Nichts gelernt
Fahren Sie einmal an einem Montagmorgen von Köln nach Brüssel. Sie werden volle Waggons finden, in denen sich Zuggäste drängeln, die sich lautstark mit „wir Europäer“ Bedeutendes oder weniger Bedeutendes zurufen. Die vorlauten Wichtigtuer sind Beamte der diversen Brüsseler Institutionen, auf dem Weg aus dem Wochenende in Deutschland zurück an ihre Arbeitsplätze in der belgischen Hauptstadt. Andere Fahrgäste aus Deutschland, Belgien oder anderen europäischen Ländern zählen ganz offensichtlich nicht zu dieser auserwählten Schar, sind offenbar keine Europäer. Sie werden wie lästige Reisende, die gute Sitzplätze wegnehmen, mit abschätzigen Blicken gemustert.
Die Arroganz dieser sogenannten Eurokraten gegenüber dem gemeinen Fussvolk erscheint wie ein Spiegelbild der Arroganz der sogenannten Europapolitiker. Sie sind es gewohnt, ihre Entscheidungen wie allmächtige Feudalfürsten über die Köpfe der Bewohner Europas hinweg zu treffen. Sie schulden niemandem Rechenschaft. Sie sind ja keinem Wähler gegenüber verpflichtet, weil sie nie gewählt worden sind. Lange Jahre wurden die Toppositionen in Brüssel mit Personen besetzt, deren einzige Qualifikation darin bestand, ein verdientes Mitglied einer Partei oder einer Regierung gewesen zu sein. In Brüssel erhielten abgehalfterte Politiker ihr Gnadenbrot.
Die Bürger Europas waren nie beteiligt an den Entscheidungen, die dort getroffen wurden. Erinnert sei hier nur an die seltsame Auswahl der 28 Kommissare, die 28 Kommissionen vorsitzen. Niemand weiss, was sie eigentlich machen. Corina Crețu, über Tibor Navracsics, Věra Jourová, Violeta Bulc oder Christos Sylianides? Schon einmal gehört, diese Namen? Offenbar tappt selbst die Presse im Dunkeln. Man liest nichts über sie. Die meisten Europäer haben keine Vorstellung davon, was dort in Brüssel eigentlich getrieben wird, wissen nicht, wie weit der Einfluss Brüssels auf Entscheidungen ihrer gewählten, nationalen Regierungen reicht, sind überrascht, wenn ein nationales Gesetz in Brüssel zurückgewiesen wird, weil es nicht mit europäischen Normen oder Rechtsvorstellungen zu vereinbaren ist. Es waren diese Zweifel und Unsicherheit über die Rolle Brüssels im Leben jedes Bürgers, die zur Entscheidung der Briten geführt haben.
Als mit der Osterweiterung im Mai 2004 gleich zehn Staaten der EU beitraten, darunter die vormals kommunistisch regierten osteuropäischen Staaten Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, Slowenien, Slowakei, Ungarn, Malta sowie das asiatische Zypern und drei Jahre später auch noch Rumänien und Bulgarien und schliesslich 2013 Kroatien, führte Brüssel die Beitrittsverhandlungen und stellte Bürger der alten Mitgliedsstaaten nach Abschluss dieser Verhandlungen einfach vor vollendete Tatsachen. Die Arroganz, mit der ihre Zustimmung oder Ablehnung ignoriert wurde, hinterliess ein unbehagliches Gefühl, zumal sich diese Entscheidungen in den Augen vieler in gefährlicher Weise gegen Russland richteten. Ungeachtet solcher Bedenken wurde gleich auch noch Georgien und der Ukraine eine zukünftige Mitgliedschaft in der EU in Aussicht gestellt.
Europa rückt zusammen, ist das geflügelte Wort, mit dem sich Politiker jeder Couleur (mit Ausnahme der populistischen, zumeist rechts orientierten Vertreter europakritischer Parteien) die Zustimmung der Wähler erschleichen. Dann wird geprahlt von offenen Grenzen, die ja längst nicht mehr so offen sind. Man rühmt die gemeinsame Währung, die freie Wahl des Arbeitsplatzes und des Wohnortes innerhalb Europas. Dass diese Freizügigkeit zumeist nur in einer Richtung verläuft, von Ost nach West, war auch einer der Gründe für die Entscheidung der Briten.
Jetzt geben sie sich erschüttert, die sogenannten EU-Spitzenpolitiker, über die Entscheidung der Mehrheit der britischen Bürger, aus der EU auszutreten. Jetzt ruft Frau Merkel zerknirscht auf, den Bürgern die Unsicherheit zu nehmen und ihnen in Zukunft Entscheidungen zu erklären. Jetzt ist auch die Stunde der grossen Worte gekommen, die aber vergessen sind, sobald sich die Aufregung etwas gelegt hat. Aufgeschreckt schwadronierte der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel von Demokratie und Bürgernähe: „Wir müssen endlich anfangen, Europa besser zu machen: demokratischer, sozialer, solidarischer und unbürokratischer… Wir brauchen schnelle Reformen für mehr Transparenz und weniger Lobbyismus. Vor allem aber mehr Demokratie und weniger Bürokratie. Und endlich eine aktive Bürgerbeteiligung.“
Doch unüberhörbar ist auch Zorn zu vernehmen, aus der europäischen Arroganz geborener Zorn über die Frechheit dieser Briten, der EU den Rücken zu kehren. Man ist beleidigt. "Wir erwarten von der Regierung des Vereinigten Königreichs, dass sie der Entscheidung der britischen Bevölkerung so bald wie möglich Wirkung verleihen“, forderten EU-Ratspräsident Donald Tusk, EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker, EU-Parlamentspräsident Martin Schulz und der niederländische Regierungschef Mark Rutte, dessen Land derzeit die EU-Ratspräsidentschaft ausübt, in einer gemeinsamen schriftlichen Erklärung. Sichtlich aufgebracht über den Eigensinn der Inselbewohner kündigten sie an: "Es wird keine Neu-Verhandlung geben."
Dieses Beleidigtsein und die gelegentlich zu hörenden Warnungen an Grossbritannien zeigen, dass Brüssel immer noch nichts gelernt hat. Immer noch wähnen sich die Brüsseler Behörden unantastbar und glauben, die Wünsche der Bürger nach besserer Information und mehr Beteiligung an den Entscheidungsprozessen ignorieren zu können. Da bleibt kaum mehr, als auf den nächsten Exit eines unzufriedenen Mitgliedsstaates zu warten.
Nicht Europa, nicht der europäische Gedanke, sondern das "real existierende Europa" ist gestorben. Auf die Frage "Was ist Europa?" gibt es viele Antworten. Jeder Brite, jeder Deutsche, Pole oder Italiener wird darauf seine eigene, nicht immer enthusiastische und nicht immer überzeugte, Antwort haben. Parallelen zu den Floskeln und den Sonntagsreden seitens der Politik wird man dabei jedoch vermissen. Politik und Menschen leben auf europäischer Ebene in zwei Welten.
Das politische Europa folgt einer marktkonformen Ideologie, ist ein Europa der Mächtigen, dem die Wünsche seiner Bürger relativ egal sind und das grosse demokratische Defizite in nahezu allen Bereichen aufweist. Selbst für bekennende Europa-Freunde wird es von Tag zu Tag schwieriger, den Traum von einem gemeinsamen politischen Europa zu verteidigen. Die Politik hat sich von den Eliten einspannen lassen, einen Kurs zu verfolgen, der gegen die Interessen der Bürger, gegen die Interessen der grossen Mehrheit, ausgerichtet ist und einer kleinen, dafür um so mächtigeren Elite nutzt.
Wie wohltuend anders, Herr Wertz, sind ihre Ausführungen zum Brexit als jene des "offiziellen Kommentatoren der Schweiz", nämlich des Herrn F. Gsteiger bei srf. Genau jene Arroganz der Eurokraten war von diesem bornierten Exemplar zu hören und schlecht zu erdulden.
Das Volk in England und der Schweiz werden ohne solche Sachverständige und ohne marode EU glücklicher. Wetten?!
Wenn nicht alles täuscht, ist Brexit der erste demokratische Staatsstreich überhaupt.
Grossbritannien, Kanada, Australien und Neuseeland haben ein privilegiertes Verhältnis zur USA (five eyes). De Gaulle, der „Europa“ in bewusster Abgrenzung zur USA als eigenständiges Gebilde sah, war klar, dass Grossbritannien diese privilegierte Stellung nie aufgeben würde, weshalb er die Engländer nicht in „Europa“ haben wollte. - Sie wurden dann dennoch aufgenommen.
Gegenüber den Bürgern Europas müssen sich die Brüssel-Europäer nicht verantworten. Gegenüber wem dann? Washington?
Als der Ostblock zusammenbrach, dehnte sich die NATO flugs aus, und die EU nahm gehorsamst die ehemaligen Satelliten auf, zwecks Absicherung der Ostflanke. - Erstaunlicherweise gleichberechtigt, ohne Vorbehalt.
Es ist verständlich, dass diese Länder, nicht mehr am Gängelband Moskaus, ihre Eigenständigkeit ausleben, ihre jüngste Vergangenheit aufarbeiten wollen. An einer Vertiefung der Integration, d.h. einer Verstärkung der Gängelung durch Brüssel, haben sie momentan kein Interesse.
Die Bürger Europas haben keine gemeinsame Sprache, weichen deshalb auf eine Sprache aus, die in einem Land gesprochen wird, das demnächst der EU nicht mehr angehören wird, haben keine gemeinsame Kultur, keine gemeinsame Vergangenheit. Nicht einmal die Werte der abendländischen Aufklärung werden geteilt. – Sich auf „christliche Wurzeln“ zu berufen ist schwach, speziell wenn es darum geht, den Säkularismus gegen den Islam zu verteidigen. Aber welcher europäische Staat ist schon säkular?
Frank-Walter Steinmeier hat gewagt darauf hinzuweisen, dass NATO-Interessen (wer bestimmt diese?), und die Interessen der EU nicht notwendigerweise kongruent sind. Offenbar eine erste Auswirkung der Kandidatur Trump. War schon der Umstand, dass Bush nochmals gewählt wurde, ein Warnsignal, beweist die Kandidatur Trump, dass die Kalkulierbarkeit der USA nicht gottgegeben ist.
Zum Brexit kann man die EU nur beglückwünschen. Sie ist ein wesentliches Einfallstor des US-Einflusses los. Die Tories haben sich nun endlich entschlossen, die EU nicht mehr von innen, sondern von aussen zu bekämpfen. Herr Cameron hätte das gerne weiter von innen getan.
Bleibt eine Aufgabe: Mr. Cameron nach den Wegfall seiner Immunität für den Aggressionskrieg gegen Libyen 2011 vor das ICC zu ziehen. Das wäre der geeignete Schlussakt in der Schmierenkomödie seiner politischen Laufbahn.
MfG
Werner T. Meyer
Erdbebenalarm!
Von London über Zürich, Frankfurt bis New York. Mitten in der Nacht kamen viele zu ihren Arbeitsplätzen in den unzähligen Finanzzentren der Welt. Gefasst auf alles was da kommen sollte. Vorahnungen machten Köpfe heiss, nach ersten Hochrechnungen deuteten Indikatoren auf einen Tsunami oder so etwas wie ein Katastrophenszenario hin. Ja, die Wellen schlugen allerorts über Pier, kamen ungebrochen über die Mole daher. Schnell war fürs Erste das Schlimmste überstanden und eine gewisse aber noch aufgeregte Normalität mündete schlussendlich in einer Art Tagesordnung. Die Insel steht noch, der Kontinent trauert, hat Blessuren, wurde fragmentiert, steht in Scheidung aber er könnte sich auch besinnen, könnte Türen offen lassen. Probieren wir`s doch Mal mit Mediation. Vielerorts kommen getrennte Paare nach gewisser Zeit wieder zusammen, aus wirtschaftlichen Gründen, weil man ohne den Anderen nicht sein kann, oder weil es einfach Sinn macht. Sowohl England wie auch Russland sind europäische Länder, selbst die Adelshäuser waren über Jahrhunderte verbandelt. Endlich ausblenden von hanebüchener Propaganda und auf Augenhöhe in harten Diskussionen wenigstens versuchen einen gemeinsamen Nenner zu finden. Einer in der Art Freihandelsabkommen der fairen Art, mit demokratisch gewähltem Gerichtshof als Entscheidungsträger… cathari
Das System des Liberalismus ist das Problem in der Welt. Der globalisierte Liberalismus steht für Sozialabbau, Lohndumping, Aushöhlung der Menschenrechte, Zerstörung jeder Form von Demokratie, von Solidarität, von sozialer Verantwortung, von Ethik, von Bildung und Kultur, Zerstörung der Umwelt.
Der Liberalismus verursacht Missstände, die schleichende Privatisierung (Gesundheitswesen, Service public etc.) macht die Staaten dienstbar für Superreiche, für Konzerne und für die Hochfinanz etc. mit Staatsgarantie bei Gewinnausfällen, sprich die Gewinne gehen an Reiche, die Verluste bezahlen die Steuerzahlenden (Bankenrettung, Umweltschäden etc.). Der durch die Steuergeschenke an die Wirtschaft und die Hochfinanz (Unternehmenssteuerreformen, Freihandelsabkommen etc.) finanziell geschwächte Staat verliert zusehends die Kontrolle und kann das Wahrnehmungsmanko des "Marktes" nicht mehr steuern und regulieren. Regierungen haben kein Geld mehr für die Grundversorgung in der Bildung und im Gesundheitswesen.
Der Einfluss von transnationalen Konzernen in den Prozess der Gesetzgebung nimmt zu, ökologische und soziale Auflagen sollen abgeschwächt oder eliminiert werden (siehe TISA, TTIP, CETA etc.). Die wirtschaftliche Macht übernimmt weiter die politische Macht.
Eine Macht übrigens, die nur auf Kosten von Frauen (Care-Arbeit, Kindererziehung, Hausarbeit, Pflege von Angehörigen etc.) existieren kann. Dass reproduktive Tätigkeiten gar nicht oder sehr schlecht bezahlt werden, ermöglicht erst das Wachstum der Märkte.