Standpauke für Wahnsinnige

Alex Bänninger's picture

Standpauke für Wahnsinnige

Von Alex Bänninger, 20.10.2015

Lukas Bärfuss fiel in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" über die Schweiz her. Sollen wir angeregt oder aufgeregt reagieren?

Empörte Kritik an der Schweiz löst in der Schweiz Empörung aus. Sie steigert sich zum Zorn, wenn der Anpfiff im Ausland und erst noch in einem wichtigen Forum erfolgt. Diese Erfahrung durfte Lukas Bärfuss mit seinem in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" veröffentlichten Gastbeitrag "Die Schweiz ist des Wahnsinns" dieser Tage sammeln. Der Schriftsteller wurde in unseren Medien in den Senkel gestellt und als Person herabgesetzt. Die Reaktionen nähren die Vermutung, die Standpauke erfülle den Tatbestand eines patriotischen Vergehens. Im Nachhall des Aufschreis empfiehlt sich die unvoreingenommene Lektüre.

Rundumschlag

Es handelt sich - knapp und freundlich zusammengefasst - um einen verbalen Rundumschlag, wie er beim Znüni oder Schlummerbecher an den helvetischen Stammtischen gang und gäbe ist. Lukas Bärfuss liess mächtig Dampf ab.

Er schleuderte um sich mit Wahrheiten und Argumenten in sämtlichen Abstufungen von annehmbar über windschief bis grotesk. Was dem Gepolter in zechender Runde eigen ist, trifft auch auf die Tirade von Bärfuss zu: sie reiht Altbekanntes an Übertriebenes und dieses an Widersprüchliches. Im bunten Mosaik entdecken Leser aus allen ideologischen Lagern begeisternde und verärgernde Steinchen. Wahrscheinlich ungewollt ist ein eidgenössischer Kompromiss schön gelungen.

Der Kommentar könnte hier enden, hätte nicht ein vielfach preisgekrönter Schriftsteller am Stammtisch Platz genommen und ihn in die FAZ verlegt. Dieses Setting weckt denn doch gehobenere Ansprüche hinsichtlich Inhalt und Sprache.

Pauschal und ohne Provokation

Bärfuss beklagt sich enttäuscht über das im Wahlkampf verschwiegene Verhältnis der Schweiz zur EU. Die Thematisierung wäre für die Politiker mit der Peinlichkeit verbunden gewesen, den Wählern das Ja zur Masseneinwanderungs-Initiative als schweren Irrtum unter die Nase zu reiben.

Das ist eine durchaus nachvollziehbare Meinung. Bestreitbar kühn darf hingegen die Behauptung genannt werden, schuld an der Gutheissung der Initiative sei die direkte Demokratie. Das kommt so schwallend aus der Kübeldusche wie die Behauptung, vor den durch die Initiative geschaffenen Problemen verschlösse die Politik die Augen und erwarte eine Lösung auf magische Weise.

Der Linken und den Gewerkschaften wirft Bärfuss vor, in Passivität zu verharren und naiv an den Arbeitsfrieden und den Sozialvertrag zu glauben. Das ist dermassen pauschal, dass daraus nicht einmal eine Provokation wird.

Bissige Behauptungen und zahnlose Argumente

Bärfuss beschreibt die unter dem starken Franken ächzende Exportwirtschaft und sieht ihre Hoffnung nur in den grenznahen Gebieten jenseits des Rheins, wo im Zuge des Einkaufstourismus "innovative Geschäftsmodelle entwickelt" worden seien.

Bei diesem Exkurs verheddert sich Bärfuss als Laie in ökonomischen Wechselbeziehungen und plaudert daher. Das kann man zur Kenntnis, indessen nicht ernst nehmen. Ein Stein des Anstosses ist die Wirtschaftslektion höchstens für Leser, deren Nerven von Natur aus blankliegen.

Im Urteil von Bärfuss lassen die Kantone aus Geiz Lotter-Reaktoren brennen, befindet sich das Land der Zwerge seit zwanzig Jahren in einem Kulturkampf und büsst international die Mitsprache ein, verlor die Justiz das Vertrauen, verhökern die Medien die Standesregeln und üben Zensur aus.

Seine bissigen Behauptungen stützt Bärfuss mit zahnlosen Argumenten oder verzichtet gänzlich auf einen Beweis, der uns den Atem stocken liesse, wie es angesichts der dramatischen Untergangsmeldungen der Fall sein müsste. Die von Bärfuss monierten Defizite sind oft abgrundtief falsch und nie restlos überzeugend richtig. Sie gehören zum Kanon der Stammtische und Verschwörerkreise.

Um Himmels willen

Wir merken das gewagte Bild vom "Unfall", der "den nationalen Karren in den Dreck" fuhr, lediglich an, ebenso den diagnostizierten Masochismus der "ökonomischen Elite", selber für die "monetäre Folter" zu sorgen und darunter zu stöhnen.

Mehr als bloss unachtsam ist es, einerseits den seit Jahren dauernden Niedergangsprozess der Schweiz erschöpfend zu schildern und anderseits knapp beizufügen, "der Hergott im Himmel möge der Eidgenossenschaft weiter so gnädig sein wie bisher". Wenn er die Gnade bereits früher walten liess, dann kann die gegenwärtige Katastrophe schwerlich so grauenhaft sein, wie sie uns Bärfuss weismachen will.

Sein Verhältnis zum überirdischen Reich muss ohnehin gespalten sein. Mal scheidet das "himmlische Schicksal" als uns bestimmender Faktor aus, mal haben wir der himmlischen Güte für die direkte Demokratie zu danken.

Langer Leserbrief

Das alles wären keine Einwände, hätte Lukas Bärfuss über die Kraft verfügt, die Ursachen fürs Lamento zu erhellen, die tieferen Zusammenhänge freizulegen und die Erkenntnisse in einer packenden literarischen Sprache zu vermitteln.

Der Reflex bleibt nicht aus, die Wutrede zu vergleichen etwa mit Friedrich Dürrenmatts "Die Schweiz - ein Gefängnis", Peter Bichsels "Des Schweizers Schweiz", Carl Spittelers "Unser Schweizer Standpunkt" oder Karl Schmids "Unbehagen im Kleinstaat".

Mit der Erinnerung an diese Reden reduziert sich der Ausbruch von Lukas Bärfuss auf den langen Leserbrief eines Wüterichs. Er mag eine kurze Weile die Gemüter erregen, wird jedoch nichts bewegen. Nicht weil wir wahnsinnige Zwerge wären, sondern weil sich Lukas Bärfuss in seinem Furor verrannte, was wir keinem Stammtisch verargen, einem Schriftsteller von Rang allerdings schon.

Umschleicht einen hier nicht berechtigter Eindruck, beide Herren seien zumindest ganz nah daran sich zu verrennen? Bärfuss, in diesem Fall faszinierender Vertreter literarisch-analytischer Provokation, und Bänninger, aussergewöhnlicher Exponent publizistischer Gestochenheit. Zwei Männer, zwei Generationen. Exquisite Kampfhahnallüren im Gepäck, eleganter Stilwille unterm Brustkorb. Zwei Namen, die man sich noch so gern gemerkt haben sollte. Vor denen ich den Hut umso mehr zöge, würden genau sie tagespolitische Verantwortung übernehmen, was sie wohl niemals täten? Traumhaft, würden die für den Bundesrat kandidieren! – Gut, alles haarsträubende Illusion. Aber aufrichtigen Dank für die an- und aufgeregte Lektüre, die mein Bewusstsein für die Schweiz zu schärfen versteht, wie es wohl kaum je ein Realpolitiker je fertigbrächte.

J. St. Buchwardt

Das birgt sehr grosses Potential für mehr. Und auch wenn unsere Protagonisten sich nicht für ein realpolitisches Engagement entscheiden wollten, so steht ihnen doch der Weg der vierten Macht, der Presse, offen. Was Bärfuss in seinem Essay bemängelt, löst weder er selbst noch Bänninger ein, nämlich die letztendlich konstruktive Kritik der Medien. Daher ein Aufruf: Geschätzte Herren Bärfuss und Bänninger, machen Sie mehr aus dem Potential, das Sie mit Ihren bisherigen Ausführungen aufgezeigt haben. Arbeiten Sie doch gemeinsam, ganz typisch schweizerisch, den kritischen Kompromiss aus. Ein Schriftwerk, das subjektive wie objektive Missstände aufzeigt, das sämtliche hohe Regeln des Zitierens, Argumentierens, Belegens und Abwägens mustergültig berücksichtigt. Oder besser noch, warum begeben Sie sich nicht in eine Diskussion miteinander? Denn: «So ein demokratischer Diskurs, wörtlich: ein hin und her gehendes Gespräch, kann mühsam sein. Mühsamer als das autoritäre Gegenstück des Diskurses, sozusagen der geistige Konkurs, wo nur Einzelne sagen, was Sache ist.» (Schade drum, Rhein-Neckar-Zeitung, 21.10.2015). Wenn diese Diskussion in einem offenen Schriftwechsel stattfände, wäre das eine grosse Bereicherung für die Leserschaften.

Dennis Neu

Ein prachtvoller Intellektueller. Nicht fähig Backbleche zu reinigen, wie er selbst erzählt. Aber dann ein Schriftsteller, der es gerade schafft, eine Schrift zu stellen. Zu seinen Argumenten: Warum zum Teufel kommen denn Leute aus 193 Ländern in dieses Wahnsinnsland? Nur aus dreien niemand. Sonderbar.

Wer zum Teufel ist Lukas Bärfuss ? Doch nicht schon wieder so ein ein Deutscher Poltergeist mit nostalgischen Kavalleriegelüsten !

Den in Bern und Umgebung weltberühmten Dichter Bärfuss mit Dürrenmatt, Bichsel oder Spitteler zu vergleichen, beleidigt diese Leute doch ziemlich. Dürrenmatt etwa zeigte seine Grösse gerade darin, dass er sich als "begeisterten Kleinstaatler" bezeichnete. Und auch der gescheite Bichsel weiss und anerkennt durchaus, was er der Schweiz als zwar bedächtiges aber auch solides, friedfertiges und allenthalben auf Ausgleich getrimmtes Land zu verdanken hat. Die Tragik des Herrn Bärfuss besteht wohl darin, dass er all diesen zu Recht bekannten Schriftstellern halt nicht das Wasser reichen kann, und ihn schon 100 Kilometer hinter der Schweizer Grenze allenthalben die Frage nervt "Lukas who?" Kurzum: Für die Fusstapfen Dürrenmatts, Bichsels oder Widmers und Werners ist Bärfuss um einige Nummern zu klein geraten. Dass er nun für diesen seinen eher limitierten Erfolg die Schweiz schuld gibt, ist eher billig. Doch auch Muschg hat etwa schon solche Tendenzen gezeigt. Da geben Zwerge dem Wald die Schuld dafür, dass sie nicht grösser werden. Dem Wald ist derlei wurstegal! Niklaus Ramseyer, Bern

Kluger Kommentar. Danke, Alex Bänninger.

Erst einmal muss festgestellt werden, dass Lukas Bärfuss seinen Essay in der FAZ veröffentlicht hat. Ist dies gewollt oder hat Bärfuss in der Schweiz keinen Abnehmer gefunden? Dies würde nicht erstaunen und wäre nur die logische Folge einer subtilen Zensur seitens der Redaktionen gegenüber Artikeln, die der Schweiz kritisch gesinnt sind. Der Journalismus in der Schweiz ist nach rechts gerückt. Die SVP versteht es, ihre populistischen Parolen medial ins Szene zu setzen. Die Medien sind darüber nicht unglücklich, weil Artikel über die SVP meistens Zündstoff beinhalten und entsprechend Quoten generieren. In allen Medien wird der SVP eine Plattform gegeben wie keiner anderen Partei. Linke Anliegen haben in der heutigen Presselandschaft einen schweren Stand. Ökologische Themen sind in den Medien nahezu out, was die Grünen schmerzlich erfahren haben. Dabei wären Umweltthemen dringlicher denn je. Es ist eine Ballenbergisierung der Schweizer Medienlandschaft zu konstatieren. Es wird vieles, wo die Schweiz profitiert, totgeschwiegen. Die Schweiz ist nur auf Druck des Auslandes reformfähig (Bankgeheimnis). Dort, wo dieses Land auf Kosten anderer Profite einheimsen kann, wird nicht nur in der Öffentlichkeit geschwiegen(Rohstoffhandel). Ich denke, dass die Wut von Lukas Bärfuss mehr als gerechtfertigt ist. Für einmal hat ihn der Furor getrieben und nicht die Ästhetik der Sprache. Klar hat sich Bärfuss in einigen seiner Anschuldigungen verheddert, hat sogar Dinge geschrieben, die so nicht stimmen. Aber stimmen die Aussagen der Rechtsbürgerlichen über Gemeinsinn, Wirtschaftsinteressen, Marktlogik etc. auch nur ansatzweise? Bärfuss hätte es sich leichter machen können, wenn er mit seinem Essay noch ein paar Tage zugewartet hätte. Hat er offensichtlich nicht gewollt. Er wollte provozieren und dies auf eine Art, in der meistens Rechtsbürgerliche auftreten - wenn ich da an Köppel und seine Weltwoche denke. In diesem Land gärt es, aber es wird so getan, als sei alles im Lot. Dabei stehen wir vor schwierigen Entscheiden, die eigentlich dringend einen Diskurs bräuchten (Umsetzung der MEI/Bilaterale). Wie die politische Kaste und auch die Medien um den heissen Brei herumreden, ist exemplarisch wie in diesem Land die Zukunft gestaltet wird. Dass dieses Land immer mehr zersiedelt wird und das Wirtschaftswachstum vornehmlich auf die Zuwanderung zurückzuführen ist, wird tunlichst nicht breitgetreten. Dass immer mehr über 50-jährige keinen Job mehr finden, wird ebenfalls mehr oder minder bagatellisiert. Dass die Medien sich über dieses Thema nicht gerne auslassen, hat Gründe: Ältere Journalisten sind reihenweise entlassen worden. Und die Jungen haben das Punktesystem der Bologna-Reform im Blut, also beschäftigen sie sich am liebsten mit Studien über Dinge, die die Welt in den Grundfesten nicht erschüttert. Die Wut über eine Welt und eine Schweiz, in der vieles im Argen liegt, ist meines Erachtens begründet. Wut kann auch Energien freisetzen - nicht zerstörerische sondern welche, die die Gesellschaft auf andere Weise beschäftigen sollten.

In der Tat Bärfuss kann besser schreiben. Spiegelbildlich zur aktuellen Zeit hat sein Furor in meinen Augen doch Gehalt. Das Durcheinander, die Dialektik, auch die Dynamik des Textes. Es passt zur Zeit, zu den gehaltslosen Wahlen 2015. News über News. Aufschrei um Aufschrei. Aber keine Inhalte. Und es passt das Bild der Zwerge in der Schweiz. Mich dünkt so, duckmäuserische ängstliche Zwerge sind wir.

SRF Archiv

Newsletter kostenlos abonnieren