Ehrung für das Friedensprojekt EU

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Ehrung für das Friedensprojekt EU

Von Joerg Thalmann, Brüssel - 13.10.2012

Der Friedens-Nobelpreis für die EU! Die Anhänger der europäischen Einigung jubeln, ihre Gegner werden mit gemischten Gefühlen reagieren. Aber beide können der EU in einem Punkt dankbar sein: Sie dürfen diese Meinungsverschiedenheit frei ausdrücken.

Freie Diskussionen wären im Europa von 2012 nicht selbstverständlich, wenn es die EU nicht gäbe. Sie hat seit 1950 an vorderster Front für die friedliche Zusammenarbeit der Länder Europas gekämpft, deren Früchte wir heute geniessen, meistens ohne ihrer Verdienste bewusst zu sein. Fünf Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sie dem Gemetzel der europäischen Völker und Staaten ein Projekt entgegen, das Europa in sechzig Jahren, wie es der Vorsitzende des norwegischen Friedenskomitees bei der Preisverleihung sagte, aus einem Kriegs- zu einem Friedenskontinent gemacht hat. 1950 lancierte der geniale politische Denker Jean Monnet dieses Programm: den Zusammenschluss der europäischen Länder zu einer Gemeinschaft, deren Länder, Todfeinde seit Jahrhunderten, sich in der gemeinsamen Arbeit für wirtschaftliche und politische Einigung kennen und schätzen lernen.

Zum Erstaunen der Zeitgenossen hatte diese Idee Erfolg: Fünf Jahre nach dem zerfleischenden Krieg schlossen sich sechs feindliche Länder zur ersten EG zusammen, der „Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl“, die diese beiden für Kriege unerlässlichen Branchen zu einem gemeinsamen Markt zusammenfügten und unter eine „supranationale“, das heisst gemeinsam ausgeübte Regierung stellte. Die Deutschen nahmen dankbar ihre Gleichberechtigung fünf Jahre nach Hitler entgegen, die Franzosen glaubten an die Domestizierung von Deutschlands ewiger Kriegslust in dieser Gemeinschaft.

Gemeinsame Regeln für 500 Millionen Menschen

Diese Sechser-EG hat sich in vielen Schritten zur „EU“, der Europäischen Union gemausert. Aus Rücksicht auf die Besonderheiten der 27 heutigen Mitgliedstaaten ist sie kompliziert geworden und hinterlässt bei vielen ihrer 500 Millionen Bürger und Bürgerinnen den Eindruck, sie sei undurchsichtig und „diktiere“ ihnen aus Brüssel, was sie zu machen und zu lassen hätten. Sie würden aber nie auf den Binnenmarkt verzichten, der ihnen die besten Produkte zu Wettbewerbspreisen bringt und ihren Firmen hindernisfreie Exporte erlaubt. Dafür sind natürlich einheitliche Brüsseler Regeln unerlässlich, alle sind von ihren Regierungen mitbestimmt worden, und die damit verbundenen Einschränkungen und Vorschriften muss man halt auch akzeptieren.

Diese Brüsseler Ameisenarbeit während sechzig Jahren in Kommission, Ministerrat und EU-Parlament hat die Staaten und Völker Europas, die sich jahrtausendelang bekämpften, einander dermassen nahegebracht, dass heute schon nur der Gedanke an einen Krieg unter ihnen nicht mehr exisitiert. Zwei Generationen nach 1945 haben noch gewusst, dass das der EG zu verdanken ist, den Jüngeren ist Frieden und Wohlstand so selbstverständlich geworden, dass sie das nicht mehr sehen. Der Friedenspreis für die EU hätte sein grösstes Verdienst, wenn er diese Jüngeren zum Nachdenken darüber bringt, dass ihnen dieser Friede nicht auf immer garantiert ist, sondern dass seine Voraussetzungen – Zusammenarbeit ihrer Minister in Brüssel, Erarbeiten und Akzeptieren europäischer Harmonisierungen mitsamt ihren Einschränkungen - von jeder neuen Generation aufmerksam weiter gepflegt werden müssen.

Friede, Versöhnung, Demokratie, Menschenrechte

Der Vorsitzende des norwegischen Friedenspreiskomitees hat die grössten Verdienste der EU in vier Worten zusammengefasst: für Frieden, Versöhnung, Demokratie und Menschenrechte. Von einem militanten EU-Anhänger wären das Propagandaphrasen. Vom Friedenspreiskomitee ist das die lange durchdachte und überzeugte Würdigung der Leistung der EU für Europa.

Schweizerische EU-Gegner müssen deswegen ihre Kritik nicht aufgeben. Aber es animiert sie vielleicht, die differenzierte Wirklichkeit „Brüssels“ mit ihren Vorzügen und Fehlern etwas objektiver zu ergründen als mit den ewigen Klischees von „Demokratiedefizit“, „Zentralismus“, „Bürokratie“ undsoweiter.

Die Europäische Union erhält den diesjährigen Friedensnobelpreis. Warum nicht die NATO als nächster Preisträger? Die Liste der Preisträger ist eindrücklich. Beispiele: 2009 Barack Obama, 1989 der Dalai Lama, 1986 Elie Wiesel, 1979 Mutter Teresa, 1978 Sadat und Begin, 1973 Henry Kissinger. Ebenso die Rangliste nach Ländern: Vereinigte Staaten 21, Organisationen 21, Vereinigtes Königreich 12.

Vielen Dank, Herr Thalmann, für diesen - meines Erachtens - ausgezeichnet gut geschriebenen Beitrag! Hoffentlich mögen Ihre (weisen) Worte doch den Einen oder Anderen chronischen Meckerer in der Schweiz eines Besseren zu belehren ... .

Wissen Sie, als Ausland-Schweizer in China habe ich zunehmend Mühe damit, dieses permanente EU-Bashing meiner Landsleute "in der Heimat" mit zu verfolgen ... . Vor allem die Mitglieder und Sympathisanten der "Sünneli-Partei" schiessen da manchmal um Lichtjahre (!) am Ziel vorbei!

Zugegeben, mir wäre die Verleihung dieses Friedens-Preises an eine (natürliche) Person auch lieber gewesen ... . Nur: wer drängt sich dafür besonders auf? Die Verleihung an Charles de Gaulle oder an Konrad Adenauer - oder noch weit eher an Willy Brandt! - geht ja wohl (ad postum!) kaum. - Nein, da scheint mir die heutige EU als Ganzes doch eher passend zu sein, als vielleicht Jaques Delors, oder zB. Angie Merkel, oder der Portionen-Plauderi Nicolas Sarkozy ... !

Vermutlich haben ja genau diese Ueberlegungen das Nobel-Komite zu Verleihung des Preises an die EU als Ganzes bewogen; und der Nebebeffekt, dass damit ein deutlich sichtbarer Pflock gesetzt wird gegen das (auch in der Schweiz!) vermehrt aufkommende erz-braune Gedankengut, war sicher auch nicht unbeasichtigt.

Lieber Gruss aus der VR China, Hanspeter Lechner.

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