Drachenbrut und kaltes Blut

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Drachenbrut und kaltes Blut

Von Stephan Wehowsky, 10.11.2014

Bei Erinnerungen an Siege fliegen die Sektkorken. Ein vorübergehendes Hochgefühl.

Wolf Biermann hat im Deutschen Bundestag beim Gedenken an den 9. November 1989 nicht nur zur Gitarre gegriffen, sondern auch Klartext geredet: Nichtswürdig und erbärmlich sei jene Partei, die immer noch das vertrete, „was zum Glück überwunden ist“.

In wenigen Tagen wird in Thüringen ein Herr zum Ministerpräsidenten gewählt, der genau jene „Drachenbrut“, wie Biermann sie nannte, vertritt. Der Chef der SPD, Sigmar Gabriel, stürmte nach dem Auftritt auf Biermann zu, umarmte und küsste ihn, während die Kanzlerin erst einmal ihre Verblüffung überwinden musste, um dem hellsichtigen Barden dann gemessen zu seinem Auftritt zu gratulieren.

Allerdings steht Gabriel hinter der Entscheidung der SPD in Thüringen. Ein Biermann wäre da nur hinderlich. Und die Kanzlerin? Seit Wochen hat sie es mit einem Herrn zu tun, für den das Ende des Kommunismus in Mitteleuropa die „grösste geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ war und ist. Und er handelt danach. Thüringen ist dagegen die reinste Idylle.

Nicht nur die Kanzlerin weiss: Dies ist ein verteufeltes Jahr. Vor 100 Jahren wurden Fehler gemacht, deren Folgen die Fantasie der damals Handelnden bei weitem überstiegen. Unsere Welt ist heute weitaus dynamischer. Desto schlimmer jetzt die Fehler. Bei den Erinnerungen an damals fliegen keine Sektkorken, lässt sich nicht über "Drachenbrut" spotten, sondern es ist die die kalte Angst, die in den Nacken kriecht. Sollten wir wieder, wie unsere Vorfahren, in ein Geschehen hineintaumeln, das keiner wirklich will? Lehrt die Geschichte mehr als nur, dass alles möglich ist? Wie lässt sich da kaltes Blut bewahren?

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Wirrtext statt Klartext, gab Herr Biermann zum Gedenken an den Mauerfall im Bundestag von sich. Beschämend war das Verhalten der Bundeskanzlerin, des Vizekanzlers, des Parlamentspräsidenten und vieler Abgeordneter der Regierungsparteien, nachdem Egoman Biermann auf die größte der zwei Oppositionsparteien eingedroschen hatte. Erstaunlich, mit welcher Ruhe, die Abgeordneten der Linkspartei reagierten.

Wolf Biermann ist ein ewig gestriger.
Die Mauer-Erbauer sind schon entweder
längst tot oder im Altersheim. Die jetzige
Linke hat den russischen Sozialismus
höchstens im Kindergarten erlebt. Die
SED war von der Sowjets gelenkte Partei.
Die SED und die DDR-Regierung durften
alleine ohne eine Erlaubnis aus Moskau
nichts entscheiden. Ähnlich so wie die
Kanzlerin Merkel darf nichts wichtiges ohne
Erlaubnis aus Washington entscheiden.
Die Linke wird von keiner fremden Macht
gelenkt, nur die Meinung der Mitglieder
zählt.

Biermann überschätzt sich etwas, wenn er sich als "Drachentöter" sieht. Er lebt noch in und von einer vergangenen Zeit. Die Linke ist nicht "Drachenbrut", sondern praktisch die einzige oppositionelle Kraft, die gegen die neuen Ungerechtigkeiten vorgeht und übrigens eine gewählte, vom Volk legitimierte Partei .Neue Lieder, etwa zu steigender Armut, Hartz IV, Umverteilung von unten nach oben, Kriegstreiberei etc. hat Biermann nicht im Repertoir (sonst wäre er ja wohl kaum zu diesem Affront engagiert worden).

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