Nie dagewesene Sicht

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Nie dagewesene Sicht

Von Stephan Wehowsky, 30.10.2015

Zum Menschen als mordendem Wesen ist doch schon alles gesagt worden. Oder nicht?

Zur Buchmesse und zum Bücherherbst gab es wieder zahllose Neuerscheinungen, die sich mit den dunklen Seiten der Vergangenheit beschäftigen: Holocaust, Hitler-Stalin, Konzentrationslager, Gulag, Völkermord. Und immer wieder heisst es in den Katalogen, Werbeanzeigen und Klappentexten, die Autorin oder der Autor halte eine "atemberaubend neue Sicht" bereit.

Kann es etwas geben, das über die Schändlichkeiten der ferneren und näheren Vergangenheit noch nicht gesagt oder geschrieben worden wäre? Man darf davon ausgehen, dass keine Niedertracht unbemerkt geblieben ist. Und dass der Mensch mutig, tapfer und selbstlos auch in ausweglos erscheinenden Lebensumständen seine Grösse erweisen kann, wissen wir auch. Wozu die endlose Wiederholung von Bekanntem mit der Behauptung, es handele sich dabei um etwas Neues?

Die Sprache ist eben mehr als ein blosses Mittel zum Transport von Informationen. Sie ist ein Medium, in dem der Mensch seine Traumata bewältigen kann. Wieder und wieder müssen wir unsere Geschichten erzählen, müssen wir die Geschichten anderer hören, um uns unserer Welt zu vergewissern: Ja, so ist es gewesen, zu solchen Schandtaten ist der Mensch fähig und zu solcher Grösse kann er in Anbetracht des Schreckens gelangen. Sprache ist dafür das entscheidende Therapeutikum.

Heute wird gern gesagt, dass Bilder direkter und emotionaler wirken. Das ist aber nur halb richtig. Denn die Bilder brauchen die Erklärung. Und wir können kein Bild anschauen, ohne dass die Sprache sich einschaltet: Der da mordet, die da weint, das Kind da wird gleich sterben.

Was auf den ersten Blick wie die Routine der PR- und Marketingabteilungen der Verlage, wie die Phraseologie der Rezensenten wirkt – und es zu guten Teilen ja auch ist, erweist sich bei genauerem Hinsehen als etwas, ohne das der Mensch nicht auskommt. Ihm müssen gerade die dunklen Seiten seiner Geschichte wieder und wieder erzählt werden, damit er sich damit auseinandersetzen kann. Und das geht natürlich nur, wenn sich dabei die Perspektiven jeweils ein bisschen verschieben, denn sonst würden wir in belangloser Wiederholung erstarren.

Die alten Schrecken müssen tatsächlich immer wieder neu erzählt werden, um in den Seelen der Menschen ein Echo auszulösen und die Frage zu provozieren: Und ich, wo stünde ich?

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"Menschen als mordendem Wesen " ist einfach eine fahrlässige Generalisierung.
Menschen gleicher Bauart haben in Estland 99% der Juden dem Holocaust ausgeliefert. In Dänemark aber 99% gerettet.
MfG
Werner T. Meyer

Quelle: Black Earth: The Holocaust as History and Warning von Timothy Snyder, einem der neusten Bücher aus der vom Autor genannten Gruppe.

Ich möchte der Skepsis meines “Vor-Schreibers” Recht geben und den Optimismus des Autors in Frage stellen : Unsere Gesellschaft ist nicht mehr willens oder in der Lage über den Tellerrand hinaus zu blicken. Adrien Turel schrieb sinngemäss, wir wären blind, weil wir sehen können (Reise einer Termite zu den Menschen. Stiftung Adrien Turel, Zürich 1960 / Neuausgabe: Edition Moderne, Zürich 1983).

Tatsächlich beschäftigen wir uns nur noch mit dem Naheliegen(st)en wie Konsum und Eigentum, halt eben rücksichtslosem Egoismus : Utopien, Perspektiven oder gar Auseinandersetzungen mit solch fernen Themata : Geschenkt ! (Leider)

Vielleicht haben sie recht, Herr Wehowsky. Vielleicht muss das Schreckliche immer und immer wieder in Variationen erzählt werden. Bei der Visualisierung des Schrecklichen muss ich leider feststellen, dass es nicht eine Wirkung erzielt, die den Menschen davon abhält, weitere Untaten zu begehen. Das Schreckliche ist alltäglich geworden, läuft Gefahr ästhetisiert zu werden. Oder Gräueltaten werden global vermarktet, werden zu Quotenrennern, spielen Profite ein, erreichen uns in der guten Stube und stumpfen ab. Die Welt schreit jeweils Zetermordio - mit einer Halbwertszeit von einer Woche. In geschriebener Form kann das Schreckliche nachhaltiger auf einen Menschen einwirken, kann seine Überzeugungskraft stärken, sich gegen das Schreckliche aufzulehnen. Trotzdem bin ich mir nicht sicher, ob in einer Zeit, die eigentlich auch schrecklich ist, die Menschen mit Wiederholungen des Schrecklichen dazu angehalten werden können, sich mit aller Vehemenz für das zu entscheiden, was den Menschen auch ausmacht: Friede und Liebe.

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