Empörung

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Empörung

Von Stephan Wehowsky, 12.03.2019

Die Geste der Empörung ist zu einer Modeerscheinung geworden und wird dadurch banalisiert. Das Ergebnis ist alles andere als harmlos.

Empörung war zunächst ein letztes Mittel oder eine letzte Ausdrucksform der Selbstbehauptung, wie die Sozialgeschichte lehrt: Am Anfang stand der noch vage Eindruck, dass irgendetwas nicht stimmt, dann wuchsen Zweifel und Nachfrage, und am Ende brach die Empörung aus. Das galt für den Einzelnen ebenso wie für Gruppen. In dem Masse, wie sie gegen Missstände antraten, schärften sich die Konturen der Gegner und damit die eigene Identität.

Der Stoff der Revolution

So verliefen Revolutionen: Lange Zeit hungerte das Volk und dann empörte es sich gegen den Hunger. Was ursprünglich wie ein gottgewolltes Schicksal erschien, wurde ab einem bestimmten Zeitpunkt als eine Willkür der Mächtigen identifiziert, für die es keinerlei Rechtfertigung gab und die es schlicht und einfach zu beseitigen galt. So entstanden jene Umwälzungen, auf die Europa bis heute stolz ist.

Empörung steht also am Ende einer Eskalationsspirale. Ein gutes Beispiel dafür bietet auch heute noch die katholische Kirche. Am Anfang stehen die Gläubigen, die dem Dogma und der Hierarchie folgen. Irgendwann kommen sie an den Punkt, von dem an ihnen die Regeln und Handlungsweisen der Bischöfe und Priester nicht mehr einleuchten. Es entstehen Zweifel. Und wenn die Zweifel nicht beseitigt werden können oder der Klerus eklatant und unabweisbar versagt, kommt Empörung ins Spiel. In ihr ballen sich Glaubenszweifel mit existentieller Wut.

Nimbus des Edlen

Wir meinen entsprechend gelernt zu haben, dass diejenigen, die sich empören, im Recht sind. In weiten Teilen der Geschichte ist das völlig klar: Wer aufgrund ungerechter Herrschaft hungert oder von gewissenlosen Eliten in Kriegen verheizt wird, tut gut daran, sich dagegen zu empören und in der Folge dagegen anzugehen. Herz und Verstand weisen den richtigen Weg.

Dem Modus der Empörung haftet bis heute dieser Nimbus an. Alles aber wandelt sich im Laufe der Zeiten. So auch die Empörung. Nach und nach wird sie zu einer ganz alltäglichen Emotion, die keinerlei Entwicklung oder Begründung mehr bedarf. Umso mehr lässt sich mit ihr Zustimmung erzielen und Geld verdienen. PR-Leute, Journalisten, Werber und Politiker wissen das ebenso gut wie marktorientierte Künstler.

Wem es heutzutage gelingt, die Empörungsbereitschaft der Zuhörer oder Konsumenten zu mobilisieren, hat gewonnen. „Emotion“ und „emotional“ sind zu grossen Schlagworten in der Werbung geworden. Und Medien können ihre Resonanz beziehungsweise ihre Erfolge an dem Mass bemessen, in dem sie Empörungsbereitschaft mobilisieren. Politiker, die mit „Argumenten“ überzeugen wollen, ernten vor diesem Hintergrund bestenfalls ein dünnes Lächeln.

Argument und Emotion

Wer Empörung mobilisiert, gewinnt, und wer sich empört, hat recht. Niemand, der sich empört, muss von der Sache etwas verstehen, denn die Empörung beglaubigt sich selbst. Kein Argument reicht an die emotionale Tiefe einer Empörung. Man kann das für sich selbst an vielen Themen ausprobieren: Jedes Mal, wenn man versucht, Erklärungen für die beklagenswerten Zustände unserer Welt und die Schwierigkeiten ihrer Überwindung zu finden, sieht man die sich senkenden Daumen und spürt die emotionale Ablehnung: schon verloren!

Früher haben Literaten, Maler, Regisseure und andere Künstler wunderbar mit Sexualität provozieren können: Schon empörte sich das Bürgertum. Die Auslöser für Empörung sind heute anders. Da genügt es, dass sich Professoren mit Themen beschäftigen, von denen ihre friedliebenden Studenten nichts hören wollen: Konflikte, Krieg, militärische Bündnisse oder ethnologische Forschungen, die nicht zum derzeitigen Gender-Mainstream passen.

Empörende Diskurse

Damit hat sich die Empörung selbst gewandelt: Sie richtet sich nicht mehr gegen unzumutbare Lebensbedingungen, sondern gegen Diskurse, die als unpassend empfunden werden. Die Empfindlichkeit hat zugenommen, und das Spiessertum erscheint in neuer Gestalt. Die heutigen Spiesser empören sich über alles, was nicht in ihre Schemata passt. Am meisten empören sie sich gegen die Zumutungen des Denkens.

Denn die Zumutung des Denkens zielt darauf, dass der Denkende noch nicht alles weiss und sich im Zuge seines Denkens verändern muss. Damit aber stehen seine Überzeugungen zur Disposition. Dagegen richtet sich der heute nicht nur im Internet grassierende Empörungsmodus. Denn da steht die Überzeugung fest und die darauf basierende Empörung auch. Es gibt nichts Heiligeres als die eigene unhinterfragbare Überzeugung. Wer es wagte, daran zu rühren, weckt keine Zweifel, sondern nur neue Empörung: Wir werden nicht ernst genommen!

Die Instrumentalisierung

Der Kulturbruch durch den modernen Empörungsmodus ist viel gravierender, als die meisten Intellektuellen ahnen. Empörung läuft heute nicht mehr wie früher über die Stufen der Zweifel, Nachfrage und der anschliessenden Rebellion. Jetzt steht die Empörung ganz am Anfang. Damit bezieht sie ihre Energie aus einer Überzeugung, die sich durch keinerlei Information irgendwie verändern würde. Die Zeit der intellektuellen Diskurse ist vorbei. Das ist kein Grund zur Empörung. Das ist eher zum Verzweifeln.

Denn inzwischen sehen wir auch, wie Politiker, denen nur an der Zementierung ihrer Macht und der Vermehrung des Reichtums ihrer im Hintergrund agierenden Klientel gelegen ist, den Empörungsmodus instrumentaliseren. Sie nehmen die Emotionen unterprivilegierter Gruppen auf und verleihen ihnen die Tonart der Empörung. Die Empörten glauben, in ihnen ihre Fürsprecher gefunden zu haben. Und sie haben kein Mittel dagegen.

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Empörung wurde gezielt zum Instrument der Funktionselite umfunktioniert. Die Orwellschen Schreckensvisionen des „2-Minuten-Hass-Rituals“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Zwei_Minuten_Hass) oder der „Hass-Woche“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Hass-Woche) werden real: Für die Masse unmerklich steigt der soziale Druck, „gemeinsam“ (ganz wichtig) „Gesicht zu zeigen“ gegen „rechts“, Putin, Trump oder wer auch immer gerade als Hassobjekt vorgegeben wird. Wer sich da ausschließt, „gehört nicht mehr dazu“, „hat bei uns keinen Platz mehr“ und ähnliche Phrasen. Bereits das In-Frage-stellen der fortwährend emotionalen Skandalisierung unliebsamer Positionen erregt den Verdacht, es insgeheim „mit denen" zu halten.
Statt rationalem Diskurs emotionaler „Entenquak“ „engagierter“ Gutdenker*nnen, welche darauf verzichten, sich aus eigener Anschauung ein Bild zu machen und dies zu reflektieren - das Mainstream-Zerrbild könnte zusammenbrechen und der Gedankenstrom in gefährliche Bereiche kommen. Lieber greifen sie stattdessen auf vorgestanzte Denkschablonen und repetieren „mutig“ das, was alle anderen auch repetieren, weil es ihnen vom sozio-kulturellen Mainstream souffliert wird.
Das Entstehen der verblödeten Proles-Masse durch grenzdebile Medien-Dauerbeeinflussung dürfen wir wohl gerade erleben, ebenso entsteht ein „Wahrheitsministerium“, diesmal informell als politisch-medialer Komplex aus Sendern und Parteien, Printmedien und Stiftungen. Das freie Internet soll kontrolliert werden, Ex-IM Kahane errichtet Online-Pranger für Unliebsame, „Framing-Manuals“ kursieren als Geheimanweisungen bei den Sendern. Fernsehbeiträge über „Moslem-Friedensdemonstrationen“ oder Interviews mit dem Tübinger OB werden bereits offen gefälscht, ohne dass dies die Öffentlichkeit großartig interessieren würde.
Frieden ist Krieg, Krieg ist Frieden: Die Phrasen der Herrschenden nachzuplappern gilt als „mutig“, wer vorgestanzte Denkschablonen übernimmt, als „mündig“. Wer legal frei seine (unbequeme) Meinung äußert, gilt schnell als „umstritten“ und „fragwürdig“, da angeblich „Fake-News“ produzierend.

Ein weiterer Punkt: der „globale Krieg gegen den Terror" [seit 2001 (!)] ist alltäglich geworden. „In Orwells Welt führen die drei Supermächte nur noch begrenzte Kriege an der Peripherie. Es genügt ihnen, um die Bevölkerung dazu zu bewegen, sich mit Armut und Mangel infolge des „Kriegszustandes“ zufriedenzugeben. Da dies im Interesse aller drei Regierungen liegt, verhindert es den großen Krieg zwischen ihnen. Dass sie ständig ihre Bündnispartner wechseln, ändert daran nichts. Die Situation sichert die Herrschaft jener Supermächte, die unfähig und unwillig sind, die Bevölkerung angemessen zu versorgen. Um zu unterstreichen, dass die Bevölkerung sich mit dem Zustand zufriedengeben kann (und muss), verbreitet die Partei den Slogan „Krieg ist Frieden“, wobei Frieden der stets erwünschte und zu erreichende Zustand ist, der regelmäßig in der „Berichterstattung“ der Partei in „greifbare Nähe rückt“ (aus: https://de.wikipedia.org/wiki/1984_(Roman)#Krieg_ist_Frieden ).

Lieber sich Empörende als Emporkommende (von Emporkömmling).

Dieser durchaus lesenswerte Artikel verdient es, doch hinterfragt zu werden. Die beiden Begriffe 'Empörung' und 'Revolution' werden kaum differenziert, obwohl riesige Unterschiede vorhanden sind.
Dann wird behauptet, die Empörung stehe heute direkt am Anfang (an welchem Anfang?) eines möglichen Problems. Hier hätte ich gerne konkrete Beispiele, wo das der Author festgestellt hat.
Die 'me too' Bewegung kann kaum damit gemeint sein, die überaus berechtigten Empörungen in der römisch-katholischen Kirche ebenfalls nicht, die Demonstrationen der Jugendlichen gegen die Auswüchse, welche zur Klimaveränderung beitragen, resp. gegen Politiker und Wirtschaft, welchen der schnelle Profit über alles geht und denen es gleichgültig ist, eine zerschlissene Erde und soziale Unruhen unseren Kindern zu hinterlassen, ebenfalls nicht.
Welche anderen Beispiele sind denn gemeint?

Lieber Herr Schwab

Mir fallen auf Anhieb gar ein paar Beispiele ein:
Selbstbestimmungsinitiative, Hornkuh-Initiative, Ausschaffungsinitiative, Minarettinitiative, Abzockerinitiative....

In diesen Abstimmungskämpfen war Empörung ein wichtiges Gut... und irgendwie wichtiger als Argumente.

Oder schauen Sie sich bloss mal Diskussionen um den Klimawandel an.

Da werden Argumente bloss noch mit Empörung abgekocht.

Lieber Herr Michel
nach Ihrer Ansicht fundieren 5 Initiativen zu einem wesentlichen Teil auf Empörung. Ich weiss nicht, ob sie sich schon selbst für die Realisierung einer Initiative eingesetzt haben. Dies bedeutet enormes persönliches Engagement, Zeit und Geld. Empörung allein reicht bei weitem nicht, um ein Anliegen in eine Initiative zu überführen. Es gehören also Überzeugungen und auch handfeste Interessen dazu (welche man selbstverständlich nicht zu teilen braucht).
Gerne wird die Empörung schlecht geredet. Dem ist aber nicht so. Die Empörung ist eine sehr direkte Äusserung des Gewissens und die Menschen täten gut daran, darauf zu achten. Allerdings gibt es viele, die nach folgender Maxime leben: Mein Gewissen ist rein - ich habe es noch nie gebraucht. Das Gewissen reagiert fein auf Ungerechtigkeiten im sozialem, moralischen und ethischen Bereich.
Alle 5 von Ihnen erwähnten Initiativen bringen, aus der Perspektive der Initianten, eine zu grosse Ungerechtigkeit zu Tage, welche eben durch die Initiative verkleinert oder gar behoben werden soll.
Da zum Glück nicht alle Menschen dieselbe Perspektive haben, kommt es in der Folge zu einem Ringen, zu Auseinandersetzungen mit sachlichen und emotionalen Gründen und führt in einer Demokratie zu einem lebbaren, tragfähigen Kompromiss.
Diese Kompromissfähigkeit ist ein wesentlicher Grund, weshalb es uns in der Schweiz gut geht. Man sollte das alles nicht nur mit einer negativ gefärbten Empörungsbrille beurteilen, und ganz besonders die aktuelle Auseinandersetzung um konkrete Entscheide und Handlungen im Klimabereich basieren nicht nur auf Empörung, sondern sind Ausdruck einer tiefen Besorgnis, dass der Lebensraum unserer Kinder und Enkel zerstört wird. Und das ist Ungerecht und auch dumm.

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