Politisches Frühlingserwachen auch in Palästina?
„Is it for real?“, kommentiert der britische „Economist“ die Ankündigung der im Gazastreifen herrschenden Hamas und ihrer im Westjordanland regierenden Rivalin Fatah, dass sie sich in Kairo grundsätzlich auf die Bildung einer gemeinsamen Regierung und die Durchführung freier Wahlen innerhalb eines Jahres in den beiden Palästinensergebieten geeinigt haben . Die Frage ist berechtigt, denn mindestens seit die islamistische Hamas nach einem knappen Wahlsieg vor vier Jahren mit blutiger Gewalt im Gazastreifen die Macht an sich gerissen hatte, herrschte zwischen den beiden mächtigsten Faktionen der Palästinenser offene Todfeindschaft.
Katastrophaler Bruderzwist
Zur Skepsis bezüglich der Haltbarkeit dieses palästinensischen Versöhnungsabkommens mahnt schon der Umstand, dass frühere Ankündigungen einer bevorstehenden Einigung sich schnell als Fehlanzeige herausstellten. Ausserdem ist zu bedenken, dass ein detailliertes Abkommen zwischen Fatah und Hamas noch nicht vorliegt. Dieses soll erst in dieser Woche in Kairo zwischen den beiden Parteiführungen ausgehämmert und unterzeichnet werden.
Dies vorausgeschickt, ist der Fanfarenstoss zur Beilegung oder wenigstens zur Entschärfung des unseligen palästinensischen Bruderzwists dennoch ein erstaunliches Ereignis. Zwar war für jeden halbwegs objektiven Betrachter schon immer klar, dass dieses Schisma eine Katastrophe für die Grundanliegen des palästinensischen Volkes bedeutete. Und es gibt wenig Zweifel, dass erst die die Auf- und Umbrüche in der arabischen Welt die Hamas- und Fatah-Führung jetzt dazu getrieben haben, ihren destruktiven Streit zu begraben und einen neuen Schulterschluss zu suchen.
Beide Verbände sind alles andere als demokratisch und transparent organisiert. Inspiriert vom Aufbegehren der Volksmassen gegen das repressive Machtmonopol autoritärer Clans und elitärer Klüngel in einer Reihe arabischer Staaten sind in den letzten Wochen in der Westbank und im Gazastreifen Kundgebungen für die Überwindung des palästinensischen Bruderstreits in Gang gekommen.
Wankender Rückhalt
Die Hamas-Führung dürfte den Aufruhr in Syrien gegen das Asad-Regime mit einiger Besorgnis registriert haben. Die Machthaber in Damaskus zählen trotz ideologisch-religiöser Differenzen zu den Stützen der im Gazastreifen herrschenden islamistischen Bewegung. Der ideologische Kopf von Hamas, Khaled Meshal, residiert seit Jahren in der syrischen Hauptstadt. Das deutlich gestiegene Risiko eines politischen Umsturzes in Syrien scheint das Bedürfnis der Hamas-Oberen zu einer Annäherung an die Fatah-Führung beträchtlich gefördert zu haben. Ob diese Entscheidung ausserdem durch die Umtriebe noch radikalerer Islamistengruppen im Gazastreifen wie der Salafisten – die unlängst den italienischen Helfer Vittorio Arrigoni kaltblütig erwürgt haben – beeinflusst wurde, bleibt schwer durchschaubar.
Auch die Fatah-Führung im Westjordanland um Mahmud Abbas hat akute Gründe, sich ernsthafter um eine Überbrückung der desaströsen Spaltung im palästinensischen Lager zu kümmern. Mit dem Sturz des Mubarak-Regimes in Kairo hat sie ihren wohl wichtigste Stütze in der arabischen Welt verloren. Die neue ägyptische Führung engagiert sich zwar ebenfalls für eine Lösung des Palästina-Problems, doch sie scheint dabei die Interessen der Fatah-Führung (und Israels) weniger einseitig zu begünstigen. Ein Indiz dafür ist die Ankündigung, den Grenzübergang zwischen dem Gazastreifen und Ägypten nun dauerhaft offen zu halten.
Ein weiteres Motiv zur Versöhnung mit Hamas ist die Absicht der palästinensischen Führung in Ramallah, im September die Ausrufung eines eigenen palästinensischen Staates von der Uno-Generalversammlung absegnen zu lassen. Wenn die Palästinenser bei diesem diplomatischen Schachzug geeint auftreten können, wird das natürlich eine glaubwürdigeren Eindruck machen, als wenn sie sich gleichzeitig zu Hause in den Haaren liegen.
Wie weit die Palästinenser künftig durch die angekündigte Bildung einer gemeinsamen Regierung für den Gazastreifen und das Westjordanland tatsächlich am gleichen Strick ziehen werden, kann in den kommenden Wochen und Monaten nur die Praxis zeigen. Einige Äusserungen von beiden Seiten lassen weiterhin auf scharfe Differenzen schliessen – namentlich was das Verhältnis zu Israel und die Möglichkeit eines Kompromissfriedens betrifft.
So erklärte Präsident Abbas am Wochenende in Ramallah gegenüber amerikanischen Besuchern, für mögliche Verhandlungen mit Israel sei er weiterhin zuständig. Die Aufgabe der noch zu bildenden Technokraten-Regierung bestehe allein darin, allgemeine Wahlen vorzubereiten und den Wiederaufbau im Gazastreifen voranzutreiben. Der Hamas-Exponent und ehemalige stellvertretende palästinensische Aussenminister Mahmud Zahar sagte demgegenüber in Kairo, das Hamas-Programm sehe keinerlei Verhandlungen mit Israel vor und Hamas werde diesen Staat auch nicht anerkennen.
Netanyahus Widersprüche
Nicht weniger unflexibel hat Israels Ministerpräsident Netanyahu auf die Nachricht von der Versöhnung zwischen Hamas und Fatah reagiert. Mahmud Abbas müsse sich entscheiden, ob er Frieden mit Israel oder mit Hamas wolle, sagte er in einer Fernseherklärung. Die israelische Zeitung „Yediot Ahronot“ berichtete, die Regierung sei bestrebt, der Welt klar zu machen, dass der palästinensische Präsident Abbas einen Fehler mache, „ein Bündnis mit dem Teufel einzugehen, statt mit Israel zu verhandeln“.
Unbestreitbar ist, dass Israel kein Abkommen mit einer palästinensischen Vertretung schliessen kann, an der Hamas beteiligt ist, solange diese Bewegung sich grundsätzlich weigert, Israels Existenzrecht anzuerkennen. Doch diese realitätsfremde Extremposition ist innerhalb von Hamas offenbar nicht unverrückbar festgeschrieben. Unabhängige Stimmen in Israel wie etwa der Regierungskritiker Uri Avnery machen geltend, dass Hamas verschiedentlich erklärt habe, dass man ein von Abbas ausgehandeltes Friedensabkommen mit Israel auf der Grundlage der Grenzen von 1967 akzeptiere, sofern dies in einem Referendum vom palästinensischen Volk angenommen werde.
Die Aufforderung Netanyahus an Präsident Abbas, auf eine Einigung mit Hamas zu verzichten und stattdessen die unterbrochenen Verhandlungen mit Israel über eine Zweistaatenlösung fortzusetzen bleibt indessen unglaubwürdig, solange die israelische Regierung nicht bereit ist, ihre Siedlungsexpansion im Westjordanland und in Ostjerusalem zu sistieren. Denn kann man in guten Treuen über die Zukunft eines Territoriums verhandeln, während die eine Seite auf diesem Gebiet – entgegen früher eingegangenen Versprechungen (Road Map, Annapolis) – laufend neue Häuser und Strassen baut?
Eine Ankündigung macht noch keinen Frühling
Wie könnte Netanyahu überhaupt mit Abbas ernsthafte Verhandlungen führen, solange sein eigener Aussenminister Lieberman und andere Kräfte in seiner Regierung solche Verhandlungen grundsätzlich ablehnen und jede Möglichkeit eines territorialen Kompromisses ausschliessen?
Selbst wenn die angekündigte Versöhnung zwischen Fatah und Hamas konkrete Gestalt annehmen sollte, so müssten bis zu einem wirklichen Frühlingserwachen im israelisch-palästinensischen Konflikt noch viele Erstarrungen aufbrechen – auf beiden Seiten der engen, verkorksten Nachbarschaft.