Glauben an eine russische Demokratie

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Glauben an eine russische Demokratie

Von Reinhard Meier, 24.12.2018

Die unlängst verstorbene Bürgerrechtlerin Ljudmila Alexejewa gehörte zu den bekanntesten Kritikern des Putin-Regimes. Aber sie blieb überzeugt, dass ihr Land sich bald zu einer Demokratie entwickeln werde.

Ljudmila Alexejewa ist Anfang Dezember in Moskau im biblischen Alter von 91 Jahren gestorben. Die kleine fragile Frau zählte zu den prominentesten und am meisten respektierten Figuren der heterogenen und häufig zerstrittenen Bürgerrechtsbewegung in Russland. Ihr Prestige verdankte sie nicht zuletzt dem Umstand, dass sie schon während der diktatorischen Sowjetherrschaft zu den Aktivistinnen der damaligen Dissidenten (alles andere als eine kompakte Bewegung) gehört hatte. 1976 gründete sie mit Gesinnungsfreunden die Helsinki-Gruppe, die Menschenrechtsverletzungen dokumentierte und dagegen protestierte.

Putins rote Rosen zum Begräbnis

Ein Jahr später wurde Ljudmila Alexejewa vom Breschnew-Regime zur Ausreise aus der Sowjetunion gezwungen. Sie lebte mit ihrer Familie mehr als anderthalb Jahrzehnte in den USA und veröffentlichte dort mehrere Publikationen über die russische Menschenrechtsbewegung.  Nach der unerwarteten Auflösung des Sowjetreiches kehrte sie 1993 in ihre Heimat zurück und engagierte sich für den Aufbau zivilrechtlicher Organisationen. Während Putins Präsidentschaft wurde sie als Mitglied in den russischen Menschenrechtsrat berufen.

Diese Beförderung hinderte die unerschrockene kleine Frau indessen nicht daran, Putins Methoden, die nach seiner zweiten Präsidentschaft immer autoritärer wurden, scharf zu kritisieren. Obwohl Ljudmila Alexejewa selbst in der Krim geboren war, prangerte sie die Annexion der Halbinsel im Jahre 2014 in aller Öffentlichkeit als Völkerrechtsbruch und dessen offizielle Begründung als frivole Lügen an.

Interessanterweise bezeugte ihr Putin trotzdem demonstrativen Respekt. Er besuchte sie – begleitet von Kameras – in ihrer Wohnung, um ihr zum 90. Geburtstag zu gratulieren. Auch bei der Trauerfeier liess es sich der Kremlchef nicht nehmen, persönlich zu erscheinen und einen Strauss roter Rosen niederzulegen. Solche Gesten sind gewiss auch auf innen- und aussenpolitische  Wirkungen kalkuliert. Sie sind zugleich ein Hinweis darauf, dass die politischen Verhältnisse im heutigen Russland um einiges komplexer und durchlässiger geworden sind als zu den Zeiten der Sowjetherrschaft, wie sie Ljudmila Alexejewna noch unter Stalin, später während  Chruschtschows sogenanntem Tauwetter und dann Breschnews Stagnationsjahren erlebt hatte.

Totalitäre und autokratische Herrschaft

Die verstorbene Bürgerrechtlerin war trotz aller beherzten Kritik an den politischen Zuständen in der Ära Putin klarsichtig genug, die Unterschiede zu den sowjetischen Repressionsmethoden nicht zu verwischen. Totalitäre und autoritäre Herrschaftssysteme sind nicht das Gleiche. Bei aller Kritik, so betonte sie 2013 in einem Interview mit der «New York Times», seien heute die Zustände doch viel besser als zu den sowjetischen Zeiten. Als sie als Bürgerrechtlerin begonnen habe, habe niemand geglaubt, dass die Sowjetunion je auseinanderbrechen würde. «Die Geschichte ist lang, aber die individuelle Lebenszeit ist kurz», fügte sie hinzu.  

Selbst nach der Annexion der Krim und Putins militärischer Einmischung in der Ostukraine im Jahre 2014 hielt Ljudmila Alexejewa an ihrer Voraussage fest, Russland werde bis 2017 einigermassen demokratisch sein. Vielleicht werde sie sich um ein paar Jahre irren, aber sie werde ihre Voraussage nicht ändern. Und dann erinnerte sie an ihren einstigen dissidenten Mitstreiter Andrei Amalrik, der 1969 im Westen eine Schrift mit dem Aufsehen erregenden Titel «Kann die Sowjetunion das Jahr 1984 erleben?» veröffentlicht hatte. Die Antwort lautete: wahrscheinlich nicht. Sie habe Amalrik damals ausgelacht, sagte die fast 90-jährige Alexejewa in einem Gespräch. Die Sowjetunion ist dann 1991, also sieben Jahre nach 1984, tatsächlich auseinandergebrochen.

Gut möglich, dass auch Ljudmila Alexejewa Demokratie-Voraussage bestätigt werden wird – wenn auch mit Verzögerung, wie im Fall von Amalriks Prognose.

Aus der Sicht der US-Eliten ist es sicher sehr frustrierend, dass der totgeweihte russische Bär plötzlich lebendig ist und – mehr noch: sich dagegen wehrt, dass ihm die Zähne und Krallen gezogen werden und der Todesstoß verpasst wird.

Ich gebe all denen recht, die immer schon verstanden haben, dass es den Vereinigten Staaten nach dem Zerfall der Sowjetunion im Umgang mit Russland nicht auf Güte und Wohltätigkeit ankam, sondern auf Einhegung und „anschließende Beherrschung“.

Es wird ja viel gelogen, die USA hätten nach dem Zerfall der Sowjetunion nur eines im Sinn gehabt: Russland durch humanitäre Hilfe und guten Rat in die Marktwirtschaft, den Wohlstand, die Freiheit und Demokratie zu führen.

Diese professionell verbreitete Lüge sollte die Russen dazu bringen, sich dessen zu schämen, dass sie einen Wladimir Putin als Präsidenten gewählt haben, der nun – entgegen den Regeln der US-dominierten Weltordnung – sein Land wieder stärkt.

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