrechtlichen Status von Tibet ist lang und birgt etliche Fallgruben. Diese Diskussion steht zum Beitrag aber nicht an. Hingegen stehen etliche formale Fehler und Unterlassungen an. Wie auch immer der Standpunkt zum Glauben an die Reinkarnationstheorie sein mag, ist folgendes Fakt: China hat dieses System nie anerkannt, da Religion - gleich welcher Richtung - immer als staatsgefährdend betrachtet wurde. Wenn Herr Achten nun Bezug nimmt auf das Auswahlverfahren der Dalai Lamas seit Kaiser Qianlong, dann müsste er unbedingt folgendes hinzufügen: Weil China eben gerade die Reinkarnationstheorie ablehnte, wurde ein Auswahlverfahren per Los aufgedrängt. Die entsprechende Urne steht übrigens in Peking ausgestellt.
Dass immer noch auf die Feudalherrschaft vor 1950 Bezug genommen wird, ist leider eine etwas abwegige Argumentation. Waren die Menschenrechte zu der Zeit in China etwa ein Thema? Oder während der Kulturrevolution 1966-1976? Kaum. In einem Land, das ungefähr so gross ist wie Westeuropa, bei einer damaligen Bevölkerungszahl von 6 Millionen Tibetern, dauern Reformen naturgemäss etwas länger. China hat das Verfahren mit der Eliminierung von gut 1.5 Millionen Tibetern natürlich stark vereinfacht.
Ich habe während 10 Jahren Reiseleitung in Tibet ebenfalls viele Fortschritte bezüglich der Infrastruktur beobachtet. Wie auch in anderen asiatischen Ländern. Wo ich allerdings keinerlei Fortschritte feststellen konnte, war bei der Menschenrechtssituation. Die Rechte der Tibeter sind heute nicht weiterentwickelt als zur Zeit der Feudalherrschaft.
In dieses Kapitel fällt eine weitere Unterlassung im Beitrag: "Peking suchte und bestätigte einen eigenen Panchen Lama.". Tatsächlich ist dem so. Dass seither der von den Tibetern anerkannte Panchen Lama in Haft ist, dürfte Ihnen bekannt sein. Bei der Verschleppung handelte es sich um den wohl jüngsten politischen Gefangenen.
Was mir sauer aufstösst ist, dass die VRC einerseits die Religion stark unterdrückt, aber gleichzeitig Teile davon missbraucht, um politisch Einfluss zu nehmen. Konsequent wäre, wenn die VRC das ganze Reinkarnationsthema ignorierte.
Ausgezeichneter Text. Da kann ich voll beistimmen. Er deckt sich mit dem Wissen, das ich bei meinen Besuchen in Lhasa gewonnen habe. Und meinen Begegnungen mit dem ständig kichernden Dalai Lama. Allerdings überrascht es nicht, dass die Tibeter hierzulande allein und vehement ihre Interessen vertreten.