Ruhig, besonnen und gelassen
Denn gerade dann, wenn eine Pandemie uns medizinisch, sozial und wirtschaftlich bedroht, bedarf es einer inneren Gelassenheit, einer inneren Stille, einer inneren Besonnenheit, welche dann gefunden wird, wenn äussere Ablenkungen uns nicht mehr daran hindern. Der uns aufgezwungene «Lockdown» gibt uns die Chance, einzukehren.
Ich bin wahrscheinlich nicht die Einzige, die diese Chance zur Einkehr zu wenig genutzt hat. Tagelange Online-Sitzungen, ständiges Kochen und Waschen oder ein steigender Bildschirmkonsum haben eher zu erhöhter Anspannung als zur inneren Ruhe geführt.
Wer nach einer Möglichkeit sucht, sich auf den Weg der Ruhe zu machen, der oder dem empfehle ich die Lektüre von «Die Glocken von San Pantalon», ein venezianisches Tagebuch, das neuste Werk von Klara Obermüller [1]. Das Tagebuch der Journalistin und Buchautorin hält uns einen Spiegel vor und nimmt uns mit auf ihren eigenen inneren Weg, einen Weg, den ich aktuell glaubte, verloren zu haben.
La mise en abyme
Wissen Sie, was eine «mise en abyme» ist? Der französische Begriff «abyme» bedeutet «unendliche Tiefe» oder «Abgrund». Die «mise en abyme» wird in verschiedenen Kunstgattungen als Stilmittel, als Erzählinstrument verwendet. Auf Englisch existiert der Begriff «mirror text», im Deutschen kennen wir den Ausdruck nicht. Die Rede ist von einem Bild im Bild, von einer Geschichte in der Geschichte von einer mehrfachen Reflektion im Spiegel oder anders gesagt: Ein Text ist gleichzeitig sein eigener Spiegel. Der «Abgrund» steht auch für eine gewisse Tiefe im Menschen, die jene Dinge zum Vorschein bringt, die der Mensch gerne vergessen will, also Dinge, denen er sich nicht stellen will. In der Mise-en-Abyme wird die Leserin, wird der Leser Teil der Geschichte.
Der Weg nach innen
Fast unheimlich anmutend, erlebte ich bei der Lektüre des Tagebuchs den Weg in die Einkehr, als ob mir jemand sagen würde: «Schau, so kannst du die innere Ruhe während der Pandemie finden.»
In «Die Glocken von San Panatalon» verbringt die Protagonistin auf Einladung einer Förderstiftung zusammen mit ihrem Mann vier Monate in einem venezianischen Palazzo. Ein Zuhause auf Zeit. Sie nimmt sich fest vor, «nur zu leben», «sich nichts vorzunehmen», weg zu sein vom dauernden «etwas Leisten» und vom «Gefragt-Sein», sie denkt über das Älterwerden nach, entschleunigt und sucht den Weg nach innen. Geschickt verwebt sie das äussere Zurückziehen mit der Fortsetzung ihres Buches «Spurensuche», in welchem sie ihre biologischen Eltern sucht, welche sie selbst nie gekannt hat. Eine innere Spurensuche geht weiter.
In der Gallerie dell’Accademia in Venedig erfährt sie eine Schule des Sehens, einen Ort der Besinnung. Das Betrachten der Gemälde ruft in ihr unerfüllte Sehnsüchte hervor, die in ihrem Leben immer wieder präsent waren. Der Besuch von Kirchen weckt in ihr verdrängte Fragen nach religiösem Empfinden. Dabei taucht sie immer wieder in die Vergangenheit ein und beschreibt den bisherigen Weg zu sich selbst. Ein verborgenes Fresko löst in ihr eine Debatte über Suchen und Finden aus: Das zu finden, was man nicht suchte. Venedig selbst weckt in ihr das Bewusstsein, dass alles flüchtig und ohne Bestand ist, denn Venedig senkt sich, Venedig wird instabil, Venedig fault. Schliesslich stärkt Venedig in ihr die Erkenntnis, dass wir nur Gast auf Erden sind, dass wir Abschied nehmen müssen. Auf dem Torcello kommt die Protagonistin innerlich zur Ruhe, sie ist bei sich selbst angekommen, bei sich zuhause. Beim Abschied von Venedig wird ihr einmal mehr bewusst, dass das Leben ein Abschiednehmen ist, ein Leben, welches wir dann gut leben, wenn wir nicht der Vergangenheit nachtrauern sondern uns auf die Gegenwart besinnen – wenn wir frei sind für den nächsten oder für den letzten Abschnitt unseres Lebens.
Eine Vorwegnahme der Einkehr, zu der uns das Virus derzeit zwingt
Klara Obermüller hat ihr Tagebuch vor dem Ausbruch der Pandemie geschrieben. Sie konnte damals nicht wissen, dass im Frühling 2020 ein neuartiges Virus ausbrechen würde. Fast unheimlich empfand ich bei der Lektüre aber genau das: die Protagonistin nahm mich an der Hand und zeigte mir, wie man solche Situationen meistert. Als ob sie gewusst hätte, dass sie uns auf etwas vorbereiten soll. Alles, was ich in den vergangenen Wochen unterlassen habe, wurde vor meinen Augen vorgezeigt. Als schaute ich in einen Spiegel. Inzwischen übertrage ich die Erkenntnisse aus diesem Werk auf mein eigenes Leben. Äussere Ablenkungen minimieren, den Fernseher ausschalten, Bücher lesen, Kerzen anzünden, Pausen einlegen, in der Stille die Natur betrachten, Lieblingsorte aufsuchen, den Vogelstimmen lauschen, das Alleinsein, den Müssiggang, schlussendlich mich selber aushalten. «Innere Ruhe» stellt sich nicht von alleine ein. Es ist ein Akt des Suchens und des Findens.
Durch das Lesen des Tagebuchs wurde ich Teil der Geschichte und als ich die letzte Seite gelesen hatte, fühlte ich mich ruhig, besonnen und gelassen. Eine gelebte «mise en abyme».
Das empfehlenswerte Werk ist eine Vorwegnahme der Einkehr, zu der uns das Virus derzeit zwingt. Aber lesen sie es selbst.
[1] Klara Obermüller: Die Glocken von San Pantalon. Ein venezianisches Tagebuch. Xanthippe 2020.
Wenn dem beschriebenen Suchen und zur oder in die "innere(n) Ruhe"
kommen nicht eine wesentliche persönliche Entscheidung folgt, dann war diese momentane Lebensgefühls-Bilanz so etwas wie "nice to have". Konkret: Glaubt K.O. an ein Leben nach Corona oder gar an ein Leben nach dem Tod? SEIN oder NICHTSEIN ist doch noch immer die wesentliche Frage - oder täusch' ich mich?
"«Innere Ruhe» stellt sich nicht von alleine ein. Es ist ein Akt des Suchens und des Findens." Und man kann dem mit einfachen Selbsthypnosetechniken wie etwa Autogenes Training noch etwas nachhelfen und ist dann in fünf Minuten auf einem Stuhl sitzend in der inneren Ruhe angekommen. Zu Corona ist zudem zu bedenken, dass es unter dem Strich sogar zu weniger Todesfällen kommt als vorher, durch weniger Verkehrs-, Arbeits-, Töff- und Sport-Unfällen und weniger Herz-Kreislauf- Hirnschlag-Toten, weil Risikopatienten plötzlich keinen Stress mehr haben und sich zu Hause erholen, entspannen und abschalten können. Auch sterben alle Alterskategorien wegen Covid-19 gleichmässig doppelt so oft als ohne, die Ü-60 und 85 Jährigen sowieso viel häufiger und im Verhältnis zu den 45 Jährigen aber sogar statistisch signifikant weniger. Die Medien verzapfen also wieder Mega-Quatsch. Es geht (wie immer) um etwas ganz anderes...
Wertvolle Gedanken, die uns die Autorin zuteil werden lässt. Eindrücklich, wie mit Corona die Ablenkungs- und Zerstreuungsmechanismen nicht mehr funktionieren, weil fast alles an Konsummöglichkeiten eingestellt worden ist. Für einmal sind wir auf uns selbst zurückgeworfen und können uns nicht anderswo der Sinne berauben lassen. In diesem Zusammenhang stellt sich doch die Frage, weshalb wir vor Corona unsere Wahrnehmung und Innerlichkeit mehrheitlich verloren haben? Wieso sind wir zu Lemmingen geworden und haben kaum mehr gemerkt, dass uns das Menschsein abhanden gekommen ist. Mit Menschsein meine ich die Wahrnehmung für die Dinge, die nicht käuflich sind, sondern mit Geist und Seele zu tun haben. Zu Beginn des Lockdowns wurde Solidarität grossgeschrieben, weil wir alle Angst hatten vor dem, was kommt. Mittlerweile sind wir wieder dort, wo wir schon vor Corona waren, in den politischen Grabenkämpfen. Die Angst ist gewichen, seit bekannt ist, dass meist über 80-Jährige gestorben sind. Einkehr halten ist den Leuten verleidet; sie wollen wieder den "Normalzustand". Wie der zukünftig auch immer aussehen mag? Ob viele Menschen die Chance nutzen können, Werte, die in Lockdown-Zeiten wesentlich waren, in die Zukunft mitzunehmen, darf bezweifelt werden. Was sicher sein wird, ist, dass viele Leute weniger Geld zur Verfügung haben werden und Konsumansprüche hintenanstellen müssen. Die Corona-Angst wird durch eine andere Angst abgelöst: Wie lange habe ich noch einen Job? Angst ist ein schlechter Ratgeber und folglich nicht geeignet, als Stabilisator für menschliche Wärme und Zuneigung zu dienen. Trotzdem dürfte die Solidarität in den nächsten Jahren ein wesentlicher Bestandteil unseres Lebens werden: Diejenigen, die viel oder viel zu viel haben und jene, die genug haben, sollten sich gegenüber denjenigen solidarisch verhalten, die nicht viel oder gar nichts mehr haben. Erst dann wird sich zeigen, wie viele Menschen die Zeit während des Lockdowns genutzt und zu sich gefunden haben.