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16. Februar 2021

Ein Land im Umbruch – wohin?

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Ein Land im Umbruch – wohin?

Von Gisbert Kuhn, Bonn - 05.09.2016

Landtagswahlen im nordostdeutschen Bundesland Mecklenburg-Vorpommern mit katastrophalem Ausgang für die „etablierten“ Parteien und einem Triumph der „Alternative für Deutschland“ (AfD). Deutschland verändert sich politisch. Aber wohin?

Ob die paar tausend Kilometer Distanz ausgereicht haben, um für Angela Merkel die Schockwellen wenigstens ein bisschen abzudämpfen, die am Sonntagabend aus ihrer ureigenen Heimatregion an der deutschen Ostseeküste auf sie geprallt sind? Im fernen China mühte sich die Bundeskanzlerin mit Russlands Putin, dem Türken Erdogan und den anderen Lenkern der 20 wichtigsten Industrie- und „Schwellen“-Länder, die politischen wie wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme dieser Welt zu lösen, oder doch wenigstens zu entschärfen. Und ausgerechnet dabei – mitten hinein – platzten jene Zahlen aus dem Schweriner Schloss, die der Berliner Regierungschefin gnadenlos vor Augen führten, dass von sofort an nicht nur ihre eigene Zukunft in hohem Maße gefährdet ist, sondern sich der Gesamtstaat Deutschland auf dem Weg zu einem höchst ungewissen Umbruch befindet.

Es gibt nichts schönzureden

Es gibt, nach dem sonntäglichen Urnengang in Mecklenburg-Vorpommern, nichts schönzureden. Da hilft weder ein Verweis auf die geringe Einwohnerzahl (zwischen Schwerin im Westen und Swinemünde im Osten leben weniger Menschen als etwa in München), noch die ironische Erinnerung an das angebliche Bismarck-Zitat, wonach er im Falle eines Weltuntergangs nach Mecklenburg ziehen werde, „denn dort geschieht ja bekanntlich alles 50 Jahre später.“ Im Gegenteil: Das Argument mit der dünnen Bevölkerungsdichte zieht schon deshalb nicht, weil bei dieser Landtagswahl die Beteiligung mit fast 62 Prozent deutlich höher war als vor fünf Jahren und auch ausgeprägter als in den meisten anderen Bundesländern. Und was die angebliche Rückständigkeit des Landstrichs und seiner Leute anbelangt, so könnten die jetzt dort getroffenen Polit-Entscheidungen später durchaus einmal als „wegweisend“ für anschliessende dramatische Veränderungen der Bundesrepublik gewertet werden.

Was am Sonntag im Nordosten geschah, lässt sich kurz so zusammenfassen: Die CDU (Juniorpartner der Sozialdemokraten in der Schweriner Koalition) gedemütigt; mit nur noch 19 Prozent Stimmenanteil und 4 Prozent Verlusten. Die SPD (minus 5,1 Prozent) bleibt mit 30,5 Prozent zwar an der Spitze und kann wohl auch die künftige Regierung anführen, ist aber gleichwohl stark geschwächt. Die sich im deutschen Osten bislang zumeist erfolgreich als „Kümmer-Partei“ gerierte SED-Nachfolgekraft „Die Linke“ verlässt mit einem Minus von 5,2 und einem Gesamtergebnis von 13,2 Prozent ebenfalls schwer geschlagen die Polit-Wallstatt. FDP und Grüne kommen gleich gar nicht in den Landtag. Demgegenüber erschien, einem Kometen gleich, die „Alternative für Deutschland“ (AfD). 20,8 Prozent! Aus dem Stand! Zweitstärkste Kraft!

Seit langem angedeutet

So gross der von Mecklenburg-Vorpommern ausgehende Schock auf der deutschen Politbühne auch ist, vom Himmel gefallen ist die Entwicklung freilich nicht. Schon in den vorangegangenen Regionalwahlen von Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz war der ursprünglich einmal aus einer Euro- und Europa-kritischen Professorenbewegung hervorgegangene und mittlerweile in den Rechtsaussen-Populismus abgetriftete Polit-Novize mit der Bezeichnung „Alternative für Deutschland“ deutlich ins Rampenlicht getreten. Und wenn in zwei Wochen in Berlin das neue Stadtparlament bestimmt wird, bedarf es schon heute keiner prophetischen Gabe, um dort ein ähnliches Ergebnis wie am vergangenen Sonntag vorauszusagen.

Zudem ist es selten so einfach gewesen wie jetzt, die Ursachen für die Erdrutsch-artigen Bewegungen im deutschen Wählerverhalten auszumachen. Die Gründe sind erstens, zweitens, drittens, viertens und… in der seit der unkontrollierten Öffnung der Grenzen vor genau einem Jahr betriebenen Flüchtlingspolitik zu finden. Als Hauptschuldige gilt eine Person als ausgemacht: Bundeskanzlerin Angela Merkel. Längst hat sich im Lande ein gefährliches Gemisch entwickelt aus berechtigter Kritik an Fehlern und Versäumnissen, nachvollziehbaren Befürchtungen vor kulturellen wie religiösen Konflikten mit Teilen der Zuwanderer sowie aber auch völlig irrationalen und kaum zu begreifenden Ängsten vieler Alteingesessener, die „Zeche für die Fremden“ zahlen zu müssen und selbst an den sozialen Rand der Gesellschaft gedrängt zu werden.

Sammelbecken der Wut

Das alles hat sich aufgestaut und vermischt in einem Sammelbecken von Wut und Frustration, gegen die rationale Argumente und Sachaufklärung inzwischen ganz offensichtlich machtlos sind. Auch dafür bietet gerade Mecklenburg-Vorpommern ein gutes Beispiel. Kein anderes deutsches Bundesland weist – gemessen an der Einwohnerzahl – eine so geringe Menge (nämlich 22'000) von Flüchtlingen und Asylsuchenden auf. Dennoch hat während des Wahlkampfs der Begriff „Flüchtlingspolitik“ wie kein zweites Wort die Menschen in Wallung gebracht. Die Frustration, wiederum, erwächst dem während der vergangenen Monate steigenden Unwohlsein vieler Bürger, dass die politischen und auch medialen Eliten im Staat ihre Sorgen wegen der Zuwandererzahlen wie auch der nur schwer erkennbaren Lösungsansätze und  Probleme nicht ernst nehmen.

Und das gilt keineswegs nur für bestimmte Gruppierungen in der Gesellschaft. Die von den Demoskopen ermittelten Wählerbewegungen beweisen zwar auch die These von der AfD als Sammelbecken nationalistischen und rechtsradikalen Gedankenguts (so hat sie in Mecklenburg-Vorpommern die bis dahin im Landtag vertretene NPD praktisch aufgesaugt), aber eben keineswegs nur dies. Denn massiven Zulauf erhielt sie genauso von (bis dahin) treuen Anhängern aus CDU, SPD und (sic!) der Linken. Das bedeutet doch wohl nichts anderes, als dass grosse Teile der Bürger kein Vertrauen mehr haben in die Gestaltungskraft und den entsprechenden Willen der „alten“ politischen Kräfte. Also ging es nur noch darum, den Massenprotest zu manifestieren – komme, was das wolle.

Die „Andockstation“ für Wut und Protest

Ein kluger Beobachter der deutschen Politszene hat – vor diesem Hintergrund – die AfD als „Andockstation“ von Bürgerwut und -protest bezeichnet. Tatsächlich kann sie sich im Moment innerparteilich so ziemlich alles an Verhaltens-Auffälligkeiten und Pannen leisten, was im Normalfall Negativergebnisse auslösen würde. Der AfD schadet nicht der seit Monaten in aller Öffentlichkeit ausgetragene Macht- und Richtungskampf, man übersieht auch gewollt die rechtsextremistischen Tendenzen und die esoterischen Spinner sowie ihre Magnetwirkung auf die diversesten Weltverschwörungs-Theoretiker.

Das wird wohl auch noch ziemlich lange Zeit so bleiben, wenn die anderen – demokratischen – Kräfte keine überzeugenden Antworten darauf finden. Bloss: welche? Noch am Wahlabend erinnerte der grüne Bundestagsabgeordnete Cem Özdemir sowohl die eigenen Parteifreunde, nicht zuletzt aber vor allem auch die Sozialdemokraten, „dass wir doch alle die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin massiv unterstützt haben.“ Angesichts dieser Mahnung klingt die massive Kritik von SPD-Chef Gabriel an den angeblichen oder auch tatsächlichen Fehlern Merkels besonders hohl. War es denn nicht gerade die SPD, die am lautesten alle Forderungen und Mahnungen aus München zurückgewiesen hatte, man müsse den Zustrom deckeln und vor allem die Flüchtlinge kontrollieren und registrieren?

Die Zukunft Merkels

Wer vor einem Jahr bezweifelt hätte, Angela Merkel werde zwölf Monate später vielleicht an ihrem politischen Abgrund stehen, wäre vermutlich nicht ernst genommen worden. Damals befand sie sich – Partei- und Personen-übergreifend – im Zenit ihrer Popularität. Unabhängig davon, dass ihr Wort vom September 2015 wirklich nicht die Flüchtlingswelle aus dem Nahen Osten ausgelöst hatte (Hunderttausende befanden sich ja bereits in Ungarn ), wird ihr so oder so die Hauptverantwortung dafür aufgebürdet. Die Umfragewerte sprechen dabei eine beredte Sprache. Und zwar sowohl hinsichtlich ihrer Person als auch der von ihr geführten und repräsentierten Partei – der CDU. Man darf daher getrost jede Wette eingehen, dass die Frage nach dem künftigen Parteivorsitz wie nach der nächsten Kanzlerkandidatur als Folge der Wahlschlappe von Schwerin schon in Kürze losbrechen wird. Freilich, wer bietet sich als Alternative an, und wer wäre bereit, schon jetzt den Finger zu heben? Zumal das Personalangebot mehr als dünn ist.

Deshalb spricht durchaus einiges dafür, dass die unter Druck stehende Kanzlerin versuchen könnte, wieder einmal das Ruder umzulegen und mit ihrer Partei auf einen neuen Kurs zu gehen. Ein Kurs, der sich freilich vielleicht schnell als der alte entpuppen könnte. In den Augen nicht weniger ihrer Parteifreunde nämlich hat Merkel in dramatischer Weise eine „Entkernung“ der CDU dergestalt zugelassen, dass frühere, zentrale Kompetenzen entweder verschwunden oder für das Parteivolk nicht mehr zu erkennen sind. Das gilt für Bereiche der Sicherheit (Bundeswehr und Wehrpflicht), Energiepolitik (erst ja, dann nein zum Fortbestand von Kernenergie), für die Europapolitik usw.

Ein spannendes Jahr

Natürlich steht auch die gebeutelte Sozialdemokratie vor ähnlichen Problemen. Sie muss gleichermaßen die Führungsfrage klären. Die Öffentlichkeit jedoch wird besonders gespannt den Ausgang der K(andidaten)-Debatte bei den Christdemokraten und -sozialen verfolgen. Denn angesichts der von Mecklenburg-Vorpommern ausgehenden Turbulenzen, steht Deutschland und stehen die Deutschen vor dramatischen Entscheidungen.

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Es ging hier nicht nur um die "Flüchtlinge", sondern auch um die seit 2 Jahrzehnten nicht gehaltenen Versprechungen der CDU. In den meisten Orten gibt es nur wenige Jobs und daher Abwanderung. Dazu eine schlechte Infrastruktur bei Post, Schulen, Kitas etc. Derweil erzählen die Konservativen etwas von tollen Wirtschaftszahlen, Willkommenskultur und schönen Landschaften. Die "Flüchtlinge" sind bei den meisten AfD-Wählern nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Und seitdem selbst die LINKE ähnliche Positionen wie die CDU vertritt, ist sie für diese Leute als Protestventil gestorben.

Lieber Herr Kuhn, nicht alles was nichtt linksgrün oder linksextrem ist, ist rechtsaußen. Rechts von linksextrem und linksgrün ist die Mitte.

Geschätzer Herr Kuhn, wiewohl wir das politische "Heu" wohl nicht ganz auf der gleichen Bühne haben dürften; Ihre Artikel zum Zustand Deutschland's sind inhaltlich und, beinahe mehr noch, sprachlich immer lesenswert. Herzlichen Dank, M. Brönnimann

Mit den jetzigen Parteien wird kein Ruder mehr herum gerissen. Es wird weiter so gehen: "Wir schaffen das". Wer es nicht glaubt, muß nur die Rede in China des "Gemerkels" anhören.

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