Die fällige Debatte

Stephan Wehowsky's picture

Die fällige Debatte

Von Stephan Wehowsky, 28.02.2014

Die Flüchtlingsdramen Europas finden an der Peripherie statt. Aber sie sind nicht peripher. Sie berühren den Kern der politischen Kultur Europas.

Die spanischen Exklaven Melilla und Ceuta in Marokko sind Schauplätze grotesker Szenen afrikanischer Not und europäischer Hilflosigkeit. In den vergangenen Jahren haben die Behörden um die Exklaven dreifache bis zu sechs Meter hohe Zäune errichtet. Sie sind mit sogenanntem Nato-Draht bewehrt. Anders als normaler Stacheldraht hat dieser statt der Dornen rasiermesserähnliche Schneiden.

Abwehr und Hilfe

In den Wäldern um Ceuta und Melilla werden derzeit etwa 30´000 Flüchtlinge vermutet. Alle warten auf die Gelegenheit, irgendwie weiterzukommen: in die Exklaven oder übers Meer direkt nach Spanien. Von Zeit zu Zeit rückt die Polizei an, treibt die Menschen weiter in die Wälder hinein und zerstört die notdürftigen Behausungen.

Regelmässig tun sich Flüchtlinge zusammen, rennen zu den Exklaven und versuchen, die Zäune zu überklettern. Es gibt Tote und Verletzte. Manchmal stehen schon Rotkreuzhelfer bereit, um die wenigen, die mit Schnittwunden und Knochenbrüchen den Zaun überwunden haben, zu versorgen.

Im Stich gelassen

Manche Flüchtlinge versuchen auch, vom Meer aus in die Exklaven einzudringen. Um das zu verhindern, hat die Polizei am Strand von Ceuta kürzlich mit Gummigeschossen auf die Ankömmlinge gefeuert. Dabei hat es etwa 15 Tote gegeben, wobei die genaue Zahl natürlich nicht ermittelt werden kann. Auf jeden Fall soll die Polizei jetzt auf diese Schiesserei verzichten.

Die Frustration der lokalen Behörden ist riesengross. Sie fühlen sich von Europa genauso im Stich gelassen wie die Verwaltungen und Politiker auf dem spanischen Festland. So geht es auch Griechenland und Italien, wobei Italien mit Lampedusa einen geradezu symbolträchtigen Ort für die alltäglichen Katastrophen hat.

Aber das ganze spielt sich an der Peripherie ab. Der Kern Europas ist nur insoweit betroffen, als es lediglich einer kleinen Zahl von Flüchtlingen gelingt, dorthin zu gelangen. Das Hauptproblem lastet auf der Peripherie, und in den Augen der meisten Europäer sollte es auch dabei bleiben.

Das Manko Europas

Auf den ersten Blick ist diese Haltung natürlich und verständlich. Warum sollte sich ein Zentraleuropäer um das grämen, was in dem ohnehin hoch verschuldeten Süden neben vielen anderen Dingen auch noch schief läuft? Allein der geographische Abstand bildet eine natürliche Schranke für die Aufmerksamkeit.

Auf den zweiten Blick aber erweist sich das Problem der Peripherie als ein Manko Europas und unserer politischen Kultur. Dieses Manko besteht nicht darin, dass Probleme ungelöst sind, sondern dass sie nicht einmal auf der Agenda stehen.

Auf welche Agenda? In Brüssel gibt es Behörden, die sich selbstverständlich mit der Migration beschäftigen. Ihnen verdankt die Organisation Frontex ihre Existenz. Ihre Aufgabe besteht darin, möglichst weit im Vorfeld Flüchtlingsströme zu unterbinden. Nachdem nun aber zu viele Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken sind, gibt es eine neue Verordnung, die es den Besatzungen der Schiffe von Frontex verbietet, Flüchtlinge zurück aufs offene Meer zu schicken.

Auf verlorenem Posten

Es geschieht also etwas in Brüssel, aber das geht an der öffentlichen Aufmerksamkeit weitgehend vorbei. Und damit wird das vermieden, was dringend nötig wäre: die Auseinandersetzung mit der Frage, wie Europa mit den ganz sicher zunehmenden Flüchtlingsströmen umgehen will.

Wer eine solche Frage stellt oder nur anstösst, sieht sich schlagartig auf einem so verlorenen Posten wie die Bewohner, Polizisten, Verwalter und Politiker an Europas südlicher Peripherie. Könnte es ein Zeichen von politischer Naivität sein, eine solche Auseinandersetzung auch als privilegierter Mitteleuropäer für notwendig zu halten?

Vergangenheit?

Um diese Frage zu klären, hilft ein Blick in die gar nicht so ferne europäische Vergangenheit. Denn in der Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg sind immer wieder zwei Vorwürfe erhoben worden: Zum einen wurde der Schweiz zur Last gelegt, zu wenig für die Verfolgten des Naziregimes getan zu haben: „Das Boot ist voll.“ Und den Zeitgenossen in Deutschland wurde vorgeworfen, die Augen vor den Verbrechen des Nationalsozialismus verschlossen zu haben: „Wir haben nichts gewusst.“

Wenn etwas an diesen Vorwürfen dran sein soll, dann müssen wir uns auch heute nach den Massstäben richten, die sie setzen. Sind wir heute eher bereit, schwierige und unbequeme Wahrheiten zur Kenntnis zu nehmen und Konsequenzen zu ziehen, die auch uns etwas abverlangen?

Die unbequeme Frage

Danach sieht es nicht aus. Jeder PR- und Politikberater wird einem erklären, dass niemand gewählt wird, der die Leute mit Problemen belästigt, die sie nicht unmittelbar betreffen. Daher ist jeder Kandidat gut beraten, wenn er sich auf die Punkte konzentriert, die seinen potentiellen Wählern Vorteile versprechen. Migrationsprobleme an Europas Grenzen gehören nicht dazu.

Erfolg hat, wer seinen Wählern schwierige Fragen erspart. Das aber ist ein Betrug an der Demokratie und zerstört das, was man früher einmal mit Bürgersinn umschrieben hat. Von der Antike bis zur Gegenwart sind die politischen Denker davon ausgegangen, dass keine Demokratie ohne die Bereitschaft der Bürger auskommt, über die eigenen unmittelbaren Interessen hinaus das Gemeinwohl ins Auge zu fassen. Der Bürger ist auch Sachwalter von Interessen, die über seine eigenen hinausgehen.

Wenn Politiker wie Hochstapler auftreten und so tun, als gäbe es jenseits vordergründiger Versprechen keine Verpflichtungen, unterbinden sie Denkprozesse, die für die politische Kultur unerlässlich sind. Demokratie ist anspruchsvoller als das blosse „Gefällt mir“ auf Facebook. Es geht um Werte, europäische Werte, und wir müssen uns die unbequeme Frage stellen, ob sie schon an Europas Mittelmeerküsten enden.

Entmündigung der Bürger

Niemand hat derzeit Lösungen für die Migrationsproblematik. Aber wenn die Fragen danach deswegen tabuisiert werden, weil man damit keine Wahlen gewinnen kann, wird die politische Gemeinschaft auch keine Antworten finden. Politiker, die Wähler nur als Konsumenten und nicht als Bürger ansprechen, entmündigen sie. Und sie unterminieren die politische Kultur Europas. Keine Lösung zu haben, ist keine Schande, wohl aber, nicht einmal danach zu suchen.

Die grotesken Szenen an den Aussengrenzen Europas sind eine Mahnung: Sie mahnen uns, selbst darüber Klarheit zu gewinnen, wie diesen Problemen begegnet werden soll. Es genügt nicht, diese Fragen aus Bequemlichkeit nur denjenigen zu überlassen, die das geographische Pech haben, an den Aussengrenzen zu leben und irgendwie reagieren zu müssen.

Ähnliche Artikel

Der Aufruf von S. Wehowsky sich Klarheit zu verschaffen ist berechtigt. Aber leider gibt er nur sehr versteckte Andeutungen was man machen könnte.

Meine 5 cents:
Ganz Europa sollte sich daran beteiligen, dass auf allen afrikanischen TV-Sendern regelmässig Informationen gesendet werden, welche es der dortigen Bevölkerung klar machen, dass Europa weder in der Lage noch willens ist, die ganze afrikanische Bevölkerung aufzunehmen.

Man sollte auch aufzeigen, dass abgesehen von einer kleinen Zahl von berechtigten Flüchtlingen alle wieder zurückgeschafft werden und somit abgesehen von Kosten und Gefahren keinen Nutzen hatten.

Ausserdem müsste aus solchen Sendungen hervorgehen, was Europa konkret unternimmt um diesen Ländern bei Kooperation zu helfen.

Migrationsprobleme an Europas Grenzen? Eine euphemistische, undeutsche Bezeichnung für - deutsch und deutlich - hausfriedensbrechende Eindringlinge. Diese jungen Männer sollen Flüchtlinge sein? Nein, sie entziehen sich ihrer Pflichten in ihren Heimatländern. Dort ist ihre Arbeitskraft gefragt, nicht in Europa, das unter Arbeitslosigkeit ächzt. Was hat eigentlich unsere jahrzehntelange, milliardenschwere Entwicklungshilfe bewirkt? Nichts als messbar noch mehr arme Menschen, die sich in die Abhängikeit der Hilfswerke begeben haben.

Zum glück geht es heute nicht mehr um den 2 weltkrieg. Heute muss man sich überlegen, ob wir alle aufnehmen wollen. Man fragt sich, ob wir für die Fehler anderer Länder, die Schleusen öffnen sollten. Wir haben schon jetzt fünfhundertausend moslems. Und wer rechnet, der könnte auf die Idee kommen, das unsere Urenkel einmal auch moslems sein werden. Wieso sollen wir das wollen? Wenn es so weiter geht, das ist zu befürchten, dann wählen alle nur noch die Rechten Parteien. Denn die Flüchtlinge die kommen, wollen nicht mehr gehen...

Die EU ist ein Wirtschaftsprojekt: Freier Waren-, Personen-, Kapital- und Dienstleistungsverkehr. Diese so genannten Freiheiten dienen einer neoliberalen Wirtschaftsordnung und beweisen, dass die EU keine politische Union ist. Und weil sie keine politische Union sein will, ist sie unfähig, eine menschenwürdige Migrationspolitik zu betreiben. Innerhalb der EU darf gewandert, rechtlos gearbeitet, betrogen werden. Ausserhalb werden Stacheldrähte errichtet, die Flüchtlingen die Hände oder Finger abschneiden. Ach ja, in Andalusien oder anderen Schauplätzen dürfen auch die Rechtlosen arbeiten. Illegal versteht sich. Verlogener als der Europarat ist nicht einmal Bundesbern. Vornehmlich linke Euro-Politiker prügeln auf die Schweiz ein, geben sich ein menschliches Antlitz, lügen sich in die Taschen und errichten Massengräber auf hoher See. So löst sich ein Problem von selbst.

Die “Flüchtlingsdramen Europas” sind nicht die Flüchtlingsdramen Europas. Es sind die Flüchtlingsdramen AFRIKAS.

„Sie berühren den Kern der politischen Kultur Europas“ - mit Verlaub: NIEIN !!! - Sie berühren den Kern der politischen Kultur AFRIKAS. Möglicherweise der Unkultur ...

Glauben Sie - bei allem Respekt - dass Ihr Artikel irgendeinen „journalistischen Mehrwert“ enthält?

Ich fürchte: NEIN. Das ist/war doch „gehobener Mainstream“.
Denken Sie mal scharf nach... !!! - Ich wiederhole: Denken Sie mal SEHR scharf nach... !!!

Wer denn verursacht die „Flüchtlingsdramen“?
Wer? Ja wer denn?
Wir, die dummen „Europäer“?
Sie? Demokraten/Rechtsstaatler/Menschenrechtler, etc.?
Wohl kaum.

Oder vielleicht doch eher alle die Wohltäter und „geliebten Führer“ in Afrika und anderswo ...???!!! Und etwas „zynischer“: wir müssen doch fremde Kulturen (Hand ab, Bein ab, Genitalverstümmelung, Kopf ab - was noch alles?) respektieren. Oder?

Also - mit Verlaub: think - think different !!!
(Für die, die es nicht wissen: dass war Microsoft versus Apple)

Die Lösung erscheint mir ziemlich klar. Ich denke, die afrikanischen Länder werden zu fest ausgebeutet. Man raubt Länder gnadenlos aus, um im Westen den Wohlstand zu erhalten. Lieber schickt man bewaffnete Extremisten um danach die Kontrolle über ein Land zu übernehmen können. Anstatt, dass der Westen die Probleme (Geldsystem) auf die Reihe kriegt, exportiert er die Probleme und verstärkt sie dadurch.
Die westliche Elite agiert seit etwa 2000 – 2500 Jahren in den gleichen falschen Mustern und scheint gänzlich lernresistent. Ich bin für eine Abschaffung jeglicher Elite, indem man die politische und wirtschaftliche Macht zu 100 Prozent aufs Volk verteilt.
Und ich bin für eine Politik, die auch den afrikanischen oder südamerikanischen Länder zugute kommt. Es kann einfach nicht sein, dass ein Rohstoffreiches Land arm ist und ein Rohstoffarmes wie unseres reich. Da stimmt etwas nicht in der Gleichung. Wohlstand basierend auf Raub ist eine ziemlich erbärmliche Angelegenheit.
Insofern darf man den Afrikanern keinen Vorwurf machen, wenn sie hierher flüchten wollen, wo Milch und Honig fließen.

Die Moralisten/innen des letzten Jahrhunderts sind gescheitet! Ihre Vorträge, Theaterstücke, Bücher, auf die Fahnen ihrer Partei geschrieben Mahnungen, Versprechungen und Wegweisungen zermalmt durch internationale Interessen. Das Menschliche reduziert auf individuelle Bedürfnisse, das Allgemeinwohl auf kollektives Wachstum eingeschworen. Selbst ihr ureigenes Demokratieverständnis wurde in Brüssel von ihren eigenen Fahnenträgern lautstark in Frage gestellt .Opignion-Leaders eigener Couleurs und ehemalige Frontmänner arbeiten inzwischen für Soros, Albright, Nabucco, BMW, Siemens, RWE, Rewe. Auch Klaus Traube`s Hoffnungen weitgehend dahin! Die internationale Kritik, die anglo-amerikanische Kritik und deren Ethik und Moral sind zur Farce geworden. Durch das Internet, ihre Stahlspitze kann heute jeder erfahren wie klein unsere Vergehen gegenüber ihrer eigenen Schandtaten sind oder waren. Die EU hat Aussengrenzen, die Schweiz (kein EU-Mitglied mit hat auch Aussengrenzen) jedoch ohne Zäune mit messerscharfem Stacheldraht, ohne mörderische Abwehr. Wir wollten nur ökologisch, ökonomische Steuerungselemente zur Sicherung der Zukunft vor angestrebten Plattwalzen. Schwarze oder farbige Menschen sind auch Menschen und Menschen haben Menschenrechte oder irre ich mich. Anstatt dauernd ganze Regionen zu destabilisieren könnten solche Grossmäuler ihre Auftraggeber anmahnen in solche Länder zu investieren und die Probleme wären weitgehend gelöst. Wir rufen ihnen zu Trickspieler…Hütchenspieler wir glauben euch kein Wort mehr!...cathari

Was @ cathari eben beschrieben hat, ist absolut mehrheitsfähig in der Schweiz ! MoralistInnen vorallem der "Linken" sowie der "Mitte" und der "Rechten". (Eigentlich bin ich für völlige Abschaffung dieses dummen "Rinks- und Lechts-Schemas, aber allzuviele gut
Meinende wursteln noch in jenen Kategorien herum.) Wir lösen unsere ureigensten CH-Probleme und die EU die ihren. Dann ziehen wir Bilanz. Wetten dass... Unsere Demokratie ist mir wert.

Wenn wir Links - Mitte -Rechts-Debatten abschaffen löst sich vielleicht auch die endlose Streiterei zur Ablenkung vom Wichtigen endlich in Luft auf. Die Totschlag Argumente gehen flöten und es gibt endlich mal Menschen die eigene Ansichten und Meinungen haben.
Der Wachstumswahn auf Kosten der Anderen würde endlich als Verletzung der Menschenrechte erkannt. Win-Win-Verträge würden dem kranken Profit-um-jeden-Preis-Denken weichen.
Donnerwetter! Dann könnte es direkt mal gemütlich werden auf diesem armen gebeutelten Planeten!
So möge es doch bitte sein - schnell!
Amen!

SRF Archiv

Newsletter kostenlos abonnieren