Solide Halbbildung

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Solide Halbbildung

Von Eduard Kaeser, 05.01.2018

Zum Studium der MINT-Fächer gehört der Erwerb eines Verständnisses von Philosophie und Geschichte. Dessen Fehlen wirkt heute desaströs.

„Philosophy is garbage, but the history of garbage is scholarship“ – „Philosophie ist Müll, aber die Geschichte des Mülls ist Wissenschaft.“ Das böse Verdikt wird ausgerechnet einem Philosophen zugeschrieben, nämlich Burton Dreben von der Harvard University. Graue Eminenz der analytischen Philosophie, ein unbarmherziger Strengdenker, der in der herkömmlichen philosophischen Praxis kaum mehr als ein Aneinander-vorbei-Reden erkennen konnte oder wollte. Deshalb richtete Dreben seinen professionellen Ehrgeiz darauf, als akademischer Müllmann der Philosophie zu walten; in der einzigen Art, die ihr wissenschaftlich gebührt.

Vom vermeintlichen „Tod“ der Philosophie

Das mag durchaus seine Rechtfertigung und seinen Reiz haben. Nur wird überall aneinander vorbeigeredet, gerade auch in den Wissenschaften. Als definitiv fragwürdig erweist sich die Müllmetapher, wenn sich Vertreter der „harten“ Disziplinen – heute vor allem Physiker, Computerwissenschafter, Mikro- und Neurobiologen – nun in die Aufräumerpose werfen, indem sie das, was sie nicht gelesen oder verstanden haben, in den Mülleimer schmeissen.

Stephen Hawking erklärte 2010 in seinem Buch „Das grosse Design“ die Philosophie für tot, weil sie nichts zum Fortschritt der Wissenschaften beigetragen habe. Das ist nun seinerseits starker philosophischer Tobak: Wer sagt denn, es sei die Aufgabe der Philosophie, zum wissenschaftlichen Fortschritt beizutragen? Und ein anderer vorlauter Physiker, Lawrence Krauss, übt sich wacker im Bashing von Wissenschaftsphilosophie: „Die einzigen, die Arbeiten von Wissenschaftsphilosophen lesen, sind Wissenschaftsphilosophen.“ Mit dieser billigen Polemik hat sich Krauss gleich selbst aus dem Kreis ernstzunehmender Diskutanten gezogen. Die einzigen, die Arbeiten in theoretischer Physik lesen, sind in der Regel theoretische Physiker.

Halbgebildete Bildung

Solche albernen Sticheleien mal beiseite: Stellungnahmen dieser Art akzentuieren nur das verbreitete stillschweigende Vorurteil, mit einer Ausbildung in zeitgemässen „hard sciences“ – also in den MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) – über das angemessene intellektuelle Rüstzeug für das Verständnis und die Bewältigung der Gegenwartsprobleme zu verfügen. Die Ironie dabei ist, dass genau eine solche Haltung mit zu den Gegenwartsproblemen gehört. Ich bringe sie auf die Formel: Halbgebildete Bildung. Viel Gewicht auf MINT-Fächern, wenig Gewicht auf Philosophie und Geschichte.

Zur Illustration eine Anekdote des Wissenschaftshistorikers Steven Shapin. Ein Herzchirurg gedenkt nach der Pensionierung eine Geschichte seines Fachs zu schreiben. Er bittet eine befreundete Historikerin, ihm beratend beizustehen. Sie erwidert: Nur wenn du mich zuerst eine Herzoperation durchführen lässt. Natürlich weiss die Historikerin um ihre chirurgische Inkompetenz. Aber mit ihrer Riposte reklamiert sie klar ein Gleichgewicht in der professionellen Einschätzung. Der Chirurg kann in der Historiographie ebenso stümpern wie die Historikerin in der Chirurgie.

Ungeschichtsschreibung

Hier ein aktuelles Beispiel. In einem Interview vom 1. September 2017 äusserte sich der Präsident der ETH, Lino Guzzella, folgendermassen über Big Data: „Wenn wir heute von Big Data reden, dann ist das eine Situation, die die Menschheit immer schon kannte. Es gab Menschen wie Aristoteles, der nachdachte, Tycho Brahe, der Daten über die Sterne sammelte, Johannes Kepler, der diese Daten zu Informationen verdichtete, Galileo Galilei betrieb zeitgleich systematisch Wissenschaft, und Isaac Newton war das Genie, das dann in seinem Gravitationsgesetz alles zusammenfasste.“

Guzzella führt exemplarisch vor, was man Ungeschichtsschreibung nennen könnte – eine unter Naturwissenschaftern verbreitete Praxis. Man wirft vom Standpunkt der Gegenwart ein Licht auf die Vergangenheit und beleuchtet nur das, was zu dieser Gegenwart führt. Dadurch erweckt man den Eindruck, dass schon früher auf diese Gegenwart hingearbeitet worden ist. Dann entpuppen sich Aristoteles, Kepler, Brahe, Galilei und Newton unversehens als Datenwissenschafter, Vorläufer von Big Data.

Solcherart zeichnet man nicht nur ein äusserst schiefes Geschichtsbild, indem Forscher aus unterschiedlichsten Kulturen, Zeiten und Denktraditionen in einen Topf geworfen werden. Man präsentiert dem Laien auch ein irreführendes Bild wissenschaftlichen Vorgehens: „Die Menschheit hat diese Schritte schon immer getan: Man hat die Natur beobachtet, grosse Datenmengen gesammelt, interpoliert und schliesslich extrapoliert. Den Schritt von Daten zur Information, zur Einsicht, zur Anwendung und zum Wert macht die Menschheit auch heute. Es geht nur sehr viel schneller.“ – Nur schon ein kursorischer Blick in die Geschichtsbücher hätte Herrn Guzzella darüber informiert, dass keiner der von ihm genannten Forscher so vom Datensammeln „aufgestiegen“ ist, sondern sich vielmehr von philosophischen, ja theologischen Fragen hat leiten lassen.

Nonchalance gegenüber „weichen“ Wissenschaften

Dieser Nonchalance gegenüber „weichen“ Wissenschaften begegnet man auf Schritt und Tritt. Sie nimmt heutzutage gerne agressivere Züge an, indem etwa Biologie oder kognitive Wissenschaften in Territorien einfallen, die vordem als Domäne der Geisteswissenschaften galten: Kunst, Moral, Religion, Politik.

Zwar spricht nichts a priori gegen ein Studium dieser Phänomene aus evolutions- und neurobiologischer Perspektive. Warum sollte uns eine Kombination aus Evolutionstheorie und Kognitionstheorie zum Beispiel nicht Aufschluss über die Frage geben, wie unter unseren Ahnen so etwas wie eine Gottesvorstellung entstanden ist? Meist aber meldet sich unterschwellig ein stärkerer Anspruch, nämlich mit dem naturwissenschaftlichen Studium auch alles gesagt zu haben.

So möchte etwa der Neurowissenschafter und populäre Autor Sam Harris den alten Zopf philosophischer Debatten über Moral durch wissenschaftliche Studien über die neuronale Basis von Moral abschneiden. Das Problem ist nur, dass er in seinem radikalistischen wissenschaftlichen Eifer vergisst, die Frage zu stellen, wie man denn von neurophysiologischen Ereignissen auf moralische Gebote schliesse.

Lizenz zum geisteswissenschaftlichen Dilettieren

Hier muss man sich fundamentalen Fragen stellen, zum Beispiel denen nach den Grenzen exakter Modellbildung. Auch gilt es der Verführung durch Metaphern wie „Das Gehirn ist ein Computer“ zu widerstehen, die Überspanntheit von Erkenntnisansprüchen wie „Die Evolution erklärt moralisches Verhalten“ zu durchschauen und leere Versprechen wie „Durch Digitalisierung lösen wir die Aporien des Gesundheitswesens“ zu vermeiden.

In allen derartigen Thesen stecken eminent philosophische Probleme. Wie der Ingenieur für den Maschinenbau Differentialgleichungen lösen können muss, verlangt der Umgang mit solchen Fragen eine entsprechende philosophische Sorgfalt. Sorgfalt bedeutet Respekt vor der Sache. Die Nonchalance im Umgang mit Geschichtsschreibung scheint mir symptomatisch für eine implizite und institutionalisierte Respektlosigkeit zu sein, wie man sie in „harten“ Disziplinen nicht selten antrifft. Der naturwissenschaftliche Ausweis gilt auch gleich als Lizenz geisteswissenschaftlichen Dilettierens.

Natürlich gibt es Köpfe, die auf beiden Gebieten Hervorragendes geleistet haben: Ernst Mach, Bertrand Russell, Julian Huxley, Albert Einstein, Erwin Schrödinger, Erwin Chargaff, um nur ein paar zu nennen. Aber eine noch so vollständige Liste von Lichtgestalten kann den düsteren Eindruck nicht zerstreuen: Die naturwissenschaftliche Ausbildung wird von geisteswissenschaftlicher Halbbildung begleitet.

Lasst hundert Wissensquellen sprudeln!

Ich spreche wohlgemerkt von einer Aufgabe naturwissenschaftlicher Bildung, nicht geisteswissenschaftlicher. Dabei möchte ich die zahlreichen Bemühungen um eine Vermittlung zwischen beiden nicht schmälern. Im gleichen Zug aber, in dem man bei den Naturwissenschaften ein Defizit an historischem und philosophischem Bewusstsein konstatiert, sollte man sich bewusst werden, dass dieser Mangel Symptom eines tieferen Problems ist, eines allgegenwärtigen Rattenrennens auch im Bildungswesen.

Die naturwissenschaftliche Bildung gerät in den ökonomischen Tunnelblick, mit der lockenden Aussicht auf Qualitätsjobs, Start-ups, Arbeitsmarktplatzierung, Standortvorteil. Es zählt das wirtschaftlich Verwertbare, ohne dass man noch nach dem Sinn dieses Werts fragen würde: Das erkenntnissuchende Unternehmen Wissenschaft findet seine „Aufhebung“ im wirtschaftlichen Unternehmen.

Beim permanenten Palaver über die „Ressource Wissenschaft“ wäre gelegentlich daran zu denken, dass der wissenschaftliche Geist seine Dehydratation riskiert, wenn man ihn eindimensional pflegt. Er braucht Nährstoffe aus vielen Quellen. Deshalb: Lasst hundert Wissensquellen sprudeln! Das könnte Motto für ein forschungspolitisches Programm sein. Die Schweiz brächte dazu die besten Bedingungen mit.

Man kann aus der Historie nichts ableiten für die Zukunft, und zwar grundsätzlich nicht.
Wenn auch gewisse Umstände sich ähneln, und man meint, die Geschichte wiederhole sich, so täuscht man sich immer. Denn neben den sich ähnelnden Umständen sind die meisten anderen Umstände (gesellschaftliche, kulturelle, ökonomische, militärische, demografische, u. v. a. m.) ganz anders. Deswegen wiederholt sich Geschichte nie, oder nur scheinbar. Und deshalb lässt sich keine Lehre für die Zukunft aus der Vergangenheit ableiten und die Zukunft bleibt in dichtem Nebel.

Sie irren sich gewaltig. Sie machen genau das, was Herr Keaser in seinem Artikel vielen MINT-Wissenschaftlern vorwirft, dass man z.B. die Geschichte nur dann als wertvoll erachte, wenn sie eine Art Zukunftsformel liefern würde. Das ist nicht ihre Aufgabe als Fach, sondern z.B. gesagtes einordnen und geschehenes in einen aktuellen Kontext zu stellen. Die Rede von Bernd (Björn) Höcke Anfang 2017 in Dresden wäre ohne geschichtliches Wissen irgendeine Provokation, von der man gar nicht weiss, auf was sie sich überhaupt bezieht. Man würde übersehen, dass sie stilistische und inhaltliche Anleihen ans Dritte Reich nimmt und das Gedenken an dessen Schrecken in den Schmutz zieht. Wer die Geister seiner Vergangenheit nicht ein wenig kennt, wird immer wieder von ihnen gequält werden und genau das machen sich Hasardeure zu nutze.

Soweit das Auge reicht Behauptungen, in weitgehend unerforschtem Gelände!
Eines ist uns allen klar, sollte es wenigstens sein. Wirklichkeit sprich Realität entspricht immer individueller Erfahrung in einzigartiger Umgebung und dazu noch, in momentan gelebten Umfeldern. Offen sein, offen bleiben für die verschiedenen Einflüsse, denn es gibt so viele Realitäten wie Menschen existieren. Unter bestimmten Zuständen verhält sich etwas so und durch kleinste Veränderungen eben anders. Allwissend ist nur die Natur. Sie besteht bis heute alle Prüfungen durch Anpassung, nennen wir es einfach Evolution. Der Hirte auf der Alp mit Blick aufs Tal, aufgewachsen bäurisch, in rustikalem provinzialen Lebensräumen, so halt! Der Physiker wohnhaft mit Sicht auf See. Kosmopolit mit interkulturellen Erfahrungen, schon von klein auf durch Schulungen in urbaner, gebauter, verbauter Umwelt gross geworden. Entfernter kann man nicht sein, ausgenommen an Wochenenden, Ferien oder Sabbatical`s, wenn sie hinaufkommen in die Berge um andere Wirklichkeiten kurz zu erleben. Erkenntnisse sind so wichtig wie Fett, es braucht eben mehr als Messungen um ihre Werte, ihre tieferen inneren Werte zu begreifen. Alles ist Gift, auf die Dosis kommt es an! Das Dilemma des nicht determinierten Verhaltens zeigt uns jene Komplexität der logischen Tiefe. Trau keinem/ keiner über dreissig, ziehe was sie/er sagt nur in Betracht, wie wahr!
…. cathari

Die Kritik an der naturwissenschaftlichen Halbbildung mag gerechtfertigt sein. Viel gravierende Mängel sind m.E. jedoch auf der geisteswissenschaftlichen Seite vorhanden. Nur schon das Interpretieren von einfachsten statistischen Zusammenhängen lässt oftmals zu Wünschen übrig, geschweige denn Statistik oder andere Informatik Hilfsmittel selber anzuwenden. Die Logik war einst ein Kernaspekt der stoischen Philosophie. Wem sie heute fehlt, macht oftmals ein geisteswissenschaftliches Studium.

Hervorragender Essay. Danke!

MfG
Werner T. Meyer

Ohne die Infragstellung des Dogmas hätte der Philosoph, Mathematiker, Physiker und Astronom Galileo Galilei -
ein Wegbereiter der modernen Naturwissenschaften - in seiner Schrift "Dialogo" über das heliozentrische und
geozentrische Weltbild, die gegen die offizielle theologische Lehre verstiess, nicht erkannt, dass die Erde sich um die Sonne dreht. Ohne den philosophischen Ansatz wären naturwissenschaftliche Erkenntnisse kaum möglich gewesen. Deshalb ist der Aussage von Stephen Hawking sehr zu widersprechen. Die Philosophie ist nicht tot - ganz im Gegenteil. Ohne Philosophie keine Aufklärung und ohne Aufklärung keinen Fortschritt. Dies gilt auch heute noch.

Ihre Aussage trifft den Nagel punktgenau auf den Kopf. Genauso umschreibt Eduard Kaeser die Bedeutung der Philosophie als unverzichtbar, wenn nicht als Ursprung allen Naturwissenschaften. Ist doch die Philosophie die Mutter allen Wissenschaften und keine Wissenschaft findet ihre geistig kognitive Begründung und Motivation als Idee zur Handung. Insofern, am Anfang war die Philosophie, das Wort hin zur Wort-, Wissens- und Datensammlung - Big Data.

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