Mario Fehr hat recht

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Mario Fehr hat recht

Von Daniel Woker, 13.08.2016

Der SP-Politiker Mario Fehr hat recht: Vollverschleierung ist frauenfeindlicher Bedouinenbrauch, keine Ausübung von Religionsfreiheit

Zunächst einige Definitionen, damit klar ist, worüber wir hier sprechen und wo was herkommt. Eine Burka ist ein Ganzkörperschleier, essenziell ein über den ganzen Körper – den Kopf  eingeschlossen – gestülpter Sack mit kleiner, einseitiger Öffnung für die Augen. Er wird in konservativ-islamischen, ländlichen Gebieten getragen, speziell in Afghanistan und Pakistan. Ein Niqab ist ein Brust- und Kopfschleier, der ebenfalls völlig verhüllt mit ähnlicher Öffnung wie der Burka; er wurde bis vor kurzem, wenn überhaupt, nur auf der konservativ-islamischen arabischen Halbinsel getragen.

Kommt im Koran nicht vor

Beide wurden unter einem extrem reaktionären Grosssultan des osmanischen Reiches in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eingeführt. Beide kommen im Koran ebensowenig vor wie ein Keuschheitsgürtel in der Bibel.  Ebenso wie dieser ist die weibliche Vollverschleierung ein von männlichem Machismo diktierter Brauch, dem im Nachhinein ein Religionsmäntelchen umgehängt worden ist.

Beim Hijab, im Iran auch Tschador genannt, sieht das etwas anders aus. Ebenfalls ein Brust- und Kopftuch, lässt dieses, unter Verhüllung der Haare, ein Oval frei, wo das gesamte Antliz sichtbar bleibt. Ob Hijab, ursprünglich die Trennung zwischen Frauen- und Männerteil in arabischen Bedouinenzelten, ein vom Propheten gewolltes Religionsgesetz zum Tragen dieser Teilvermummung der Frau darstellt – etwa dem christlichen Verbot, am Freitag Fleisch zu essen  vergleichbar -, ist unter islamischen Religionsgelehrten umstritten.

Niqabs neuerdings auch in Europa häufiger

Tatsache ist, dass auch das Tragen des Hijab in der Geschichte des Islam sehr unterschiedlich gehandhabt worden ist. Bis in die 1960er  Jahre des 20. Jahrhunderts trugen sehr zahlreiche Frauen des arabischen Stadtislam – im Gegensatz zum ländlichen Wüstenislam der Halbinsel – ihre Haare offen. Kurze Röcke waren in Ägypten, Syrien und dem Irak keine Seltenheit. Ganz zu schweigen von Kleidern, die von Frauen in nicht-arabischen islamischen Ländern getragen wurden, von Indonesien und Malaysia über den Iran bis in die Türkei. Atatürk hatte in der modernen türkischen Republik das Tragen des Kopftuches sogar formell verboten, was erst unter dem konservativen Sunni Erdogan praktisch ins Gegenteil verkehrt worden ist. Ebenso im Iran beim Übergang vom Schah zum Mullah-Regime.

Burkas sieht man in Europa, und damit auch in der Schweiz, tatsächlich  selten. Ein „Burkaverbot“ im strengen Wortsinn erscheint damit sinnlos. Etwas anders sieht es aus, und dies in zunehmendem Masse, mit Bezug auf den Niqab. Seit wenigen Jahren, ja Monaten, hat sich hier das Bild stark verändert. Sowohl muslimische Flüchtlingsfrauen aus konservativ-ländlichem Milieu, als auch Touristinnen von der arabischen Halbinsel tragen diesen nun auch bei uns. Wohl aufs Ganze gesehen noch relativ selten, treten so vollverschleierte Frauen mitunter konzentriert auf. Im Zentrum des Touristenortes Interlaken beispielsweise trifft man heute im Sommer nicht mehr auf vereinzelte, sondern Dutzende von Niqab-Trägerinnen.

Eine Person ohne Gesicht existiert nicht

Dies kann auf die Dauer nicht gut gehen. Einmal weil Vollverschleierung die im Europa des 21. Jahrhunderts, und damit auch in der Schweiz, sehr grosszügig gezogene Toleranzgrenze individuellen Verhaltens nach unten durchstösst. Eine Person ohne Gesicht existiert nicht, weder im persönlichen noch im behördlichen Verkehr. Vollverschleierung ist sowohl eine gravierende Verletzung der individuellen Rechte der Trägerin, als auch eine freche Herausforderung an alle jene, welche sich mit einer solcherart künstlich geschaffenen Anonymität auseinander setzen müssen.

Vollverschleierung  ist damit in der Öffentlichkeit nicht zuzulassen, was auch für Touristinnen gilt, so sehr dies hiesigen, kurzfristig kalkulierenden Kurdirektoren missfallen mag. Genauso wenig wie Vollkörperkleidung beim Bad in öffentlichen Badeanstalten, Dispensation vom Turn- und Schwimmunterricht von Mädchen oder der verweigerte Handschlag von Knaben gegenüber der Lehrerin. Das sind  Verstösse gegen Grundregeln unseres Contrat social, welche zudem das Fehlen von Integrationsbereitschaft, oder auch nur gemeiner Höflichkeit signalisieren.

Wasser auf die Mühlen der Nationalkonservativen

Weiter kann dies nicht gut gehen, weil hier ein Fehlen staatlicher Regelungen die nationalistisch-konservative Rechte in unseren Ländern geradezu herausfordert, in allgemein xenophobem Sinn tätig zu werden. Dass dies der SP-Politiker Mario Fehr sieht und sich damit bewusst gegen ideologisch betriebsblinde Parteifreundinnen und -freunde stellt, ist ihm hoch anzurechnen.

Vollverschleierung zu tolerieren ist schliesslich, wie eingangs erwähnt, auch mit Blick auf die Freiheit zur Ausübung der eigenen Religion keineswegs angezeigt. Im Gegenteil, je schneller alle schweizerischen Muslime sich von der gegenwärtigen globalen Zwangsjacke eines erzkonservativen Islams – von saudischem und türkischem Wahabismus finanzierte  Moscheen und Schulen, deren Irrlehren via social media weltweit verbreitet werden – befreien, desto besser.

Der Islam ist in der Schweiz wie fast überall in Westeuropa angekommen und wird hier auch  bleiben. Diesen modern und integrativ zu gestalten bleibt eine grosse Herausforderung. Frauenfeindliche Bedouinenbräuche bei uns zu verbieten ist ein – bescheidener – Anfang.

Burkas, mit dem Stoffgitter vor den Augen, sieht man der Schweiz praktisch nie. Frauen verhüllt mit dem Niqab, bei dem man nur noch die Augen sieht, habe ich in Zürich sehr selten gesehen. Warum diese Mode einiger Frauen die hier Ferien machen verbieten? Will man an der Fasnacht auch noch die Masken verbieten? In Saudiarabien und den Golfstaaten gibt es Schlimmeres als die Verschleierung, unter anderem der Krieg der diese Staaten im Jemen führen.

Warum werden die Rüstungsexporte an all die Staaten die Frauen diskriminieren und Kriege führen nicht gestoppt? Zum Beispiel nach der von Saudiarabien geführten Militärkoalition, die im Jemen Krieg führt? In dieser Koalition sind neben Saudiarabien unter anderem Bahrein, Katar und die Arabischen Emirate dabei, gute Kunden der Schweizer Kriegsindustrie. Die USA betanken die Bomber Saudiarabiens bei ihren Einsätzen im Jemen in der Luft. Viele Zivilisten sind bei diesen Bombardierungen im Jemen schon umgekommen. Auch Frankreich und Grossbritannien unterstützen den Krieg im Jemen logistisch. Weshalb befasst sich das Bundesgericht mit dem Burkaverbot im Tessin, aber nicht mit den Schweizer Kriegsmaterialexporten nach Saudiarabien, den Golfstaaten und nach Nato Staaten, Länder die in den letzten Jahren immer Kriege führten, in Afghanistan, dem Irak, Libyen, Mali, Syrien, usw?

Der Verkauf von Waffen an Kriegsparteien, wie an Saudiarabien, den Golfstaaten an die USA und andere Nato-Staaten, wären klar verboten. In Artikel 5 der Kriegsmaterialverordnung wird festgehalten, dass Kriegsmaterialexporte verboten sind »wenn das Bestimmungsland in einem internen oder internationalen bewaffneten Konflikt verwickelt ist»; (Kriegsmaterialverordnung, KMV) vom 25. Februar 1998 (Stand am 1. Oktober 2015)
http://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19980112/index.htm
Grossbanken, die Nationalbank und Pensionskassen investieren sogar in Unternehmen Atombomben, Streumunition und Antipersonenminen produzieren, was nicht nur die GSOA publik machte.

Wenn es in Saudiarabien nicht Schlimmeres als den Niqabzwang geben würde, könnte man damit leben. Aber Saudiarabien führt wie schon erwähnt auch Krieg im Jemen, peitscht Oppositionelle und Blogger aus, tritt die Menschenrechte mit den Füssen. Mit der Wertegemeinschaft der Schweiz ist es anscheinend vereinbar das hiesige Rüstungsfirmen diesem Regime Waffen liefert.

Sie haben völlig recht Herr Frei. Die Schweiz kümmert sich lieber um Burkaverbote als um Kriegsmaterialexporte. Ein Beispiel mehr, welche Scheingefechte in diesem Land geführt werden.

1. Vollverschleierung ist frauenfeindlich nur dann, wenn die Frau gegen ihren Willen verschleiert ist. Und das ist heute bereits strafbar. In diesem Sinn wirk das «Burkaverbot» sogar kontraproduktiv, indem sich die betroffenen Frauen von der Öffentlichkeit zurück ziehen werden. 2. Vollverschleierung ist keine Ausübung von Religionsfreiheit, aber grundsätzlich (solange die Freiheit anderer dadurch nicht eingeschränkt wird), eine Ausübung von individueller Freiheit: jede Person kann schliesslich selbst entscheiden, was sie anzieht. 3. «Eine Person ohne Gesicht existiert nicht, weder im persönlichen noch im behördlichen Verkehr.» Dieser Gedanke ist grundlegend, aber noch nicht wirklich klar herausgearbeitet.

«Eine Person ohne Gesicht existiert nicht, weder im persönlichen noch im behördlichen Verkehr.»
Heute, wo die "Persönlichkeit" immer mehr digitalisiert ist, scheint es mir gerade im Zusammenhang mit dem überwiegenden online Verkehr mit Behörden noch absurder, das Gesicht zu zeigen. Am Zoll/Passkontrolle übrigens zeigen die Burkaträgerinnen ihr Gesicht. Das ist auch so in islamischen Ländern.
Ein weiterer Gedanke zu ihrer interessanten Frage nach der Person/Identität, ein vielleicht unpassendes Besipiel: Denken sie an Demenzkranke: Man sieht sie, aber das Denken/Erinnern d.h.ein Teil der Identität ist nicht mehr da (eine Art innerer Schleier). Aber auch diese Menschen haben noch Gefühle. Also auch hier noch etwas grundlegend menschliches. Wie weit die Menschlichkeit im behördlichen Verkehr wichtig ist ist eine andere Frage.
Ich glaube übrigens dass viele andere Daten, welche den Behörden von uns zur Verfügung stehen in den meisten Fällen das Gesicht ersetzen und genügend Informationen über uns liefern.

Vielen Dank für Ihre wertvollen Hinweise.

Vielen Dank für diese ausführliche Klarstellung. Die Forderung nach Verschleierung, in welcher textilen Dichte auch immer, ist der Inbegriff der Intoleranz; dafür Toleranz zu fordern ein Paradox. Es geht doch überhaupt nicht darum, dem Orient im Orient Kleidervorschriften zu machen. Es geht ausschliesslich um das Tragen der Burka in der Schweiz und darum, die Unterdrückung von Menschen in diesem Land zu verhindern.

Kürzlich hat mir eine relativ betagte und viel gereiste Bekannte gesagt, die jetzt wieder in den Orient reist, dass als sie von einer Reise aus Iran zurück kam, sie plötzlich wieder vor der Kleidersorge gestanden habe. Was ziehe ich um Himmels willen an für ein Konzert oder ein Nachtessen oder...?
Ausserdem scheint es meines Erachtens tatsächlich nicht unsere Aufgabe zu sein, dem Orient Kleidervorschriften zu machen. Das ist alter kolonialistischer Bevormundungsstil.

Burkas irritieren, mancher fühlt sich unbehaglich. Aber argumentieren wir in dieser Sache nicht mit dem Bauch, sondern bitte wieder mit Verstand und Herz: Welche Werte sind hier gegeneinander abzuwägen, welcher Eingriff in die Freiheit des Andern ist gravierender: Meine kurze Irritation über das Kleidungsstück oder die grundlegende Umkrempelung der Weltanschauung der Frau bzw. Teil ihrer Identität, in dem man von ihr verlangt, die Burka nieder zulegen und ihre Bewegungsfreiheit dadurch einzuschränken? Wollen wir wirklich ein Verbot, um unsere Befindlichkeit bezüglich des Strassenbildes zu erhöhen (tangiert für evt. 3 Minuten) oder wollen wir oberlehrerhaft die Anderen belehren wie sie zu leben haben, sich zu kleiden haben? Und weil wir die Irritation nicht ertragen brauchen wir ein Verbot, gar noch in der Verfassung, weil es uns sooo wichtig ist? Weder ist die öffentliche Sicherheit noch Ordnung durch die Burka bedroht. Oder werden Burkaträgerinnen unter Generalverdacht gestellt?.

Man kann nicht alles, was einem nicht gefällt verbieten. Das unterscheidet uns von den Staaten, die wir in diesem Zusammenhang als rückständig kritisieren. Mir ist es lieber, die Frauen kommen in die Schweiz, lassen sich durch unserer ofenen und toleranten Lebensweise, auf die ich bisher stolz war, anregen, lassen sich nicht von der Reise abhalten und würden dann mit einer positiven Fremdwarhnehmung zurückkehren oder hier bleiben, ohne dass ihr Leben in unwichtigen Bereichen beschnitten wird. Genau das werfen viele ja den männlichen Muslimen vor. Wir werfen den Muslimen vor, sie beschneiden die Freiheit ihrer Frauen und machen dasselbe! Ah, nein wir befreien sie ja, denn sie können das ja nicht selber?
Und ist es an der westlichen Welt, den lange Zeit kolonialisierten Völkern zu sagen, was sie tun sollen?
Noch etwas: Eine Person ohne Gesicht existiert. Mario Fehr meinte, er könne nicht freundlich sein zu einer verschleierten Person: Tragisch und zudem unzutreffend. Wir schreiben anonym im Internet, telefonieren, schreiben SMS e.t.c.
Den Islam mit dem Verbot der Burka umzugestalten ist rechtlich, ethisch und menschlich nicht angezeigt.

Es ist doch nicht unsere Aufgabe, anderen vorzuschreiben, was sie anziehen sollen. Auch das Suchen nach der passenden Koranstelle müssen doch jene machen, die sich diesem unterordnen wollen. Wir sind doch keine Theologen, sondern Bürger, die gerne in einer freihetlich-rechtsstatlichen Gesellschaft leben wollen und soweit
Toleranz üben, als ein Verhalten keinen Schaden ausübt. Ist es bereits ein Schaden, wenn eine/zehn/hundert Frauen bei uns verschleiert herumlaufen? Worin besteht er? Am Schluss des Artikels wird zu recht gesagt, dass die Integration der Menschen islamischen Glaubens eine Herausforderung darstellt. Wenn wir einerseits unsere freiheitliche Idee bereits wegen eines Stücks Stoff verlassen und andererseits die Diffamierung des uns fremden Verhaltens als "frauenfeindliche Beduinenbräuche" diffamieren, dann sind wir schon sehr weit von unseren eigenen Idealen entfernt. Wenn wir bereits bei den Nicht-Problemen - nämlich die burkatragenden Frauen - unseren Kompass verlieren, wie wollen wir die oben beschriebene Integration - die wirklich eine grosse und wichtige Aufgabe darstellt - meistern? Es steht doch mehr auf dem Spiel, als das Stück Stoff, nämlich ein Zusammenleben zu ermöglichen, das unsere Freiheit und unsere Lebensform sichert und den Mitbürgern verschiedener anderer Lebensformen deren Bedürfnisse ermöglicht. Das braucht echte Begegnung und intensiven Austausch und auf beiden Seiten den Wunsch, Lösungen zu finden. Damit ist auch gemeint, die eigene Position mit starken Argumenten auszudrücken.- Wir haben das nach vielen Jahren mit Homosexuellen geschafft, genauso schaffen wir das mit den bald 500'000 Muslimen, die mit uns leben. Da bin ich optimistisch. Was wäre denn die Alternative?

Herr Rom ich bin mit Ihnen vollkommen einverstanden, dass wir uns primär um ein einvernehmliches Zusammenleben bemühen müssen und uns nicht bloss bei Nebensächlichkeiten und Äusserlichkeiten aufhalten sollen, die nur zu unnötigen Missverständnissen führen. Doch meiner Ansicht nach finde ich es für ein gegenseitiges Verständnis auch durchaus hilfreich, die geschichtlichen Hintergründe einer Kultur zu kennen.

Danke Herr Woker für diese Klarstellung. Im Koran ist tatsächlich nirgends eine klare Bekleidungsvorschrift für Frauen zu finden und von einer Ganzkörperverschleierung schon gar nichts.
Jahrhunderte vor Mohamed schützten sich die Bedouinen während ihren Reisen durch die Wüsten vor Sonne und Flugsand mit der entsprechenden Kleidung.
Eine solche Bekleidungsvorschrift den Frauen als islamisches Religionsgebot vorzuschreiben, entbehrt jeglicher historischer Grundlage. Es ist mir auch nicht bekannt, dass in der Frühzeit des Islam von den Musliminnen verlangt wurde, sich als Bedouinin zu verkleiden um um ihren Islam zu praktizieren.

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