Ringen um nationale Identität

Reinhard Meier's picture

Ringen um nationale Identität

Von Reinhard Meier, 20.03.2019

Ende März finden in der Ukraine Präsidentschaftswahlen statt. Der Wahlkampf ist unübersichtlich – und wesentlich demokratischer als in Russland.

Serhij Zhadan zählt zu den luzidesten Köpfen in der Ukraine. Der 45-jährige Schriftsteller und Musiker (seine Band nennt sich «Sobaki w kosmossi» – Hunde im Kosmos) lebt in Charkiw, der zweitgrössten Stadt im Osten der Ukraine, nur 50 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Im vergangenen Jahr hat er mit dem Roman «Internat» Aufsehen erregt, einer beklemmenden Erzählung über einen jungen unpolitischen Lehrer, der seinen Neffen in einem verlassenen Internat abzuholen versucht, mitten im Krieg im Donbass mit seinen undurchsichtigen Grenzen.

«Ein Spiegel unserer Gesellschaft»

Wolodimir Selenski, Spitzenreiter im ukrainischen Wahlkampf
Wolodimir Selenski, Spitzenreiter im ukrainischen Wahlkampf

In einem Interview mit der «Welt» sagte Zhadan, viele Ukrainer hätten nach der Auflösung des Sowjetreiches und der Erlangung nationaler Unabhängigkeit im Jahr 1991 lange nicht recht gewusst, zu wem sie eigentlich gehörten. Es habe die «Abwesenheit einer Identität» vorgeherrscht. Das habe sich erst 2014 mit dem Maidan-Aufstand und der Vertreibung der früheren, nach Russland orientierten Janukowitsch-Regierung in breiterem Masse zu ändern begonnen.

Dazu habe auch der seit fünf Jahren andauernde Krieg im Donbass beigetragen, bei dem separatistische Verbände vom russischen Militär unterstützt werden. Die Ukraine habe weiterhin einen schweren Weg vor sich, meinte Zhadan weiter, aber viele Menschen wüssten inzwischen über ihr Land besser Bescheid als vor dem Krieg.

Dennoch würden bei den nächsten Wahlen wohl viele Ukrainer die Populisten wählen. Eine neue politische Kultur habe sich keineswegs schon solide etabliert. «Unsere Politik ist doch ein Spiegel unserer Gesellschaft.» Das gilt, könnte man hinzufügen, wohl für die meisten Länder – auch die mit demokratischer Tradition.

Drei Favoriten

Am 31. März finden in der Ukraine Präsidentenwahlen statt. Rund 40 Kandidaten haben sich für das mächtigste Amt im Staate gemeldet – und dafür die für ukrainische Normalbürger phantastische Summe von 2,5 Millionen Hrywna (umgerechnet ca. 95’000 Franken) bezahlt. Auf jeden dieser Bewerber passt wohl das Adjektiv «populistisch», wenn man diesen Begriff als Synonym für blumige, aber wenig realistische Wahlversprechen versteht. Auch Vertreter rechtsextremer und faschistisch inspirierter Gruppierungen bewerben sich um die Präsidentschaft. Aber gut informierte Beobachter halten diese für völlig chancenlos – was die russische Propaganda und einäugige Pro-Putin-Sympathisanten im Westen nicht daran hindert, die Bedeutung dieser Ultranationalisten mächtig aufzublähen.

Die zahlenmässige Unübersichtlichkeit und Buntheit des Teilnehmerfeldes bei dieser Präsidentschaftswahl spricht zwar für einen ziemlich ausgeprägten politischen Pluralismus in der Ukraine, der sich deutlich vom Machtmonopol des Putinismus im benachbarten Russland unterscheidet. Doch laut Umfragen bestehen kaum Zweifel, dass nur drei unter den mehr als drei Dutzend Bewerbern eine Chance haben, am Ende als ukrainischer Präsident gewählt zu werden: Der Fernseh-Entertainer Wolodimir Selenski, die frühere Ministerpräsidentin Julia Timoschenko und der amtierende Präsident Petro Poroschenko.

Ein Entertainer als Spitzenreiter

Der 45-jährige Selenski ist die bisher grösste Sensation und Unbekannte in diesem Wahlkampf. Populär geworden ist er vor allem durch die von ihm produzierte Fernsehserie «Diener des Volkes», in der er einen Lehrer spielt, der durch Zufall zum Präsidenten wird und sich zur allgemeinen Überraschung als vorbildlicher Politiker erweist. Selenski hat zwar Jura studiert und sich als erfolgreicher Unternehmer in der Unterhaltungsindustrie betätigt, doch im politischen Geschäft ist er ein völliger Neuling.

Sein Programm ist vage. Er verspricht, dass über grundlegende Fragen wie eine Nato- oder EU-Mitgliedschaft eine Volksabstimmung entscheiden soll – was frühere Präsidenten allerdings auch schon beteuert haben. Wahrscheinlich ist es gerade sein kaum vorhandener Ausweis als politischer Akteur und sein Geschick als Fernsehunterhalter, die ihn gemäss Umfragen zum einsamen Spitzenreiter im Feld der Präsidentschaftskandidaten gemacht haben. Auf eine solche Figur lassen sich alle möglichen Hoffnungen und Träume projizieren. Man kennt das Phänomen aus Italien, wo der Komiker Pepe Grillo mit seinen Cinque Stelle zeitweise Triumphe feierte. Seit Wochen führt Selenski die Rating-Ranglisten mit einem Wähleranteil von rund 25 Prozent an.

Poroschenko und Timoschenko Kopf an Kopf

Poroschenko an einer Wahlveranstaltung in Kiew
Poroschenko an einer Wahlveranstaltung in Kiew

Hinter Selenski kämpfen – immer gemäss den inflationär verbreiteten Umfrage-Ergebnissen – die ausgebufften Politprofis Julia Timoschenko und Petro Poroschenko um den zweiten Platz. Dieser ist entscheidend für die Teilnahme an einer zweiten Wahlrunde, die am 21. April stattfinden soll, falls kein Bewerber im ersten Wahlgang die 50 Prozent-Marke erreicht. Beide kommen bei den Umfragen auf einen Anteil von plus/minus 15 Prozent. Zuverlässige Prognosen über den Ausgang der Wahl sind aber unmöglich, denn die gleichen Umfragen weisen den Anteil der Unentschiedenen zwei Wochen vor der Wahl immer noch mit rund einem Viertel aller Wähler aus.

Poroschenko ist kurz nach der Annexion der Krim und dem Ausbruch des Kriegs im Donbass vor fünf Jahren schon im ersten Wahlgang zum Präsidenten gewählt worden. Er besitzt mehrere Unternehmen, von denen er sich trotz früherer Versprechen nicht eindeutig getrennt hat. In seinem Besitz befinden sich auch Firmen der Schokoladenindustrie, was ihm den Spitznamen «Schokoladenoligarch» eingetragen hat. Dass er nun schwer um seinen Einzug in die zweite Wahlrunde kämpfen muss, ist ein Indiz für die bittere Enttäuschung, die in der ukrainischen Bevölkerung über die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse verbreitet ist.

Die Euphorie über den Erfolg der Maidan-Proteste und die Vertreibung des Janukowitsch-Regimes ist verflogen. Die Ukraine, das flächenmässig grösste Land in Europa, ist dasjenige mit dem tiefsten Pro-Kopf-Einkommen. Das Krebsübel der Korruption ist trotz verschärftem Druck seitens westlicher Geberländer nicht tiefgreifend eingedämmt worden. Ein Ende des Kriegs im Donbass ist nicht in Sicht. Immerhin kann Poroschenko beanspruchen, während seiner Amtszeit für die ukrainischen Bürger das visafreie Reisen in die EU-Länder (und die Schweiz) erreicht sowie die formelle Trennung der ukrainischen orthodoxen Kirche vom Moskauer Patriarchat geschickt vorangetrieben zu haben.

«Altes Lied, neue Frisur»

Aktuelles Bild von Julia Timoschenko an einer Wahlveranstaltung
Aktuelles Bild von Julia Timoschenko an einer Wahlveranstaltung

Der Ruf von Julia Timoschenko, Poroschenkos Hauptkonkurrentin für den Einzug in die zweite Wahlrunde, ist nicht weniger dubios. Auch sie mischt in der Wirtschaft und Politik des Landes seit vielen Jahren mit. Als Verantwortliche für die undurchsichtigen Gasgeschäfte früherer Regierungen soll sie sich ein Riesenvermögen abgezweigt haben. Die Bezeichnung «Gasprinzessin» ist sie nie ganz losgeworden. Unter dem früheren Präsidenten Juschtschenko, dem zeitweisen Helden der sogenannten «orangen Revolution» der Jahre 2004/2005, war Timoschenko Ministerpräsidentin, zerstritt sich dann aber heillos mit ihrem Bündnispartner.

Ihr früheres Markenzeichen, die vermeintlich volksnahe blonde Zopffrisur, hat die wendige Politikerin inzwischen mit einem Rossschwanz vertauscht. Viele Ukrainer scheinen der signalisierten Läuterung dennoch nicht über den Weg zu trauen. Bei einem ihrer jüngsten Wahlauftritt war auf einem Protestplakat im Publikum zu lesen: «Altes Lied, neue Frisur».

Welchen Einfluss hat Putins Russland auf die ukrainischen Präsidentschaftswahlen? Dieser Einfluss ist enorm, wenn man darunter weniger das unmittelbare personelle Ergebnis der Wahl, sondern die heutige innere Orientierung des Landes versteht. Etwas zugespitzt kann man sagen, Putin hat mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und vor allem mit dem von ihm am Köcheln gehaltenen Krieg im Donbass die Mehrheit der rund 45 Millionen Ukrainer politisch in Richtung Westen getrieben.

Putins Geheimnis

Dieser Krieg dauert nur schon fünf Jahre und hat inzwischen über 12’000 Tote gefordert. Mehrere Millionen Menschen aus der umkämpften Region im Osten der Ukraine sind aus ihren Dörfern und Städten geflüchtet – teils in den Westen der Ukraine, teils über die östliche Grenze nach Russland. Muss man sich vor diesem Hintergrund wundern, dass die meisten Ukrainer trotz vielseitigen sprachlichen, kulturellen und verwandtschaftlichen Bindungen mit Russland den östlichen Nachbarn heute als ein feindliches Land betrachten? 

Im Grunde gibt es kaum Zweifel, dass der Kremlherr Putin nur mit den Fingern schnippen müsste, um den Krieg im ostukrainischen Donbass zu beenden. Ohne russische Unterstützung wären die Separatisten im Donezbecken schnell in die Enge getrieben und müssten sich mit Kiew auf eine Kompromisslösung verständigen. Weshalb Putin diesen Krieg weiter schürt, den er ohne massive zusätzliche Risiken offenbar nicht gewinnen kann und der sein Land mit schmerzhaften Sanktionen seitens des Westens belastet, bleibt sein Geheimnis.

Näherrücken an den Westen

Die Ukraine ist zwar noch längst keine Demokratie nach westlichen Vorstellungen. Aber auf der Suche nach einer vertieften eigenen Identität, die seit dem Erlangen der formalen staatlichen Unabhängigkeit vor 28 Jahren begonnen hat, ist dieses Land deutlich näher an den Westen gerückt. Wenn führende Politiker in Kiew den Beitritt der Ukraine zur EU und zur Nato als längerfristige Zielvorstellung beschreiben, so hat das als Motiv nichts mit einer westlichen Einkreisungsstrategie gegenüber Russland zu tun, wie die russische Propaganda und westliche Putin-Apologeten ständig behaupten. Hauptantrieb für eine solche mögliche – aber keineswegs garantierte – Entwicklung sind vielmehr die sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Eigeninteressen der Ukrainer.

Der eingangs erwähnte Charkiwer Schriftsteller Serhij Zhadan hat in einem Aufsatz berichtet, dass sein Vater, ehemals KP-Mitglied, auch nach der Unabhängigkeit mental tief in der Mentalität des russisch-sowjetischen Wertesystems verhaftet blieb. «Erst im Frühjahr 2014, als russische Soldaten im Donbass und der Krim einmarschierten, hat sich in ihm etwas verändert.» Das sei seine «persönliche Entkommunisierung» gewesen, «plötzlich überdachte er viele Dinge, die für ihn fest und unverrückbar gewesen waren». Zhadans Vater ist gewiss nicht der einzige Ukrainer, bei dem ein solcher Bewusstseinswandel eingesetzt hat.

Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko hat neue Feinde. Im Laufe des Präsidentschaftswahlkampfs muss er nicht nur seinen Konkurrenten Paroli bieten, sondern auch vor den Nationalisten die Flucht ergreifen. „Aktivisten“ bringen zu Kundgebungen mit dem Noch-Präsident Plüsch-Ferkel mit und jagen ihn von der Bühne. Die ukrainischen rechtsradikalen Organisationen S14 und „Nationales Korps“ wurden vor kurzem in einem Bericht des US-Außenministeriums erwähnt. In diesem Dokument, das dem Thema Menschenrechte gewidmet war, wurden die beiden als „Gruppen des Rassenhasses“ bezeichnet, die „illegal Menschen festnehmen, wobei die Ordnungskräfte ihre Pflichten ignorieren“. Zu den „Heldentaten“ der Radikalen kommen derweilen immer neue hinzu. Es sind zwei Lager entstanden: S14-Aktivisten, die vom Präsidialamt quasi betreut werden, organisieren Kundgebungen gegen das Innenministerium; und das auf Basis des „Asow“-Regiments gebildete „Nationale Korps“ behindert regelmäßig Veranstaltungen Petro Poroschenkos im Vorfeld der Präsidentschaftswahl. Die Nationalisten verfolgen Poroschenko bereits seit Anfang März. Am 16. März haben Mitglieder des „Nationalen Korps“ das Gebäude des Präsidialamtes mit Plüschschweinen beworfen. Und zuvor versuchten sie, ein Treffen Poroschenkos mit seinen potenziellen Wählern in der Stadt Tscherkassy zum Scheitern zu bringen, indem sie die Polizeikräfte attackierten, die die Bühne, auf der der Präsidentschaftskandidat auftreten sollte, bewachten. Dadurch brachten die Kämpfer ihre Empörung über einen neuen Korruptionsskandal in Poroschenkos Umfeld zum Ausdruck. Der Vizechef des Nationalen Sicherheitsrats, Oleg Gladkowski, und dessen Sohn Igor werden nämlich verdächtigt, von den Lieferungen von Zulieferteilen für die Militärtechnik der Streitkräfte illegal profitiert zu haben. Die Polizei konnte den Angriff zwar abwehren, Poroschenko aber musste die Kundgebung seiner eigenen Anhänger in Eile verlassen. Auch in Schytomyr schrien Aktivisten des „Nationalen Korps“ dem Präsidenten „Schande!“ und „Freibeuter!“ zu. Poroschenko beschimpfte seine Gegner, dass sie für diese Aktion bezahlt worden wären, musste sich aber wieder zurückziehen. Als Poroschenko nach Luzk reisen wollte, informierte das Präsidialamt nicht mehr, welche Orte er dort besuchen würde, offenbar damit sich seine Gegner darauf nicht vorbereiten könnten. Doch diese trafen trotzdem zu seinen Treffen zusammen mit potenziellen Wählern ein – und brachten Plüschschweine mit. Aktivisten, die mit Schweinen kamen, wurden festgenommen. Einer von ihnen erläuterte, dass er dem Präsidenten „einen kleinen Swinartschuk“ schenken wollte. Swinartschuk (hat im Russischen die Wurzel, die ins Deutsche als „Schwein“ übersetzt wird) sei nämlich der richtige Name Oleg Gladkowskis. „Wir sind müde von Lügen und der Korruption“, betonte der Mann. Viele Menschen entfalteten bei dem Treffen mit Poroschenko Plakate mit Aufschriften wie „Herr Präsident, was haben Ihre Freunde dank Schmiergeldern in der Rüstungsindustrie verdient?“ oder „Herr Präsident, wer wird sich für Debalzewo verantworten?“ (In Debalzewo, Gebiet Donezk, haben die ukrainischen Truppen ein Gefecht gegen das Volksheer verloren, wobei sehr viele Soldaten ums Leben kamen.) Und an der Fassade eines Hochhauses wurde ein Banner aufgehängt: „Du bist dank dem Blut der Männer aus der 51. motorisierten Brigade Präsident geworden! (Diese Brigade musste besonders große Verluste während der so genannten „Anti-Terror-Operation“ im Donezbecken tragen.) Um Deine Verbrechen zu vertuschen, haben Deine Generäle sie vernichtet!“ Der Noch-Präsident lernt aber aus seinen Fehlern: In Transkarpatien reiste er sehr schnell von einem Ort zum anderen, und seine Gegner hatten deshalb keine Möglichkeiten, sich zu versammeln und große Unruhen zu provozieren. Laut der Stiftung „Ukrainische Politik“ liegt nach wie vor der Schauspieler und Komiker Wolodymyr Selenskyj bei den Wahlkampf-Umfragen vorne: 16,4 Prozent der Ukrainer wären bereit, für ihn zu stimmen. Ihm folgt die Vorsitzende der Partei „Batkiwschtschina“ („Vaterland“), Julia Timoschenko, mit 15,9 Prozent. Poroschenko liegt aktuell auf dem dritten Platz (15,5 Prozent).

"und wesentlich demokratischer als in Russland." Uiuiui, da muss sich die Feder des Schreibers selbstständig gemacht haben.

Warum diese Frage? Haben sie Argumente die gegen diese Einschätzung sprechen?

SRF Archiv

Newsletter kostenlos abonnieren